Der Tote unterm Weihnachtsbaum. Elke Boretzki
„Stehen Sie hier nicht so herum! Gehen Sie wieder an Ihre Arbeit, wenn ich bitten darf! Es gibt hier nichts zu gucken!“
Schmunzelnd zogen sie sich zurück.
Dann fiel sein wütender Blick auf den schuldigen Knüppel, der ihn, noch immer am Boden kauernd, mit großen blauen Augen ansah.
Das reizte ihn nun wirklich. Gerade wollte er über den jungen Praktikanten seinen Ärger ausschütten, als er von Kirschkern unterbrochen und weggezogen wurde.
So jäh in seinem Wutausbruch behindert, konnte er dem jungen Mann nur noch einige böse Blicke zu werfen und „Unerhört“ murmeln.
Sogleich wandte er sich dann auch an Kirschkern: „Sie sollten sich mit besseren Leuten umgeben! Zu ungeschickt …! Ja wirklich! Das sollten Sie!“
„Werde ich tun. Aber hören Sie: Der Kleine krabbelte auf meinen Befehl da herum. Konnte ja keiner wissen, dass Sie gerade dann und durch diese Hintertür kommen. Was wollten Sie eigentlich hinterm Haus. Na egal.“ Kirschkern atmete ein paarmal durch. Dann rückte er mit der Neuigkeit heraus: „Übrigens haben wir unter diesem Stuhl da den Schal der Sekretärin gefunden. Und raten Sie mal, wozu der verwendet wurde!?“
Stirnrunzelnd sah Höflich seinen Kollegen an. Schwerfällig setzten sich seine grauen Zellen in Bewegung. „Ahhhh …“, machte er dann.
„Ja, genau!“ Kirschkern war sehr professionell. „Sie hat sie damit eingewickelt.“
„Eingewickelt?“
„Ja! Die Gans!“ Der Mann von der Spurensicherung trat von einem Bein auf das andere. Doch Höflich musste erst einmal alle Informationen in seinem Kopf nummerieren. Trotzdem versuchte er ein wissendes Gesicht aufzusetzen.
„So! Aha.“
„Ja! Vor etwa einer Stunde hatte Knüppel den Schal gefunden und die Spuren entdeckt. Ging natürlich sofort ins Labor. Die Gans war bereits schon vorher hingeflattert. Haha! Jetzt haben wir ihr den Schal geschickt!“ Er grinste.
„Wie? Die Gans braucht einen Schal?“ Höflich hatte den Faden verloren. Kirschkern jedoch verlor langsam die Geduld.
„Nicht die Gans! Die Mörderin!“
Na endlich. Jetzt hatte sich der Kreis wieder geschlossen. Damit konnte der Kommissar etwas anfangen. Er legte zwei Finger an die Schläfe, schüttelte den Kopf und fragte: „Wieso um alles in der Welt glauben Sie, dass es sich um eine Mörderin handelt?“
„Sagte ich das nicht? An dem sichergestellten Schal befinden sich Frostspuren, genau wie am Kopf der Leiche. Die Untersuchungen im Labor ergaben, dass die Frostspuren von eben der gefrosteten Weihnachtsgans herrühren, die neben dem Haus gefunden wurde. Im Übrigen handelt es sich bei der Weihnachtsgans, genau wie wir vermutet hatten, um die Tatwaffe, an der obendrein Wollfasern von dem betreffenden Schal nachgewiesen wurden. Dieser Schal gehört der Sekretärin des Toten.“ Kirschkern holte tief Luft: „Nach meinem Dafürhalten ist das ein unumstößliches Indiz dafür, dass sie die Mörderin sein könnte.“
Kommissar Höflich stand stumm da und sah so lange auf einen ganz bestimmten Punkt an der Wand vor ihm, dass Kirschkern nicht umhin konnte, ebenfalls diesen imaginären Punkt an der Wand gegenüber zu suchen.
Was er jedoch sah, war eine Fotografie von einer Familie. Das Bild strahlte Harmonie aus. Zusehen waren die Eltern mit zwei halbwüchsigen Kindern und einem kleinen Hund. Ein Foto aus dem Familienalbum der Familie Maus aus guten Tagen.
Im Hintergrund, etwas weiter entfernt, entdeckte er hinter hohen alten Bäumen einzelne Häuser, wie an einen Hügel geklebt. Vielleicht ein kleiner Bauernhof, dachte er so nebenbei.
Der Kommissar indes schritt mit auf dem Rücken verschränkten Händen auf und ab, von Wand zu Wand. Hin und wieder blickte er auf die Fotografie.
„Möglich“, meinte er. „Vielleicht aber auch nicht. Der Mörder hätte sich den Schal nur zu nehmen brauchen, sagen wir, wenn die Besitzerin ihn beim letzten Besuch einfach bloß vergessen hatte.“
„Ja“, sagte Kirschkern, „aber können Sie das Gegenteil beweisen? Hat die betreffende Dame ein Alibi?“
„Nein. Das kann man nicht gerade sagen. Vielleicht haben Sie Recht.“ Abrupt wandte er sich um. „Wo ist eigentlich mein Assistent?“
Als Kommissar Höflich mit Kirschkern die Küche betreten wollte, stießen sie auf einigen Widerstand. Wie sich herausstellte, bestand dieser Widerstand aus dem knochigen Rücken von Kirschkerns Praktikanten, Knüppel. Der war nämlich der letzte in der Schlange der Mitarbeiter des Landeskriminalamtes, die, wie Höflich einen Moment später entrüstet feststellte, nach einem heißen Punsch anstanden.
Ein Durchkommen war mit Schwierigkeiten verbunden, denn, obwohl der modern ausgestattete und trotzdem gemütlich wirkende Raum nicht unbedingt klein war, fühlte Höflich, der klaustrophobisch veranlagt war, aufgrund der Vielzahl der anwesenden Personen plötzlich leichte Panik aufsteigen. Normalerweise wäre er postwendend wieder gegangen. Doch das hier ging auch ihn an, und es war ganz bestimmt nicht so, wie es sein sollte.
Einige Beamte hatten sich gerade mit ihrem Punsch gemütlich plaudernd am Esstisch niedergelassen. Andere nippten an ihren Tassen an der Fensterbank lehnend, wiederum andere saßen auf hohen Hockern am Tresen.
Das waren offensichtlich die, welche bereits nach einem zweiten Glas Ausschau hielten. Denn auf dem Tresen stand auf einer Heizplatte ein riesiger Topf, aus dem Lulu, die Köchin, mit rosigen Wangen und einer Kelle bewaffnet den Punsch ausschenkte.
Sie hatte ihn noch nicht bemerkt, und sagte, rückwärts blickend, gerade etwas zu Irina Maus, die als Einzige ernst und mit abweisend verschränkten Armen am Küchenbufett lehnte. Daraufhin schaute diese mit einem verächtlichen Blick in die Runde.
Freundlich lächelnd wandte sich die Köchin dem Nächsten zu.
Höflich blickte um sich. Am Fenster entdeckte er den rothaarigen Schopf von Rosenkranz, der vertraulich mit der Hauptverdächtigen Anita Klingbeil plauderte. Vor verhaltener Wut ballte er beide Fäuste. Was war das hier? Ein nach einem langen Winterspaziergang wohlverdienter, sorgloser Glühweinumtrunk? Hatten sie alle vergessen, dass es hier um einen Mord ging und sie sich im Dienst befanden? Sprachlos schüttelte er den Kopf.
Gerade rief einer der Leichtfertigen in die Runde: „Küchenpartys sind doch immer die Gemütlichsten …“, als er dem strafenden Blick des Kommissars begegnete. Erschrocken zog er sich daraufhin zurück und versuchte sich hinter seinem Nachbarn unsichtbar zu machen.
„Ich muss doch wohl sehr bitten!“ Mit diesen Worten versuchte Höflich dem Treiben ein Ende zu setzen, doch seine Stimme ging in dem fröhlichen Lärm unter. Plötzlich fühlte er seinen Arm ergriffen und von Kirschkern in den Vorratsraum gezogen.
Doch ehe Kirschkern etwas sagen konnte, platzte Höflich heraus: „Das hat augenblicklich ein Ende.“ Er schnaufte wütend. „Was ist das eigentlich hier?! Ein Leichenschmaus mit Glühweinbesäufnis!!“
„Nein, natürlich nicht. Sie sollten sich beruhigen.“ Kirschkern gab sich alle Mühe.
„Ich will mich aber nicht beruhigen! Das ist unerhört!“ Dabei dachte er kurz daran, dass er sich vor nicht allzu langer Zeit selbst einen heißen Punsch gewünscht hatte. Doch er hatte verzichtet. Was er konnte, konnten seine Kollegen schließlich auch. Nervös kramte er nach einer Zigarette.
Erst dieser unrühmliche Sturz vor versammelter Mannschaft, der ihn aus seinem Gleichgewicht katapultiert hatte. Und nun das hier. Ein Umtrunk im Dienst. Niemand hatte ihn auch nur wahrgenommen, als er sich dagegen aussprechen wollte.
Das kam einer Meuterei gleich. Jawohl! Er zitterte noch immer vor Wut, wie die Zigarette zwischen seinen Lippen.
„Hören Sie Höflich“, versuchte es Kirschkern erneut. Dabei legte er einen Arm um seinen Kommissar. Misstrauisch betrachtete dieser jedoch die Hand auf seiner Schulter und dann seinen Kollegen. Zögernd zog Kirschkern den Arm zurück.
„Die Leute sind mit