Du sollst nicht morden. Nicolas Koch

Du sollst nicht morden - Nicolas Koch


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mal jemand, auf den man sich verlassen konnte. Nun aber wechselt seine Stimmung von einer Minute auf die andere. Vielleicht trinkt er ja doch. Das wäre zumindest eine Erklärung für sein unberechenbares Verhalten – aber nein, das wüsste ich. Und deshalb ist das Ganze ja auch so … ja, es ist unheimlich. Eben noch der freundliche, souveräne und gut aussehende Chef, den ich so lange gewohnt war, dann plötzlich ein wild tobender Stier mit blutunterlaufenen Augen, der herumbrüllt und die Tür so heftig zuwirft, dass die Wände zittern. Und wieder fünf Minuten später niedergeschlagen und kleinlaut, sodass er mir leid tut. Dr. Jekyll oder Mr. Hyde, ich weiß nie, wen ich antreffe, wenn ich die Tür zu seinem Büro öffne. Und ich habe immer häufiger Magenschmerzen und schlafe schlecht.

      „Der König als strahlender Held, na, ob ich das glauben kann …“ Tanja ist skeptisch. „Obwohl, wenn ich‘s mir überlege, als ich letztes Jahr hier angefangen habe, war er tatsächlich nicht so chaotisch. Da war er auch noch ein Herz und eine Seele mit Daniel – und hat nicht ständig auf ihm rumgehackt.“

      „Der hat’s jetzt schwer“, sagt Thomas mitfühlend, „dabei hat der König ihn selbst in die Firma geholt und war völlig begeistert von ihm. Und er ist wirklich topp in seiner Arbeit!“

      „Allerdings“, empört sich Tanja von Neuem, „total unfair! Der König ist doch bloß neidisch! Und Daniel lässt trotzdem nichts auf ihn kommen. Er will einfach nicht wahrhaben, dass der Alte ihn absichtlich ausbremst und dass das hier …“, sie hebt anklagend die Mappe hoch, „ … reine Schikane ist.“

      Thomas nippt nachdenklich an seiner Tasse Tee. „Na ja, Daniel denkt halt noch an den König von früher. Dass der sich inzwischen total verändert hat, blendet er irgendwie aus.“ Tanja lässt nicht locker. „Aber wie ist das passiert? Hat er irgendwelche privaten Probleme?“

      Hans-Peter seufzt. „Okay, das habt ihr jetzt nicht von mir. Aber der König hat vor einiger Zeit die Amis brüskiert, und zwar richtig heftig. Hat eine Sache allein durchboxen wollen, ohne erst die nötigen Unterschriften von drüben abzuwarten. Das hat riesigen Krach gegeben, zumal er sich völlig im Recht fühlte und nicht einsehen wollte, dass er seine Kompetenz total überschritten hat. Na ja, da haben sie ihm ziemlich deutlich gesagt, dass er ihr Vertrauen verscherzt hat. Und seitdem hat er wohl Panik, dass Daniel an seinem Thron sägt.“

      „Das würde Daniel nie tun, der ist so was von loyal.“ Tanja ist schon wieder auf hundertachtzig. „Der König spinnt doch, wenn er das glaubt!“

      „Nicht wirklich.“ Hans-Peter hat seine Stimme noch weiter gesenkt. „Ich sollte ja nicht darüber reden, aber ich habe tatsächlich munkeln hören, dass die US-Firmenleitung überlegt, den König rauszusetzen und stattdessen Daniel den Posten anzubieten.“

      „Echt? Daniel als Chef? Na, das wäre doch dann wirklich mal eine gute Nachricht“, ruft Tanja.

      „Psst, sei ruhig, bist du wahnsinnig?“, zischt Hans-Peter und blickt sich verstört um, als ob Herr Königsfeld plötzlich im Türrahmen stünde. Was übrigens durchaus möglich ist. Früher hat er angeklopft, auch wenn eine Bürotür offenstand, heute könnte man fast den Eindruck gewinnen, er schleiche absichtlich umher, um das eine oder andere Wort über sich zu erhaschen. Aber nein, das kann ich mir nun doch nicht vorstellen. Ich meine, er hat schon noch einen gewissen Stil … obwohl, bin ich mir da wirklich sicher?

      „Das würde ich Daniel jedenfalls total gönnen.“ Tanja hat endlich ihre Stimme gesenkt. „Und die ganze Firma würde begeistert applaudieren.“

      „Wäre für uns alle das Beste“, nickt Hans-Peter. „Daniel ist ein feiner Kerl, er kann Menschen motivieren, ist sachlich, fair und kompetent. Als Führungskraft wäre er der absolute Glücksfall! Die Frage ist nur, ob er einem solchen Angebot überhaupt zustimmen würde.“

      „Ach was“, platzt Tanja dazwischen, „Loyalität dem Boss gegenüber ist ja schön und gut, aber wenn der die ganze Firma ruiniert …“

      „Daniel sollte gut auf sich aufpassen“, murmelt Thomas düster. „Wenn der König das spitzkriegt – ich trau dem inzwischen alles zu. Der ist doch völlig paranoid.“

      „Ach, so schlimm wird’s schon nicht werden“, versuche ich abzuwiegeln und alle starren mich an. Ihnen wird wohl erst in diesem Moment klar, dass ich die ganze Zeit dabeigestanden und zugehört habe. Tanja sieht alarmiert aus, Hans-Peter und Thomas dagegen kennen mich, die wissen, dass ich den Mund halten kann. „Ich persönlich hätte auch nichts gegen Daniel als Chef einzuwenden“, setze ich vorsichtshalber hinzu und Tanjas Gesichtsausdruck entspannt sich. Das hatten wir früher auch nicht untereinander, dieses Misstrauen.

      Langsam steige ich die Treppen zu meinem Büro hoch. Ich wäre gerne noch bei den anderen geblieben, aber Herr Königsfeld hat in letzter Zeit die Angewohnheit, durch die geschlossene Tür nach mir zu rufen – und wehe, ich bin dann nicht am Platz. Früher war er immer höflich, wenn er einen Wunsch hatte. Jetzt brüllt er. Das heißt, nein, auch nicht immer, vorgestern war er total nett und hat mir höchstpersönlich einen Kaffee gebracht. Ich weiß einfach nicht, was ich denken soll.

      „Frau Endor, da sind Sie ja!“

      Kaum sitze ich am Schreibtisch, hat er auch schon seine Verbindungstür aufgerissen und steht schwer atmend im Türrahmen. Ich ducke mich unwillkürlich, warte auf das Donnerwetter, aber es kommt nicht.

      „Ich finde einen wichtigen Bilanzbericht nicht, haben Sie ihn weggeheftet?“ Seine Stimme klingt gepresst und seine Augen flackern.

      „Nein, natürlich nicht.“ Nie würde ich es wagen, einfach etwas von seinem Schreibtisch zu nehmen. Nur das, was im Ausgangskorb liegt, der Rest ist für mich tabu.

      „Gestern lagen einige Seiten mit Zahlen auf dem Sideboard neben den Unterschriftenmappen, meinen Sie vielleicht die?“, versuche ich seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen.

      Er starrt mich an, immer noch mit diesen unruhigen Augen.

      „Das könnte sein.“ Und dann plötzlich mit schneidender Stimme: „Haben Sie etwas davon gelesen?“

      „Nein.“

      Er wirkt einen Moment erleichtert. Doch dann wird sein Ausdruck starr.

      „Auf dem Sideboard sagen Sie? Wann?“

      „Als ich den Kaffee reingebracht habe. Beim Meeting mit Daniel.“

      Er stößt ein seltsames Geräusch aus, es klingt wie ein Knurren, und ich zucke zusammen.

      „Natürlich! Jetzt wird mir alles klar! Diese kleine Ratte!“

      Ich weiß, dass das jetzt wirklich nicht für meine Ohren bestimmt war und wende mich diskret ab, beginne zu tippen, gebe vor, nicht mehr zuzuhören. Er murmelt etwas Unverständliches, ich blicke noch einmal vorsichtig hoch und erschrecke. Er sieht furchtbar aus. Ohne mich zu beachten steht er da, stocksteif, das Gesicht dunkelrot, der Kiefer angespannt, die Augen lodern, fiebrig, wild.

      „So hat er sich das also gedacht! Aber nicht mit mir, mit mir nicht!“

      Ich ducke mich hinter meinem Bildschirm und bete, dass er jetzt geht. Ich bin ja schon einiges gewohnt, aber so habe ich ihn noch nie erlebt. Am liebsten würde ich aufspringen und den Raum verlassen.

      „Rufen Sie mir Daniel rein. Sofort!“, bellt er und stürmt zurück in sein Büro. Die Tür knallt so laut zu, dass die Gläser in meinem Bewirtungsschränkchen klirren.

      Mir ist ganz heiß und mein Herz rast. Was soll ich bloß tun? Ich möchte Daniel nicht anrufen! Ich mag ihn, wir alle mögen ihn. Wenn er jetzt zu Königsfeld reingeht, wird der ihn feuern, das ist offensichtlich. Und völlig absurd! Selbstverständlich hat Daniel nichts aus dem Büro mitgenommen, oder was immer ihm der König gerade unterstellen will. Wenn überhaupt, wären die Papiere versehentlich unter seine Kalkulation geraten. Nein, Daniel ist über jeden Zweifel erhaben!

      Mein Telefon klingelt, ich hebe ab, spüre die Aggression durch den Hörer schwappen.

      „Wo bleibt er denn?“

      Königsfeld brüllt


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