Du sollst nicht morden. Nicolas Koch

Du sollst nicht morden - Nicolas Koch


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      „Soll ich Ihnen einen Kaffee bringen?“, frage ich.

      „Ja, das wäre sehr lieb, Frau Endor.“

      Wir sind wieder beim Sie. Das ist gut, das erleichtert den Umgang. Denn wir müssen weiter miteinander umgehen, erst einmal.

      „Ich mache gleich ein wenig Ordnung“, sage ich und beuge mich runter, um den Locher aufzuheben.

      „Danke.“

      Da sehe ich eine Papierecke unter der Glasvitrine, ich bücke mich und ziehe ein paar Blätter hervor. Es ist die gefälschte Quartalsbilanz – sie ist wohl gestern Abend unbemerkt darunter gerutscht.

      Schweigend lege ich sie auf seinen Tisch.

      „Danke“, sagt Herr Königsfeld noch einmal tonlos. Ein König weiß, wann er verloren hat.

       Machtkampf

      BODO MARIO WOLTIRI

      Sie schaute aus dem Zugfenster: blühende Bäume, weit entfernte Gehöfte, Autos klein wie Spielzeuge und ganz in der Nähe ein Paar mit Hund – unterwegs in der lauen Frühlingsluft bei strahlendem Himmel. Eigentlich wäre Zafira auch lieber spazieren gegangen. Stattdessen saß sie im ICE, auf dem Weg zu einem Interview. Sie nutzte die knappe Stunde, die der Zug von Köln zum Frankfurter Airport brauchte, um ihre Recherchen zu vervollständigen.

      „Der große Sprecher der kleinen Leute“, lautete die Schlagzeile der Boulevardzeitung von heute Morgen, die ihr vom Monitor des iPads entgegenleuchtete. Das Foto darunter zeigte Philippe Wilbert, wie er mit Vertretern der Bürgerinitiative „Frankfurt gehört den Frankfurtern“ zusammen unter einem Transparent stand. Ein Populist, wie er im Buche steht, dachte Zafira. Aber was ist eigentlich an Populismus so schlimm? Vielleicht sollte sie ihn nach seiner Meinung dazu fragen. Schließlich fuhr sie nach Frankfurt, um ein persönliches Interview mit dem Mann zu führen, der momentan nicht nur die Klatschspalten der Boulevardpresse füllte, sondern auch von politischen Magazinen ernst genommen wurde. Und für ein solches schrieb sie ja selbst auch. Persona war eine Zeitschrift, die bekannt – manche sagten auch berüchtigt – war für Interviews und Reportagen, die versuchten, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens von ihren weniger bekannten Seiten zu beleuchten.

      Natürlich ist längst nicht jeder dazu bereit, seine intimsten Gedanken zu heiklen Themen anderen zu offenbaren. Und erst recht nicht Ereignisse aus der eigenen Lebensgeschichte. Doch sie schaffte es immer wieder, das Vertrauen der Gesprächspartner zu gewinnen. Und das brauchte sie auf jeden Fall, denn der endgültige Text des Interviews wurde niemals dem anderen zur Freigabe vorgelegt. Da würde sie auch bei Philippe Wilbert keine Ausnahme machen: dem Shootingstar der Zukunftspartei, der sich gerade anschickte, seinen Vater als Parteivorsitzenden vorzeitig abzulösen.

      „In wenigen Minuten erreichen wir Frankfurt Flughafen“, erklang die Stimme aus dem Lautsprecher. Sie schaltete ihr iPad aus und schob es in die schmale Tragetasche.

      ***

      „Guten Tag, Frau Lösch, ich hoffe, Sie hatten eine gute Fahrt.“ Der sportlich gekleidete junge Mann, der Zafira am Eingang des kleinen Konferenzraums im Intercityhotel begrüßte, hatte nichts von einem Politiker an sich. Sie war sofort von ihm eingenommen: seiner freundlichen, aber verbindlichen Art, seiner warmen Stimme und seinen bernsteinfarbenen Augen, die sie wohlwollend betrachteten, nachdem sie vor ihm den Raum betreten und Platz genommen hatte.

      „Ich möchte Sie zu drei Themen befragen: Ihrem Verhältnis zu Ihrem Vater, dem Vorwurf, Sie seien ein Populist der übelsten Sorte, und dem Gerücht, Sie hätten Kontakte zur Mafia“, eröffnete Zafira das Gespräch und schaute ihn erwartungsvoll an. Wilbert schenkte ihr und sich Kaffee ein und lehnte sich dann in seinem Stuhl zurück: „Über alle drei Themen können wir sprechen, schießen Sie los, ich habe nur eine Stunde Zeit.“

      Zafira stellte ihr Aufnahmegerät an. „Sie haben sich erst vor kurzem mit Ihrem Vater versöhnt, nachdem der Sie jahrelang nicht sehen wollte. Was hat Ihr Verhältnis damals so nachhaltig getrübt?“

      „Es war das abscheuliche Verhalten meines Halbbruders in einer Sache, über die ich hier nicht reden möchte. Daran hatte sich unser Streit entzündet. Als mein Bruder damals von einer Gang getötet wurde, verdächtigte mein Vater mich als Drahtzieher des Mordes.“

      „Nun, das lag ja auch nicht fern, schließlich konnte man Ihnen ja auch eine Verbindung zu dieser Bande nachweisen“, wandte sie ein, fügte aber, als sie seinen Gesichtsausdruck sah, schnell hinzu: „Gut, da wären wir schon bei dem Mafia-Thema, aber das möchte ich lieber zuletzt anschneiden. Sprechen wir jetzt über den Populisten Philippe Wilbert. Würden Sie sich selbst so bezeichnen?“

      Wilberts Gesichtszüge entspannten sich wieder, und in ruhigem Ton antwortete er: „Ich nehme mir Zeit für jeden, der mit seinem Anliegen zu mir kommt; und am liebsten würde ich jedem zu seinem Recht verhelfen. Wenn Sie das als Populismus bezeichnen, dann können Sie und jeder andere mich auch gern einen Populisten nennen.“

      „Ja, schon, aber Sie verstehen es ja auch sehr gut, Ihren Einsatz für andere medial auszuschlachten.“

      Er sah sie scharf an: „Das tut doch jeder Politiker, ich sehe darin auch nichts Verwerfliches, schließlich unterstütze ich damit die Anliegen derer, die keine Stimme haben …“

      „ … und deren Stimme Sie sehr gut gebrauchen können für Ihre Partei“, ergänzte sie seinen Satz.

      „Höre ich da etwa Ironie heraus?“, fragte er süffisant lächelnd. „An Ihrer Stelle wäre ich damit sehr vorsichtig, sonst könnte ich Sie daran erinnern, dass Sie und Ihr tolles Magazin Ihr Geld damit verdienen, dass Leute wie ich Ihnen Interviews geben.“ Zafira Lösch seufzte resigniert: „Das höre ich nicht zum ersten Mal. Also gut, lassen Sie uns über Ihre aktuellen Ziele sprechen …“

      Dazu hatte Wilbert in der Tat viel zu erzählen, und sie ließ ihm freien Lauf. Das war allerdings ein Fehler, wie sich 50 Minuten später herausstellte, als das iPhone des Politstars summte, das vor ihm auf dem Tisch lag. „Ja, Luca, ich komme sofort“, hörte sie ihn sagen. Wilbert klappte sein Handy zu und steckte es ein: „Mein PR-Berater Luca Mehring, ich muss mit ihm meine Rede für den Parteitag durchgehen. Aber unsere Stunde ist ja sowie schon fast vorbei. Eigentlich schade, dass wir nicht mehr über die Mafia sprechen konnten, vielleicht beim nächsten Mal. Sehen wir uns auf dem Parteitag?“, fragte er sie.

      „Mit Sicherheit, ich will doch dabei sein, wenn Ihr Vater erneut zum Vorsitzenden gewählt wird“, erwiderte sie schnippisch. Er überging diese Spitze und reichte ihr zum Abschied die Hand: „Lassen Sie sich überraschen, Frau Lösch.“

      ***

      „Ich werde mit keinem Wort auf die Rede meines Sohnes eingehen“, erklärte Erich Wilbert. Der Parteivorsitzende sah über den Rand seiner Gleitsichtbrille hinweg seinen Berater an. Carlo Fari nickte bedächtig und schlürfte gedankenvoll seinen Milchkaffee. Seit sechs Stunden arbeiteten beide konzentriert an der Parteitagsrede, der vielleicht wichtigsten in der langen politischen Karriere des Vorsitzenden und Gründers der Zukunftspartei. „Eigentlich war es nicht korrekt, dass wir uns von Philippe diese Dramaturgie haben aufdrücken lassen“, sinnierte Fari.

      „Aber du weißt doch, wie wichtig es ist, dass er glaubt, du wärst von mir zu ihm übergelaufen und würdest nur nach einer Gelegenheit suchen, mir eins auszuwischen. Außerdem ist es gut, wenn er das Gefühl hat, das Rennen um den Vorsitz sei schon so gut wie entschieden“, insistierte Wilbert.

      „Aber ist es das nicht auch tatsächlich?“, fragte sein Berater zurück.

      „Mit dem Parteitag ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Eine Schlacht verlieren heißt noch nicht, den Krieg verlieren“, zitierte Wilbert de Gaulle, „und außerdem ist in diesem Fall der Gegner mein eigener Sohn, da möchte ich nicht von Krieg sprechen.“

      „Aber du wirst sehen: Wenn Philippe gewinnt, wird hier kein Stein auf dem andern bleiben“, orakelte Fari und trank seinen Café au lait aus.

      ***


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