Der Ruhrbaron aus Oberhausen Paul Reusch. Peter Langer
1914 nicht mehr zu rütteln war, wurde der Wettbewerb mit den anderen Ruhrgebietsstädten und den dort angesiedelten Konkurrenzunternehmen mit harten Bandagen ausgefochten. Dies ließ Reusch 1912 in seiner Rede zur 50-Jahr-Feier der Stadt Oberhausen durchblicken. Er sprach von „hartem Kampf“ und „heißer Arbeit unter widrigen Verhältnissen“, unter denen man Oberhausens Anspruch auf „ein Plätzchen an der Sonne“ gleichwohl habe durchsetzen können. Es entsprach dem Zeitgeist, wenn er prophezeite, dass Kohle und Stahl „noch durch Jahrhunderte“ das „Fundament der Stadt“ sein würden. An die Exzellenzen der preußischen Staatsregierung appellierend, betonte er, dass der Bestand dieses Fundaments „von der Beibehaltung der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik abhängig“ sei. Dies war eine Spitze gegen jeden, der es wagte, am Dogma der Schutzzollpolitik zu rütteln oder auch ein Entgegenkommen in Richtung Sozialdemokratie zu fordern. Voller Stolz verkündete Reusch, dass „die Stadt Oberhausen unter allen Städten Deutschlands die geringste Schuldenlast pro Kopf der Bevölkerung aufweist“. Dies – so stichelte er – erfülle die Nachbarstädte mit Neid. Die Rede erreichte ihren Höhepunkt in dem obligaten patriotischen Treue-Bekenntnis: „Die Bürger der Stadt Oberhausen sind ohne Ausnahme Männer der Arbeit. Diese Männer haben zum Teil unter widrigen Verhältnissen und in hartem Kampfe in kurzer Zeit ein großes blühendes Gemeinwesen geschaffen. Allezeit treu zu König und Vaterland, treu zu Kaiser und Reich stehend, sind die Einwohner dieser Industriestadt noch heute in ihrer großen Mehrheit und wollen es bleiben für alle Zukunft national bis auf die Knochen.“156
Es gibt heute die Neigung, derartige Rhetorik als eine unserem Geschmack nicht mehr entsprechende, aber im Grunde harmlose Ausdrucksweise gutmütiger Patrioten abzutun. Diese Sichtweise verkennt jedoch, wie gefährlich der Nationalismus der um die Jahrhundertwende im rechten Spektrum sich ausbreitenden Organisationen war. Die Kriegervereine, von Reusch nachdrücklich gefördert, lieferten der bürgerlichen Rechten die Massenbasis für ihre zunehmend hysterischen Kampagnen in den Krisen vor dem Ersten Weltkrieg. Dieser Stimmung in der Öffentlichkeit konnte sich auch die Reichsregierung seit der zweiten Marokkokrise immer weniger entziehen, gerade weil sie sich der Illusion hingab, den Propaganda-Apparat des „Alldeutschen Verbandes“ vorübergehend zur Unterstützung ihrer außenpolitischen Absichten nutzen zu können. Durch diese Taktik machte sie sich „zur Geisel des extremen Nationalismus“.157 Diese Extremisten sehnten den großen Krieg herbei, je eher desto besser.
„Männer der Arbeit“ waren bei diesem Festessen im Nobel-Restaurant Kaisergarten nicht anwesend. Die Exklusivität dieser Veranstaltung hatte in der Oberhausener Bevölkerung erhebliche Irritationen ausgelöst. Selbst der ansonsten ganz staatstreue „Generalanzeiger“ kritisierte, dass die Stadt keine Volksfeste zur 50-Jahr-Feier organisiert hatte: „So lässt man nun eigentlich diesen Ehrentag der Stadt Oberhausen für die Masse seiner Bürger sang- und klanglos vorübergehen, und es ist begreiflich, wenn hierüber weite Kreise unserer Bevölkerung ihrem Befremden Ausdruck geben.“158
Der Bergarbeiterstreik im März 1912
Die Bergarbeiter mussten in dem 1908 einsetzenden Konjunkturrückgang Lohnsenkungen von 4,99 Mark auf 4,45 Mark je Schicht im zweiten Quartal des Jahres 1909 hinnehmen, was besonders schmerzhaft war, da gleichzeitig die Preise für die Güter des täglichen Bedarfs stiegen.159 Deshalb forderte der „Dreibund“ aus freien, polnischen und liberalen Bergarbeiterverbänden vor allem spürbare Lohnerhöhungen. Die Arbeitgeber in Oberhausen und den Nachbarstädten, also vor allem die GHH, wollten die Stimmung anscheinend dadurch beruhigen, dass sie Anfang Januar 1912 für die einzelnen Werke genaue Lohntabellen für das ganze Jahr veröffentlichten.160 Im Februar legten die drei streikbereiten deutschen Bergarbeiter-Gewerkschaften ihre Forderungen auf den Tisch: 15% mehr Lohn und die Acht-Stunden-Schicht.161
Seit dem Januar 1912 streikten die Bergarbeiter in Belgien; gleichzeitig drohte in England ein Generalstreik, mit dem die Gewerkschaften durchsetzen wollten, dass in bestimmten Betrieben, vor allem in den Kohlebergwerken, nur Gewerkschaftsmitglieder eingestellt werden durften. Englische Gewerkschaftsführer kündigten Sympathiestreiks in ganz Europa, auch in Deutschland an.162 Die Berichte von den Arbeitskämpfen in Belgien („Hungersnot im belgischen Streikgebiet“163) und in England wurden im Februar immer dramatischer. Ende Februar und Anfang März beherrschte der Bergarbeiterstreik die Titelseiten des „Generalanzeigers“.164
Die Arbeitgeber suchten jetzt die Konfrontation mit den Gewerkschaften und der dahinter stehenden Sozialdemokratie. Gustav Krupp formulierte am 12. März 1912 in einer Denkschrift für Kaiser Wilhelm II. bemerkenswerte Sätze: Es gebe „nur ein Gebiet, auf dem die Sozialdemokratie empfindliche und vielleicht entscheidende Niederlagen erleiden könnte: das ist das Gebiet leichtsinnig und zu Hetzzwecken von ihr eingeleiteter oder geförderter Arbeitskämpfe. Einige große, für die Arbeiterschaft mit einer gründlichen Niederlage beendete Streiks würden das Ansehen der Sozialdemokratie in weiten Kreisen der Arbeiterschaft schwer schädigen.“ Die Arbeitgeber seien bereit, „ihrerseits auf die Gefahr schwerster Verluste hin den ihnen aufgenötigten Kampf bis zum Ende zu führen und damit der gesamten bürgerlichen Welt und unserer politischen Zukunft den Dienst zu leisten, dass sie der politisch so schwer zu treffenden Sozialdemokratie eine Niederlage beibringt, die befreiend auf unser ganzes öffentliches Leben wirken“ würde. Die Arbeitgeber verlangten „nur eins: nämlich, dass ihnen bei diesem Kampfe die Staatsgewalt nicht wieder in den Arm fällt, dass die Minister nicht in das Streikgebiet kommen, um zu vermitteln“. Der Staat müsse sich darauf beschränken, die Arbeitswilligen zu schützen, wobei Krupp auch ausdrücklich auf die streikfeindliche Haltung des Christlichen Bergarbeiterverbandes und der neu entstandenen wirtschaftsfriedlichen Werkvereine verwies. Unter dieser Voraussetzung könnten die Arbeitgeber „den Streik siegreich zu Ende führen“. Die „wohltätigen Wirkungen, die derartige Niederlagen auf den psychologischen Zustand unserer Arbeitswelt ausüben werden“, würden bald auch zu einer Veränderung der politischen Verhältnisse beitragen.165 Der Kaiser war begeistert und gab den staatlichen Behörden in dem ihm eigenen markigen Stil sofort die entsprechenden Anweisungen: „Vor allem Schutz der Arbeitswilligen in der energischsten Form! Scharfschießen!“. Glücklicherweise nahmen die Minister die rhetorischen Ausbrüche des Monarchen nicht sehr ernst.166
„Aufgenötigter Kampf“, dem Feind trotz „schwerster Verluste“ eine „Niederlage beibringen“, die „befreiend“ wirken würde – dies brachte die Mentalität zum Ausdruck und dies waren die sprachlichen Formeln, mit denen die kaiserliche Regierung zwei Jahre später Deutschland in den Ersten Weltkrieg führte. Nach außen hin verwendeten die Arbeitgeber keine derart martialische Sprache. Generell wurde jedoch versucht, den Streik als eine politische, vaterlandsfeindliche Sympathie-Aktion für die englischen Bergarbeiter zu brandmarken. Es gibt nirgends Hinweise darauf, dass Reusch die Lage nicht genauso eingeschätzt hätte wie Krupp in seiner Denkschrift für Kaiser Wilhelm. Der GHH-Chef gab unmittelbar vor Streikbeginn der Lokalpresse ein Interview: Er rechnete damit, dass auf den GHH-Zechen etwa die Hälfte der Bergleute streiken würde. „Die Hütte“ habe sich auf eine Dauer von sechs Streikwochen eingestellt; die Kohlevorräte würden für zweieinhalb Monate reichen. Der Lohnforderung hielt er die Behauptung entgegen, dass schon vor dem Streik eine Lohnsteigerung im Gange gewesen sei. Erst am Ende des nicht wörtlich wiedergegebenen Interviews verschärfte er den anfangs anscheinend eher moderaten Ton: „Gerade jetzt muss der Streik als sehr unbesonnen bezeichnet werden, denn es wäre jetzt möglich gewesen, den Engländern verschiedene Absatzgebiete wegzunehmen, und dann wäre infolge des erhöhten Absatzes eine weitere Steigerung der Löhne von selbst eingetreten.“167 Die Stellungnahme war offensichtlich mit Direktor Liebrich von der Zeche Concordia abgestimmt. Auch dieser behauptete, dass die Löhne ganz von selbst steigen würden. Die Belegschaft von Concordia, insgesamt mehr als 5.400 Mann, sei „im allgemeinen zufrieden“. Unzufriedenheit werde nur „von anderen Elementen hineingetragen“. „Die Arbeiter, welche irgendwelche Wünsche hätten, könnten sich jederzeit an die Direktion oder ihre direkten Vorgesetzten wenden. … Fast alle sozialen Forderungen – Milchausschank, alkoholfreie Getränke, Bezug von Lebensmitteln (Kartoffeln, Fisch usw.) – sind schon erfüllt.“168 Liebrich schloss mit dem Hinweis auf den drohenden Verlust von Absatzgebieten,