Der Ruhrbaron aus Oberhausen Paul Reusch. Peter Langer

Der Ruhrbaron aus Oberhausen Paul Reusch - Peter Langer


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etwas bessere Tage; wenigstens sind Sie nicht mehr so sehr den Unbilden der Witterung ausgesetzt.“142

      Ein anderer Leutnant, der nach schweren Kämpfen gesundheitlich angeschlagen war, bat den GHH-Chef um seine „Reklamation“ für die Arbeit im Walzwerk, an einem Hochofen oder auch in einem Labor. Reusch schickte ihm umgehend eine glatte Absage: Eine Reklamation sei in seinem Fall schwer zu rechtfertigen und daher wahrscheinlich aussichtslos. „Es tut mir leid, Ihnen unter diesen Umständen keine Aussicht machen zu können, Sie von den Anstrengungen des Krieges zu befreien.“143 Der Leutnant entschuldigte sich erschrocken für seine Bitte.144

      Auch in der Öffentlichkeit unterstützte Reusch die Kriegsanstrengungen nach Kräften. Als der „Generalanzeiger“ ihn um einen „Sinnspruch“ für eine Großanzeige zur neuen Kriegsanleihe bat, war er sofort dabei. Drei Tage später schickte er der Zeitung die folgenden Verse zur Veröffentlichung: „Der einzelne Mensch ist nichts, / das Vaterland ist alles! Das / Vaterland ruft! Darum / Bürger und Bauer / Hoch und Nieder / Alt und Jung / Heraus mit dem letzten Groschen!/ 10/X. 17 R.“145 Ein halbes Jahr später formulierte er für die „Kölnische Zeitung“ in Prosa: „Ein günstiges Ergebnis der achten Kriegsanleihe bricht voraussichtlich den letzten Widerstand unserer Feinde.“146

      Die von ihm selbst gezeichneten Kriegsanleihen hatte Reusch schon lange vorher abgestoßen. Im Herbst 1916 finanzierte er damit den Kauf des Schlosses Katharinenhof bei Backnang in Württemberg. Er verhielt sich als Privatmann dabei durchaus rational, wusste er doch zweifellos, dass in der Industrie die Flucht aus den Kriegsanleihen in vollem Gange war. Krupp z. B. hatte für die gigantische Summe von 310 Millionen Mark Kriegsanleihen gekauft, stieß den größten Teil davon aber schon während des Krieges diskret ab, so dass der Essener Konzern 1918 nur noch Papiere im Nennwert von 8 Millionen besaß.147

      1916 war nicht nur das Jahr des fürchterlichen Gemetzels bei Verdun und später in den Schlachten an der Somme und an der Ostfront im Zusammenhang mit der Brussilow-Offensive, es war auch das Jahr nach dem ersten Hungerwinter, gefolgt von einer Ernährungskatastrophe im Frühjahr und Sommer 1916. „Im Grunde war der Krieg im Frühjahr 1916 ernährungswirtschaftlich verloren.“148 Jetzt wurde offenbar, dass das Kaiserreich, stärker auf Agrarimporte angewiesen als alle anderen Großmächte, auf einen lang andauernden Krieg überhaupt nicht vorbereitet war. Die landwirtschaftliche Produktion ging im Krieg, gemessen am Jahr 1913, um ein Drittel zurück. Die staatliche Bürokratie, zusätzlich behindert durch „nackte großagrarische Interessenpolitik“149, erwies sich bei der Verteilung der äußerst knappen Nahrungsmittel als unfähig. Gegen Kriegsende standen einem Schwerarbeiter nur 57–70 Prozent des tatsächlichen Kalorienbedarfs zur Verfügung, dem durchschnittlichen Arbeiter lediglich noch 47–54 Prozent.150 Die andauernde Unterernährung hatte zur Folge, dass Erwachsene während des Krieges durchschnittlich 20 Prozent ihres Körpergewichts verloren.151 Die Not der städtischen Bevölkerung, vor allem der Arbeiter und ihrer Familien, nahm 1916 solche Ausmaße an, dass im Mai das „Kriegsernährungsamt“ (KEA) geschaffen und mit besonderen Vollmachten ausgestattet wurde. Im Vorstand dieser neuen Institution waren alle maßgeblichen Interessenverbände des Reiches vertreten. Für die Arbeitgeber der Schwerindustrie wurde Paul Reusch vom Reichskanzler in den Vorstand berufen.

      Die Berufung ins KEA, die Reusch ab 1916 jeden Monat mehrere Tage in Berlin festhielt, trug vermutlich dazu bei, dass sein Antrag auf Freistellung seines Stellvertreters Woltmann im Sommer 1916 Erfolg hatte. Woltmann war direkt zu Kriegsbeginn als Offizier zunächst ins Elsass und später an die Ostfront geschickt worden.152 Nach seiner Rückkehr musste er jede Woche jeweils samstags über die unzureichende Versorgung mit Nahrungsmitteln in den Werken der GHH berichten. Speziell wollte Reusch wissen, wie die Brotzusatzkarten verteilt wurden und welche Sicherungen es gegen Missbrauch gab.153 Noch im letzten Kriegsjahr verlangte er von seinem Stellvertreter genaue Aufstellungen über die Ernährungssituation, um so den Schleichhandel besser bekämpfen zu können.154 Zwei Dinge machen diese Schreiben deutlich: Der Konzernherr war über die unzureichende Versorgung mit Nahrungsmitteln gut informiert, von Anfang an allerdings witterte er überall Missbrauch.

      Obwohl er zunächst Vorbehalte gegen die Übernahme dieses Amtes geltend gemacht hatte – er sei in seiner Firma sehr stark in Anspruch genommen und habe überdies schon viele Ehrenämter – engagierte er sich sofort mit diversen eigenen Vorschlägen. Dabei mischte er sich teilweise in Detailfragen ein auf Gebieten, wo er nicht unbedingt überlegenen Sachverstand für sich in Anspruch nehmen konnte. Feldman verweist in seinem bereits mehrfach zitierten Aufsatz auch auf Reuschs Tätigkeit im Kriegsernährungsamt, wenn er ihn als einen der ganz wenigen Industriellen charakterisiert, der gegen „die wachsenden wirtschaftlichen Verwerfungen, die moralische Verwilderung und den Zusammenbruch der Autorität als Folge des Krieges“155 Front machte. Reusch habe versucht, „seine Kollegen davon abzuhalten, Nahrungsmittel für ihre Fabriken auf dem Schwarzmarkt zu besorgen, da dies zum völligen Zusammenbruch der Rationierung der Nahrungsmittelversorgung führen würde“.156 Vermutlich bezieht sich Feldman dabei auf den kurzen Wortwechsel Reuschs mit Bayer-Chef Duisberg bei einer Konferenz im Kriegsministerium.157 Als alleinige Grundlage für eine derart allgemeine Charakterisierung kann diese Szene aber kaum herangezogen werden. Vielmehr sind seine Aktivitäten im KEA insgesamt am Ausmaß des objektiven Mangels und der Not der Arbeiter zu messen.

      Reusch profilierte sich im KEA teils mit recht skurrilen Vorschlägen. Ob seine Kollegen die Ferkel-Aktion der GHH für so nachahmenswert hielten, wie Reusch sie darstellte, wissen wir nicht: In der letzten Maiwoche 1916 waren 120 Ferkel an Arbeiter verteilt worden; wenn diese vor dem 1. Oktober geschlachtet wurden, war ein Kaufpreis von 30 Mark fällig; wenn die Schweine am Erntedankfest noch lebten, brauchten die Arbeiter sie nicht zu bezahlen.158 Die erzieherische Absicht war unverkennbar: Es sollte signalisiert werden, dass im Prinzip genug Nahrungsmittel da waren, wenn jeder sorgsam und vorausschauend damit umging.

      Einen Tag später machte Reusch den Vorschlag, durch „Kaufzwang“ bei bestimmten Geschäften die langen Schlangen vor den Lebensmittelläden zu vermeiden. Für Reusch bestand „kein Zweifel, dass das stundenlange, häufig vergebliche Warten vor Lebensmittelgeschäften die Hauptursache der Unzufriedenheit in den Kreisen der Bevölkerung“ sei. Er verstieg sich zu folgender Behauptung: „Mit der Tatsache des Ernährungsmittel-Mangels wird sich die Bevölkerung viel eher abfinden, wenn durch entsprechende Organisation des Lebensmittelverkaufs die Butter-, Eier- und sonstigen Polonaisen verschwunden sind.“159 Wohl um zu unterstreichen, dass er die Ursache für Lebensmittelmangel und Unzufriedenheit primär in Fehlern bei der Verteilung sah, stellte Reusch dem Präsidenten des Kriegsernährungsamtes am gleichen Tage die Ernte-Statistik aus dem statistischen Büro der GHH zur Verfügung.160

      Was die Molkereibutter anging, so glaubte er, dass die Behörden nicht sofort 50% beschlagnahmen durften; vielmehr müsse man stufenweise vorgehen.161 Einige Tage später regte er beim Oberbürgermeister der Stadt Oberhausen an, die Kartoffeln auf den Schulhöfen zu verteilen, damit durch die langen Schlangen vor den Geschäften der Verkehr nicht gestört würde. Der Oberbürgermeister reagierte mit dem trockenen Hinweis, dass die Kartoffelverteilung bisher immer gut funktioniert habe.162

      Auf der Tagesordnung der Vorstandssitzung des KEA am 30. und 31. Mai 1916 stand die Versorgung mit Brotkorn, Kartoffeln, Fleisch, Zucker und Fett. Es dürfte sich bei dieser Sitzung wohl kaum ausschließlich um das mangelhafte Funktionieren der Verteilung gehandelt haben, sondern auch um die Tatsache, dass die Menschen hungerten, weil insgesamt zu wenig Nahrungsmittel produziert bzw. importiert wurden.163 Reusch beharrte aber in den folgenden Monaten hartnäckig auf seinem Standpunkt, dass im Prinzip genügend Nahrungsmittel vorhanden waren, sofern man nur verstand, sie richtig zu verteilen.

      Auch über die Rationen der Industriearbeiter wusste Reusch gut bescheid: Die Brotration für unter Tage Arbeitende betrug 250 Gramm, also 1.750 Gramm pro Woche. Für Schwerarbeiter gab es pro Woche 1.000 Gramm zusätzlich, also insgesamt 2.750 Gramm Brot. Für je vier Überstunden erhielten die Bergarbeiter


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