Der Ruhrbaron aus Oberhausen Paul Reusch. Peter Langer
der Tagesordnung besprachen die Herren im Düsseldorfer Industrieclub noch die von einigen Mitgliedern gemachten Vorschläge, die Ernährungssätze für Kriegsgefangene zu erhöhen. „Das Kriegsministerium hat unsere Anträge abgelehnt, da es die bisherigen Sätze für zureichend hält, bei Einhaltung der den Gefangenen zu gebenden Höchstmengen von Nahrungsmitteln.“199 Der Verband wollte zunächst durch eine Umfrage prüfen, ob die Höchstmengen „für schwere Arbeitsleistungen genügen und ob die im Speiseplan des Kriegsministeriums angegebenen Kosten den wirklichen Preisen entsprechen“.200 Wie erbärmlich mussten die Rationen für die schwer arbeitenden Kriegsgefangenen gewesen sein?!
Die Besprechung im Industrieclub diente der Vorbereitung einer großen Geheimkonferenz, zu der das Kriegsministerium für den 16. September 1916 eingeladen hatte. Dort ging es am Rande auch um Ernährungsfragen, wobei sich eine kurze Kontroverse zwischen Duisberg und Reusch entwickelte: Duisberg verlangte, dass die Beschaffung von Nahrungsmitteln aus Holland auf dem Schleichwege weiterhin zu tolerieren sei. Anders als bei der internen Vorbesprechung der Unternehmer widersprach Reusch jetzt in Anwesenheit der Regierungsvertreter. Diese offenbar weit verbreitete Praxis – so seine Argumentation – habe zu einer sehr ungleichen Versorgung der Betriebe geführt, was wiederum – so Reusch – Ursache für die jüngsten Streiks gewesen sei.201 Wie das Problem zu lösen sei, d. h. wie die notwendigen Nahrungsmittel beschafft werden konnten, dafür hatte Reusch keine Lösung anzubieten, wusste er doch sehr genau, dass „nennenswerte Mengen nicht zu haben“ waren. Irgendwelche Konsequenzen hatte dieser kurze Wortwechsel nicht; Reusch unternahm nichts, um den von Firmen betriebenen Schleichhandel zu unterbinden. Der Wortwechsel mit Duisberg eignet sich kaum als Beleg für Reuschs angeblich hartnäckigen Kampf gegen die Verwilderung der Geschäftspraktiken im Krieg.
Die öffentliche Kritik an der mangelhaften Versorgung mit Lebensmitteln wurde im Herbst 1916 immer schärfer. Reusch wusste aus dem Industrierevier zu berichten, dass sich die Angriffe zunehmend gegen das Kriegsernährungsamt selbst und dessen Präsidenten richteten. Besonders störte ihn, dass die Kritik jetzt aus den Stadtverordnetenversammlungen und kommunalen Verwaltungen kam. Gegen diese „Hetze“ müsse schleunigst „eingegriffen werden“, denn sie beruhe auf „Unkenntnis“ der Verhältnisse und der gesetzlichen Bestimmungen. Die Kritik aus den Rathäusern brachte ihn umso mehr in Rage, als sie Unruhe in die Bevölkerung trug, die die Werke der Rüstungsindustrie jetzt überhaupt nicht brauchen konnten.202
Für den Experten im Vorstand des Kriegsernährungsamtes, der den Präsidenten an manchen Tagen gleich mit mehreren Anregungen zu den unterschiedlichsten Problemen eindeckte, muss es besonders peinlich gewesen sein, dass in seiner eigenen Firma plötzlich Unregelmäßigkeiten zum Vorschein kamen. Die Reichskartoffelstelle erhob den Vorwurf, dass die GHH aus Ost- und Westpreußen 150 Waggons Kartoffeln für einen Zentnerpreis von 5,50 Mark bezogen habe. Reusch setzte sich energisch zur Wehr und versprach schonungslose Aufklärung.203 An dieser Stelle sei am Rande erwähnt, dass der von ihm protegierte Sterkrader Bürgermeister Otto Most in seinen Erinnerungen ganz offen von Hamsterfahrten in den Osten erzählt, um dort durch Bestechung der Landräte ein paar Waggons mit Kartoffeln zu besorgen.204
Nach dem Jahreswechsel hielt sich Reusch mit Empfehlungen plötzlich auffallend zurück, obwohl ihn das KEA auch im Jahre 1917 jeden Monat an mehreren Tagen in Anspruch nahm. In den ersten Monaten des Jahres konzentrierte sich die Diskussion im Kriegsernährungsamt auf die Denkschrift des bayerischen Ministerialdirektors Edler von Braun, der die Probleme der Lebensmittelversorgung ganz auf die zu niedrigen Preise zurückführte. Die Landwirte hätten kein Interesse, ihre Produkte bei den Behörden abzuliefern, da sie im Schleichhandel, wo sich angeblich auch ein Teil der Arbeiter versorgte, wesentlich mehr verdienen könnten. Die Denkschrift plädierte für eine Preiserhöhung bei Nahrungsmitteln „auf der ganzen Linie“.205 Reusch stimmte der Empfehlung zu, machte nur eine Einschränkung bei der Fleischpreisen. Als im Frühjahr die Brotrationen eingeschränkt werden mussten, drängte er auf eine Kompensation durch erhöhte Kartoffelrationen. Eine Preiserhöhung sei dafür unumgänglich, „um möglichst viel Kartoffeln aus der Landbevölkerung herauszuholen“. Notfalls müssten jedoch die Industriebezirke bei der Zuteilung bevorzugt werden, denn: „In mittleren und kleineren Städten sind Unruhen nicht zu befürchten und, wenn sie ausbrechen, von keiner Bedeutung. Unruhen in den ganz großen Städten und Industriebezirken sind weniger harmloser Natur und müssen unter allen Umständen vermieden werden.“206
Die „Unruhen“ und Streiks waren im Ruhrgebiet und in Berlin seit Jahresanfang im Gang. Unter den GHH-Zechen rumorte es vor allem auf der an Bottrop grenzenden Zeche Jacobi. Das Gutachten des Herrn Edler von Braun lag also zu einem Zeitpunkt auf dem Tisch, als die seit Langem desolate Ernährungssituation im Frühjahr 1917 einen weiteren Tiefpunkt erreichte. Die Forderung nach Preisfreigabe bzw. Erhöhung der Preise, ganz im Sinne der adeligen Großgrundbesitzer, musste die sozialen Spannungen weiter anheizen. Reuschs Eintreten für eine Preiserhöhung bei Nahrungsmitteln passt zu seinen jahrelangen Anstrengungen schon vor dem Krieg, das Bündnis zwischen Schwerindustrie und Landwirtschaft, zwischen Schlot-Baronen und Junkern, möglichst eng zusammen zu schmieden.
Folgerichtig widersprach er seinem württembergischen Freund Wieland, als dieser den Präsidenten des KEA, Freiherrn von Batocki, heftig kritisierte, weil dieser es nicht wage, den ostelbischen Großagrariern „zu Leibe zu gehen“.207 Dabei hielt Reusch selbst nicht viel von Batocki. Der Stil seiner zahlreichen Schreiben an den ersten Präsidenten des KEA Adolf von Batocki war unverhüllt herablassend. Als dieser im Frühjahr 1917 von Wilhelm von Waldow, einem erzkonservativen Lobbyisten der großagrarisch-ostelbischen Adeligen, abgelöst wurde,208 muss dies ganz in Reuschs Sinne gewesen sein.
Das Kriegsernährungsamt hatte im Chaos der nebeneinander und gegeneinander arbeitenden Bürokratien wenig ausrichten können.209 Zwar waren zumindest die Schwerarbeiterzulagen, teilweise auf Reuschs Betreiben hin, erhöht worden. Doch insgesamt konnte eine punktuell bessere Verteilung das Kernproblem des Mangels an Lebensmitteln nicht lösen.210 Aber Reusch weigerte sich hartnäckig, die Ursache der Katastrophe zur Kenntnis zu nehmen, und konnte deshalb mit der Flut seiner – teilweise abstrusen – Vorschläge keine Lösung anbieten. Als sich die Hungerkatastrophe in der zweiten Kriegshälfte verschärfte, wurden für die Arbeiter die zwei Seiten einer Medaille sichtbar: Hier Hunger und unbeschreibliches Kriegselend für die Massen, dort schamlose Gewinnsucht gepaart mit Unfähigkeit, die Grundversorgung mit Lebensmitteln auch nur ansatzweise sicherzustellen.
Das Ende des „Burgfriedens“
In dieser Situation zerbrach der 1914 ausgerufene „Burgfrieden“. Die Empörung der Arbeiter machte sich schon seit dem Spätsommer 1916, verstärkt aber seit Januar 1917 in Streiks Luft. Dabei spielte es wohl auch eine Rolle, dass sich der rechtliche Rahmen durch das Vaterländische Hilfsdienstgesetz verändert hatte. Im Gegensatz zu den Herren an der Ruhr wussten Reichskanzler Bethmann Hollweg, das Kriegsministerium und vor allem das Kriegsamt unter General Groeners Führung, dass sie den Arbeitern in der Rüstungsindustrie Zugeständnisse machen mussten, um die Arbeitsmoral aufrechtzuerhalten. Dies wurde im Vaterländischen Hilfsdienstgesetz berücksichtigt. Besonders die neu eingerichteten Arbeiterausschüsse in den großen Betrieben pochten ab 1917 auf ihre Mitspracherechte. Die Arbeitgeberorganisation „Arbeitnordwest“ bekam es ab dem Frühjahr 1917 mit sehr selbstbewussten Gewerkschaften zu tun. Reusch spielte bei den sich verschärfenden Arbeitskämpfen auf Unternehmerseite zunächst keine zentrale Rolle. Innerhalb des GHH-Konzerns ließ er jedoch keine Zweifel daran aufkommen, wer „Herr im Hause“ war. Nebenbei wurde bei den Arbeitskämpfen im Frühjahr 1917 erneut deutlich, an welch kurzem Zügel Reusch seinen Vorstand führte. Sein Stellvertreter Woltmann holte auch bei Detailentscheidungen immer erst das Plazet seines ständig durch Deutschland reisenden Chefs ein.
Besonders erhellend – auch wegen des in Deutschland gängigen Sprichworts („Mit Speck fängt man Mäuse.“) – war die Strategie, in den Betrieben der GHH Speckzuteilungen ganz gezielt zur Beruhigung und Streikvermeidung einzusetzen. Die Vorgänge auf den beiden großen Zechen der GHH in Osterfeld im April 1917 sollen wegen ihrer exemplarischen Bedeutung deshalb ganz nah an den Quellen nachgezeichnet