Tatort Märchenwald. Kristina Lohfeldt

Tatort Märchenwald - Kristina Lohfeldt


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dass ich meinen Thron nicht bald abtreten könnte, an wen oder was auch immer mir dann nachfolgen wird.

      Einst erzählte man sich in den Dörfern und Städten in ganz Skandinavien die Mär, dass der Eiskönig in der rauesten Winternacht zu den Sündern kommt, um die Menschenkinder zu stehlen und mit sich in seinen Eispalast zu nehmen. Keine Seele weiß, wo dieser Eispalast verborgen liegt, und auf ihren Reisen durch die Bergketten Schwedens, über die Hügel Norwegens, an den endlosen Flachküsten Lapplands, in den Gletschern Finnlands und gar an den vereisten Kliffen Islands, erfroren alle, die je nach dem Eiskönig zu suchen gewagt hatten.

      Die Frauen sangen ein Lied, das ungefähr so übersetzt werden kann:

      Candle, candle, are the children save now, as they were long ago? Candle, candle, guide us and protect us, from those in darkness… Kerze, Kerzenlicht, sind uns 're Kinder nun sicher, wie sie es einst gewesen? Kerze, Kerzenschein, beschütze uns, vor dem, was im Dunkel wartet

      Sie sangen dieses Lied die ganze Nacht hindurch, unwissend, dass sie mein eisiges Herz damit nicht berühren konnten. Einzig Flammen, wie die der Kerzen in den Fenstern, mögen es für mich unbequem machen zu ihnen zu kommen und ihnen zu stehlen, was für sie das Kostbarste ist. Doch sie halten mich nicht davon ab. Noch heute steht das Licht der Kerze als Symbol des Kampfes gegen die Dunkelheit und die Vertreibung geheimnisvoller Kräfte. Ihr Licht erhellt die Nacht und lässt die Dinge in einer warmen Gestalt erscheinen. Geht eine Kerze von selbst aus, ist das Haus jedoch ungeschützt, das Kind verloren. Dieser Glaube schürt meine Existenz bis heute. Die Existenz des Eiskönigs. Und ich habe nur mehr einen letzten Wunsch.

      Wehmütig blicke ich über meine Schulter und durch die gefrorene Fensterscheibe hinaus. Dort, hinter dem Schneeweiß des Dörfchens, liegt mein eisiges Reich. Ein Gigant von einem Palast, erbaut aus Träumen, Böen, Tränen und Kinderlachen. Ich liebte es einst, wenn sie auf ihren Hintern über die glatten Böden schlitterten, sich mit fluffigen Schneebällen bewarfen, und Eisgebilde aus den Pfeilern formten. Bis das Lachen zum Wimmern und schließlich zum Zähneklappern wurde, erstarb, und jeder noch so winzige Laut in den unendlichen Hallen verklang.

      Im Inneren des Hrimhune entzündet Arien inzwischen einige Lichter und reißt mich somit äußerst angenehm aus meinen düsteren Gedanken. Als er ein kleines Feuer im Kamin entfacht, erblicke ich rustikale Kerzenleuchter, die jede wilde Zeche auf wundersame Weise überstanden zu haben scheinen, und die Wände in vollständigem Zustand schmücken.

      „Ein Feuer ist nicht nötig“, werfe ich ein, doch es brennt bereits und erwärmt den Eisriesen schnell. Arien wirft mir einen seltsamen Blick zu und verschwindet dann hinter der Bar. Ich sehe mich weiter in dem Dämmerlicht um. Das ein oder andere Elchgeweih mit nett eingebundenen hellblauen Schleifen fällt mir auf, ein liebevoll höhnischer Ruf an die Jagdfreude der Nordmänner der alten Tage.

      „Woher kommst du denn um diese Tageszeit, miin Herre?“ klingt seine Stimme von irgendwoher.

      „Kalvó“, gebe ich zurück.

      „Kalvó? Du meinst das in Dänemark?“ Er klingt überrascht. „Ganz schön schnell unterwegs gewesen bist du dann, miin Herre.“

      „Ebenjenes. Dort gab es ein Eisfest.“

      „Ein was?“, höre ich Ariens Stimme.

      „Sie stellen dort Eisskulpturen aus. Sehr hübsch.“

      Arien taucht wieder auf, die Arme voll beladen mit Schnapsflaschen.

      „Gut, gut, miin Heere. Schau mal. Ich habe hier Aquavit, selbstgebrauten Valhalla Mjöd Met, Kanel brännvin, noch etwas Julmust von Weihnachten, sehr starkes Zeug von meiner Mutter. Und Hemmbryggd öl, wenn's denn sein muss. Auch hausgemacht. Glatt am Alkoholgesetz vorbei.“ Er grinst mich nun breit an.

      Ich verzerre mein Gesicht ebenfalls zu einem Lächeln, dass es mich in den Mundwinkeln schmerzt. Es ist nur noch wenig Zeit, und gleich werde ich einen zweiten Winter eröffnen. Härter und eisiger als je zuvor. Immerhin muss ich mich einmal wieder austoben und die Menschen erinnern, wie es noch vor gar nicht so vielen Jahrhunderten war, als man mich fürchtete und verehrte, und die warmen Monate zu schätzen wusste. Ich lege meine weiße Hand flach auf den Tresen. Unter meinen durchsichtigen Fingernägeln sehe ich bereits Eisblumen wachsen. Mein letzter Wunsch ist kurz davor in Erfüllung zu gehen.

      Mein Blick gleitet über die wärmende, goldene Flüssigkeit in den Flaschen. Ich kann mich kaum erinnern, wann ich das letzte Mal einen Umtrunk genossen hatte. Es war lange her, seit ich die Kinder zu mir geholt hatte … Zu lange. Nervös rücke ich hin und her, plötzlich bin ich selbst aufgeregt wie ein Kind. Genauso wie sie es zu Beginn unserer Reise immer sind. Oh ja, ein langer und harter Winter steht den Müttern und Vätern bevor. Ich sehe meinem Gastgeber in die Augen, dann nicke ich kurz.

      „Ich glaube, da hätte ich nichts dagegen“, sage ich.

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