Ein Leben in zwei Welten. Gottlinde Tiedtke

Ein Leben in zwei Welten - Gottlinde Tiedtke


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begeistert. Liebte sie doch das Nordische: die Edda, die Runen, die ganze Mythologie, die der Nationalsozialismus geschickt eingebettet hatte.

      Ein Lügengespinst nach dem anderen wurde gewoben.

      Ein neues Zeitalter begann – und meine Eltern zogen um.

      Endlich wohnten sie nicht mehr weit von der Stadt entfernt. Man konnte die Konzerte in Dresden besuchen, ohne lange Wegstrecken zurücklegen zu müssen.

      Kulturell betrachtet war das eine Offenbarung. Meine Eltern waren sehr kontaktfreudig, knüpften schnell Freundschaften und meine Mutter war wieder schwanger. Doch plötzlich wendete sich das Blatt: Johannes wurde an die Front einberufen.

      Johanna und die Vorhersehung

      Endlich war es so weit. Nach langem Warten bekam mein Vater Johannes ein paar Tage Heimaturlaub. Meine Mutter ging zum Friseur. Dies war der Ort, an dem nichts geheim blieb. Alle Geschichten, die sich im Ort ereigneten. machten hier die Runde. Die Friseuse, eine hübsche Blondine, erzählte eifrig drauflos.

      „Ach, wie schön für Sie. Mein Mann hat keinen einzigen Tag frei, die haben Urlaubssperre im Moment.“

      Doch kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, entgegnete meine Mutter spontan: „Nein, da irren Sie sich, Ihr Mann hat Sonderurlaub. Jetzt machen Sie mal ganz schnell. Der steht schon mit einem Blumenstrauß vor Ihrer Tür.“

      Solche Geschichten ereigneten sich ständig. Ungläubig starrten die Frauen dann meine Mutter an. In diesem Fall musste Johanna heftig insistierten, erst dann erwog die Friseuse, meiner Mutter Glauben zu schenken, und bat ihre Chefin darum, nach Hause gehen zu dürfen.

      Diese schaute zwar etwas zweifelnd, sagte dann aber: „Na ja, jetzt bin ich aber gespannt, ob das stimmt. Also lauf mal schnell nach Hause, und falls dein Mann wirklich zu Hause ist, dann kannst du dir heute freinehmen.“

      Als alles so passierte, wie Johanna es vorausgesagt hatte, sprach sich das wie ein Lauffeuer herum.

      Das nächste Mal, als Johanna zum Friseur ging, standen da viele wissbegierige Frauen, die sie befragten, wie es ihren Männern ginge. Ob sie verletzt seien, in Gefangenschaft geraten waren und wann sie nach Hause kämen. Zu ihrem eigenen Erstaunen konnte sie all diese Fragen beantworten und sogar deren Heimkunft exakt auf die Stunde vorausprophezeien.

      Mehr und mehr warfen aber auch die unangenehmen Dinge wie Krankheit und Tod ihren Schatten voraus.

      Meine Schwester Gabriele war zu dieser Zeit die ganze Stütze meiner Mutter. Als sie acht Jahre alt war, wurde sie sehr krank. Scharlach mit Rückfall. Das war damals oftmals tödlich.

      Danach bekam sie Nierenversagen und Wassersucht.

      Es dauerte lange, bis sie wieder gesund war – und irgendwie schien es so, als ob sie sich nie mehr ganz von dieser Krankheit erholte.

      Als sie älter war, studierte Gabriele Musik, um wie ihr Vater Pianist zu werden. Der Plan war, nach Italien zu gehen und dort Klavierkonzerte zu geben, doch dann bekam sie Beschwerden mit der Sehne ihres kleinen Fingers.

      Schwester Gabriele

      Der Traum platzte, sie sattelte auf die Malerei um und besuchte die Zeichenschule der Meißner Porzellanmanufaktur. Nicht um Porzellanmalerin zu werden, sondern um das Zeichnen zu erlernen.

      Egal auf welche Kunstschule sie später ging, immer behielt man ihre Arbeiten.

      1940 – mitten in den Kriegswirren – wurde dann ich geboren. Meine Mutter ließ mich auf den in diese Zeit passenden und seltsam gottesfürchtigen Namen Gottlinde taufen. Ich sollte eine ganz besondere Bindung zu meiner Schwester Gabriele haben – lange über ihren Tod hinaus. Doch dazu komme ich noch.

      An meinen Vater Johannes kann ich mich eigentlich erst ab meinem vierten Lebensjahr erinnern. Alle Erlebnisse basieren auf den Erzählungen meiner Mutter oder Schwester.

      In den kurzen Zeitspannen, in denen er auf Heimaturlaub war, war es kaum möglich, eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Ich glaube, er war sehr unglücklich darüber – irgendwie blieben wir uns immer ein bisschen fremd.

      1944 hatte man Johannes todkrank nach Hause transportiert. Viele Monate verbrachte er in einem Wehrmachtslazarett, ehe man ihn als unheilbar krank entließ.

      Mein Vater war bei der Luftwaffe. Dort war er für den Nachschub der Waffen nach Russland verantwortlich. Als Teil von Hitlers teuflischer Mission, dem Russlandfeldzug „Barbarossa“, diente er an der „Rollbahn“, der Hauptverkehrsader zwischen der weißrussischen Grenze und Moskau. Konvoi für Konvoi transportierte man dort unablässig Munition und Waffen bis nach Stalingrad.

      Alle Straßen waren vermint. Der Zug fuhr in einer Kolonne.

      Plötzlich ging eine Mine los und das Schicksal nahm seinen Lauf.

      Nur zwei Fahrzeuge des gesamten Konvois erreichten ihren Bestimmungsort. Alle anderen waren entweder den Partisanen zum Opfer gefallen oder durch die Minen gestorben.

      Johannes, der ein musischer und äußerst feinsinniger Mensch war, konnte die Schrecken des Krieges nie verwinden. Er wurde schwer magenkrank, depressiv und war zeitlebens gezeichnet. Aufgrund ihrer seherischen Fähigkeiten erlebte meine Mutter den Krieg besonders intensiv mit.

      Eines Nachts, erzählte sie, sei sie schweißgebadet aufgewacht. Sie habe gefühlt, dass sich ihr Mann in großer Gefahr befand.

      Sie setzte sich an den Bettrand und betete bis zum Morgengrauen unablässig. Erst nach vielen Stunden wich das Gefühl der Angst einer inneren Ruhe und Gewissheit, dass die Gefahr vorüber sei. Als mein Vater zurückkam, erzählte er, dass sein Bataillon in dieser Nacht nur knapp dem Tod entronnen war.

      Er berichtete Folgendes: Wenn die Truppen nachts eine Pause einlegten, formatierten sie alle Fahrzeuge im Kreis. Auf diese Weise wollte man verhindern, ein allzu offenes Ziel für die Partisanen darzustellen, von denen es in den russischen Wäldern nur so wimmelte.

      Eine Zeit lang ging alles gut, doch eines Nachts wurden sie dann doch von den Partisanen überrascht. Am nächsten Morgen fand Johannes die Hälfte seiner Kameraden mit durchgeschnittenen Kehlen in ihren Wagen. Gerade mal zwei hatten überlebt. Von diesem Tag an ging das Kommando an einen neuen Oberbefehlshaber, der anordnete, dass die Fahrzeuge von nun an in einer anderen Formation aufgestellt werden sollten.

      Daraufhin kam es in einer der darauffolgenden Nächte zu folgender Begebenheit:

      Der Soldat, der Wache halten sollte, war bekannt dafür, gerne einzuschlafen. Also bot sich mein Vater freiwillig als zusätzliche Wache an.

      Es war stockfinster, man konnte kaum die Hand vor Augen sehen, als er gegen Mitternacht plötzlich Stimmen vernahm. Die Zweige knackten, ringsherum brach die Hölle los. Die neu angeordnete Position erwies sich als folgenschwerer Fehler – die Fahrzeuge waren zu weit voneinander entfernt, um sich gegenseitig Schutz zu bieten.

      „Wie viele sind es? Sind sie in der Übermacht?“

      All diese Fragen gingen meinem Vater durch den Kopf. Er weckte den schlafenden Soldaten neben sich, der eigentlich Wache schieben sollte, und wies ihn an, sich absolut still zu verhalten. Irgendetwas sagte ihm, dass sie alle keinen Laut von sich geben durften.

      Die ganze Nacht war erfüllt von dieser Stille, die einer Todesstarre glich. Keiner griff an. Von keiner Seite vernahm man einen Ton. So ging das bis zum Morgengrauen. Im Licht der Scheinwerfer brach ein neuer Tag an und der Feind war verschwunden.

      Mein Vater wusste, dass er von einer höheren Macht behütet worden war. Meine Mutter wusste, dass ihre Gebete erhört worden waren.

      Eines Tages kam Johannes von der Front zurück und sagte: „Hannel, Hitler wird diesen Krieg nicht gewinnen.“

      Er hatte gesehen,


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