Kaum vermessen – schon vergessen. André Marcher

Kaum vermessen – schon vergessen - André Marcher


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      Der Mittfünfziger am Hoftor sieht nun nicht gerade aus, als wäre er einem Zauberbuch entstiegen, aber ein wenig Rübezahl scheint schon in ihm zu stecken.

      Mir ist nicht klar, wie die Merseburger Zaubersprüche zum Verfluchen passen, doch die Botschaft ist angekommen: Leg dich nicht mit mir an!

      Und das würde ich natürlich nie tun, im Gegenteil: Es ist mir ein Vergnügen, nun herauszufinden, was es mit den Sprüchen auf sich hat.

      Zaubersprüche sollen ja dazu dienen, durch die Macht des Wortes magische Kräfte nutzbar zu machen. Vielleicht nützt mir da der eine oder andere Spruch in meinem Alltag und schützt mich vor abgedrehten Grundstücksbesitzern.

      Die Merseburger Zaubersprüche sind übrigens aus vorchristlicher Zeit und das machte ihren Fund 1841 in der Bibliothek des Merseburger Domkapitels so wertvoll.

      Der erste Zauberspruch beschreibt, wie weibliche Gottheiten auf dem Schlachtfeld gefangene Krieger befreien, der zweite, wie das verrenkte Bein eines Pferdes geheilt wird. Nichts von Fluch, eher von Segen also. Verfluchen könnte man nur das angesammelte Halbwissen meines Klienten. Doch vielleicht wollte er mir auch nur bedeuten, welche Kraft in seinen Worten stecken kann? Denn er erzählt weiter munter drauf los: „Eigentlich bin ich Landwirt, habe mal fünf Jahre lang einen Wildpark gemanagt. Das Haus hier war Gemeindeeigentum. Im Herbst 1989 waren die Mieter in den Westen gegangen, da haben wir die versiegelte Wohnung besetzt und neue Schlösser eingebaut. Nach der Wende gab es Rückgabeansprüche, wir haben uns dagegen gewehrt, das alles durchgestanden und das Haus schließlich gekauft. Jetzt hat alles seine Ordnung.“

      Hausbesetzung auf sächsische Art. Krawall ja, aber es muss am Ende alles seine Ordnung haben. Allerdings bin auch ich schließlich für ebendiese Ordnung hier. „Jetzt wird nur noch vermessen, Sie unterschreiben und dann kann Grundsteuer erhoben werden“, werfe ich ein. Eigentlich sollte es ein Scherz werden. Klappt jedoch nicht immer und seine verhaltene Reaktion enttäuscht mich dann doch: „Tja, wenn es halt sein muss!“

      Da kann ich eigentlich aufatmen, denn er hat mich nicht verflucht. Vielleicht, weil ihm das Haus gar nicht gehört. Er scheint zwar der Herr im Hause zu sein, doch eine junge Frau steht als Alleineigentümerin im Grundbuch. Und die erwische ich nach mehreren erfolglosen Versuchen Wochen später auf der Straße, als sie gerade ein Auto mit Eimer und Gartengeräten bepackt. Und ich muss mich ihr förmlich in den Weg stellen, damit sie nicht entwischt.

      „Ich hatte Sie bereits angeschrieben, ihr zauberhafter Partner hat sicher auch schon mit Ihnen gesprochen. Aber es gab seither von Ihnen kein Lebenszeichen“, beginne ich den Dialog zugegeben etwas vorwurfsvoll.

      Nun, wo sich die magische Kraft meiner Worte entfaltet, öffnet sie zögerlich auch meinen Brief, den sie schon eine Woche mit sich herumträgt. Und das alles sozusagen zwischen Tür und Angel.

      Da sie immer noch wie auf der Flucht wirkt, frage ich vorsichtshalber, ob sie heute noch etwas vorhabe. „Dann machen wir eben einen Termin zur Erläuterung der Vermessung und für die Unterschrift.“

      Nein, sie müsse noch schnell auf ihren Acker zum Hacken. Es sei ein Kreuz mit ihrem Haus, wo sie keinen Garten dran habe, stattdessen einen Friedhof. Deshalb gäbe es noch ein Stück Grabeland am Ortsende.

      „Ein Friedhof ist doch gut“, höre ich mich wahrhaftig sagen, „da hat man es mal nicht so weit.“

      Aber auch dieser Scherz verhallt. Sie hat es eilig: „Geben Sie schon her, wo muss ich unterschreiben?“ Bis heute wusste ich gar nicht, wie stressig das Landleben sein kann.

      Das eigenartige Wort Grabeland hallte noch lange in mir nach. Dabei ist es weder ungewöhnlich noch dialektgebunden. Laut Bundeskleingartengesetz wird ein Grundstück, das vertraglich nur mit einjährigen Pflanzen bestellt werden darf, als Grabeland bezeichnet. Da darf man halt nur ein wenig graben, wie in einem Sandkasten. Genau diese Assoziationen zum Kindesalter weckt dieses Wort. Der Sandkasten war mein fantastisches Grabeland. Dort entwickelte ich magische Kräfte, die aus Sand Autobahnen und Tunnel, Burgen und Schlösser, herrlichste Kuchen und Torten entstehen ließen.

      Kennen Sie die Merseburger Zaubersprüche?

      Wir vermessen bislang ungeteilte (unvermessene) Ortslagen, ein Erbe aus der Zeit preußischer Besatzung von Teilen Sachsens1. Zum Einbringen der Grenzmarken und deren anschließende Aufmessung wird selbstverständlich das Einverständnis der betroffenen Eigentümer benötigt. Ist jedoch jeder, der glaubt, Eigentümer zu sein, auch wirklich im Grundbuch eingetragen?

      Ich treffe auf einen älteren Herrn, den Besitzer eines größeren Anwesens. Das Grundbuch weist noch seine längst verstorbenen Eltern als Eigentümer des Hofes aus. Er zeigt mir das Testament, aufgenommen im Staatlichen Notariat zu DDR-Zeiten: „Wenn wir beide zur gleichen Zeit sterben“, steht dort allen Ernstes, „erbt unser Sohn den Hof und unsere Tochter wird mit einer Summe […] ausgezahlt“. „Genauso ist es gemacht worden“, sagt er. „Meine Schwester hat ein paar Tausend Mark bekommen und ich durfte hier wohnen bleiben.“

      „Aber sind denn beide Eltern gleichzeitig gestorben“, frage ich ungläubig.

      „Nein, natürlich nicht, meine Mutter erst vor ein paar Jahren.“

      Also fangen wir ganz von vorn an. Er muss einen Erbschein beantragen, ansonsten ist eine Eintragung ins Grundbuch unmöglich. Eine Woche später bin ich wieder bei ihm. Er ist völlig am Boden zerstört. Ein Gericht müsse nun erst mal entscheiden, denn das Testament sei ungültig, weil beide ja nicht zum gleichen Zeitpunkt gestorben seien.

      Sachen gibt’s!

      Meine nächsten „Klienten“ wohnen in einer kleinen engen Gasse mit eingeschossigen Gebäuden, Haus an Haus wie meistens in einer Altstadt. Alle Häuser haben nach Süden einen kleinen schmalen Garten, den man vom Stadtgraben aus auch über einen Weg erreichen kann.

      In den 1970ern schafften sich die Leute Autos an und wollten diese auch irgendwie unterstellen. Wer Land hatte, baute sich eine Garage. Andere pachteten diese mitunter weit von der eigenen Wohnung entfernt.

      Hier nun war in den meisten Fällen Land vorhanden, aber die Grundstücke waren und sind viel zu schmal. Das erweist sich bis heute als manchmal unlösbares Problem.

      Als ich am späten Nachmittag bei einer Familie klingele, öffnet mir eine freundliche adrette Frau. Sie und ihr Mann sind beide bereits Altersrentner, Mitte sechzig, sehen aber jünger aus. Und siehe da, der Schein trügt nicht. Sie erzählt mir, dass sie noch stundenweise in einer Boutique arbeite und er ebenfalls noch tätig sei, im hiesigen Spaßbad. Hier bei den beiden „Jüngeraussehenden“ werde ich seit Langem auch wieder einmal zum Kaffeetrinken „genötigt“. Na gut, es ist halb vier Uhr nachmittags und es ist frischer Kuchen aufgetischt. Außerdem haben beide ein kniffliges Anliegen, bei dem ich ihnen helfen soll. So schnell komme ich hier nicht wieder heraus, also kann ich mir auch mal ein „Käffchen“ genehmigen.

      Beide haben zu DDR-Zeiten das Grundstück ihrer Nachbarin erworben, einer älteren Dame, die ins Pflegeheim kam. Grund des Erwerbs war insbesondere, einen breiteren Garten zu bekommen, um Platz zu gewinnen für den Bau einer Garage. Denn ihr eigenes Grundstück war keine drei Meter breit. Ich erfahre, dass man damals zwar ein Grundstück erben, aber kein zweites kaufen konnte, wenn man schon Grundbesitzer war. Also wurde alles über den damals gerade erwachsen gewordenen Sohn abgewickelt. Nun hatte man zwei Häuser und einen größeren, jetzt fünf Meter breiten Garten, in dem dann die Garage gebaut wurde.

      Der Sohn, der eigentlich in das zweite Haus einziehen sollte, hatte nach der Wende große Pläne und brauchte Geld. Ohne sich weiter mit seinen Eltern abzustimmen, fand er einen Käufer für das Haus, sackte das Geld ein und war weg. Alle waren bis vor kurzem der Meinung, sie hätten seinerzeit nur das Haus verkauft, zumal der neue Besitzer keinerlei Anspruch auf das Grundstück dahinter geltend machte. Mit der Vermessung zum jetzigen


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