Kaum vermessen – schon vergessen. André Marcher
Über fünfzig Beschäftigte hatte das Unternehmen in seiner Blütezeit. Aber es begann das, was Ende der Neunziger überall passierte. Die Kunden begannen zu tricksen, zahlten nicht mehr oder verspätet. Der Betrieb war nicht mehr zu halten. Zum richtigen Zeitpunkt kam die Flut. So makaber das klingt, aber in unserem Fall hat uns das die Existenz gesichert.“ Der Bürgermeister bat sie seinerzeit, ihren nunmehr freien großen Lagerplatz innerhalb des Betriebsgeländes als Spendensammelplatz zur Verfügung zu stellen. „Als alle versorgt waren, lagen etwa noch 50 Prozent der gesammelten Spenden, insbesondere Kleiderspenden auf dem Hof. Sämtliche potenzielle Abnehmer wie Rotes Kreuz, Kinderheime u. ä. waren versorgt. Da meinte unser Steuerberater, das genau sei die Geschäftsidee. Wir knüpften Kontakte zu Exportfirmen und tatsächlich kam der Betrieb wieder ins Laufen. Wir beschäftigen heute fünf Angestellte und stellen Altkleidersammelcontainer in der Region auf. Städte sind besonders wichtig, da die Leute auf dem Land ihre Sachen solange tragen, bis sie auseinander fallen. Das trifft besonders auf Schuhe zu. In der Stadt dagegen laufen viele Büroangestellte herum, die ihre Schuhe auch schon mal nach einem viertel Jahr in die Container werfen. Und das rechnet sich dann, denn verkauft wird nur, was in Ordnung ist und im Ausland auch wieder Absatz findet.“
Die Firma ist nun auf ihren Namen zugelassen und sie managt das Büro. Ihr Mann dagegen ist nur noch auf Reisen. „Wir verkaufen bis nach Pakistan und all die Länder dort. Große Firmen leisten sich ein Management allein für die Transportabwicklung. Das ist zwar eigentlich nötig, da alle Nasen lang Frachtpapiere oder gleich ganze Container wegkommen, aber als kleine Firma können wir uns das nicht leisten. Deshalb fährt mein Mann viel durch die Gegend, um vor Ort den Absatz zu sichern und selbst zu kontrollieren.“
Also, alles läuft bestens, sie haben viel zu tun und verdienen auch wieder ordentlich Geld.
„Wissen Sie“, sagt sie zu mir, „am liebsten wäre ich eine einfache Angestellte. Sie glauben gar nicht, wie man sich im eigenen Betrieb selbst ausbeutet. Das würde man keinem Angestellten zumuten. Es gibt praktisch keine freie Zeit, nicht abends und nicht am Wochenende. Alles dreht sich nur ums Geschäft, auch die Themen mit dem eigenen Mann erschöpfen sich letztlich damit. Vor der Wende hätte ich mir nie vorstellen können, ohne meinen Mann in den Urlaub zu fahren. Seit wir das Geschäft haben, geht es gar nicht anders. Einer muss immer da sein. Wir haben das auch anders probiert. Da ist jedoch zu viel auf der Strecke geblieben. Und es gibt nichts Schlimmeres, als wenn sie einmal einen Kunden verprellt haben. Also fährt jeder für sich. Man erholt sich tatsächlich, auch vom Partner, der ja Kollege, Chef und Revisor in einer Person ist. Aber, ob ich mich noch einmal für diesen Weg entscheiden würde, möchte ich stark bezweifeln.“
Crashcar
Beide haben sich 2003 ein kleines heruntergekommenes Anwesen von einer weit verstreuten Erbengemeinschaft gekauft. Seither stecken sie so manchen Euro in die Instandsetzung: „Wir wollen gänzlich ohne Kredit auskommen, etwas Dach und einige Fenster haben wir schon erneuert, ansonsten sieht man dem Haus von außen noch nicht viel Neues an, aber innen geht’s schon.“
Das Haus liegt ausgangs einer gefährlichen Kurve und in eine Ecke ist vergangenes Jahr ein Auto gefahren. Der Riss und das Loch in der Lehmwand sind noch nicht verputzt. Die beiden haben einen siebenjährigen Sohn und beklagen, dass er in diesem Dorf keine Freunde findet. „Es gibt zu wenige Kinder. Manchmal holen wir aus dem Nachbardorf welche zum Spielen, die kennt er aus dem Kindergarten. Bald kommt ein Geschwisterchen zur Welt, in einigen Wochen ist es soweit.“
Zwei Hunde tollen in dem herrlich unaufgeräumten Anwesen herum und freuen sich ihres Lebens. Im Hof stehen eine alte Karosse eines VW-Golf, ein VW-Bus und ein schöner komfortabler Wohnwagen. „Den haben wir beide uns kürzlich für wenige Tausend Euro gebraucht gekauft, ein Schnäppchen sozusagen.“
Alle Fahrzeuge werden für das Hobby gebraucht. Ein Hobby?
„Nein, das Haus ist nicht unser Hobby, das Hobby heißt Crashcar und da besuchen wir drei bis vier Veranstaltungen pro Jahr. Mehr schafft man schon wegen des Reparierens nicht.“
Wenn ich das richtig verstanden habe, basteln sie sich ein viertel Jahr lang aus alten Autoteilen eine irgendwie fahrende Maschine zusammen und zerschroten sie dann wieder bei Wettbewerben, die meist auf alten Militärgeländen stattfinden.
Tatsächlich feiert die Presse hin und wieder derartige Ereignisse, denn immerhin […] treffen sich die wohl verrücktesten Autofreaks mit ihren rasenden Schrottkisten. Mit den speziell präparierten Crashautos ist so ziemlich alles erlaubt, um als Erster ins Ziel zu kommen. So kommt es zu unzähligen Karambolagen und spontanen Stunts, die gigantische Blechschäden zur Folge haben. Und genau darum geht's Fahrern und Publikum.2 Natürlich – wie soll es anders sein – kommt dieser Sport […] aus Amerika. Ausgemusterte Serienfahrzeuge dürfen motorgetunt und karosserieverstärkt ins Rennen gehen. Vorab müssen alle Kunststoff- und Glasteile entfernt werden, um Verletzungsgefahren auszuschließen. Und es ist alles erlaubt - Drängeln, Jagen, Auffahren.3
Ob es wirklich ein fremdes Auto war, das gegen die Hauswand gefahren ist, zweifle ich nun doch etwas beim Hinausgehen. Alle Achtung, das waren seit ewigen Zeiten mal zwei Leute, die sich weder über ihre Arbeit noch irgendwelche Arbeitslosigkeit beschwert haben.
An Autos herumzuschrauben, muss etwas Therapeutisches haben.
Das Haus war nicht zu retten
Bevor ich mich mit der nächsten Familie treffe, teste ich erst einmal ihren Laden. Sie betreibt ein Fleischergeschäft direkt am Markt.
Auf dem Marktplatz sind Tische und Stühle unter Sonnenschirmen aufgestellt. Und das Wichtigste: Es wird eine Mittagsversorgung angeboten, deftiges Essen zu soliden Preisen. Ich entscheide mich für etwas, was ich gar nicht kenne: Wellklops. Dabei stellt sich heraus, dass Wellklops nichts anderes ist als Hackfleischbällchen mit untergemischtem Gemüse. Bei herrlichen 26 Grad Celsius im Schatten genieße ich meine Mittagspause, also die Zeit, die ich mir selbst zwischen zwei Terminen frei gehalten habe.
Was mache ich eigentlich die letzten zwei Jahre? Ich reise herum wie ein Handelsvertreter, verkaufe aber nichts. Es ist eher so, dass ich den Leuten meine Vermessungsergebnisse aufdränge, damit diese unterschreiben und auch noch dafür zahlen müssen. Es handelt sich um staatliche Verfahren: Unvermessene Grundstücke, das Erbe preußischer Besatzung, darf es nicht mehr geben. Die Vermessung wird angeordnet und der Bürger darf zahlen. Basta!
Natürlich spielt das in den Gesprächen eine Rolle, keine Frage. Eine eigenartige Tätigkeit.
Die Familie jedenfalls bittet mich nach dem Essen in ein „Hinterstübchen“. Das ist der ausgebaute Dachboden einer alten Scheune. Er dient jetzt als Partyraum für Familien, die größere Feierlichkeiten haben, zu Hause jedoch zu wenig Platz. Die Fleischerei bietet diesen Platz und dazu noch die kulinarische Versorgung. Es ist eins von mehreren Standbeinen. Die Imbissversorgung gehört genauso dazu wie der Partyservice.
Ich habe es mit netten Leuten zu tun, die akzeptieren, etwas für die ungewollte Vermessung zahlen zu müssen. Ich bewundere ihr schönes altes Haus, das sie offenbar aufwändig saniert haben. „Das ist alles komplett neu“, sagt der Hausherr, „erst 1993 erbaut. Das alte Haus stand natürlich unter Denkmalsschutz, direkt am Markt gelegen und gegenüber vom historischen Rathaus.“ „Und wie haben Sie das geschafft?“, frage ich. „Es war nicht einfach“, sagt er. „Wir standen vor der Wahl, Sanierung des Hauses von Siebzehnhundertundundund oder Neubau. Etwas tun mussten wir wegen der neuen Auflagen nach der Wende für das Geschäft. Nachdem sich ein Architekt der Sache angenommen hatte, stand schnell fest, dass ein Neubau billiger sein würde. Jetzt kamen die Gutachter. Und die mussten etwas finden, damit wir eine Abrissgenehmigung bekommen.“ Augenzwinkernd raunt er mir zu: „Natürlich fanden sie alles Mögliche: Holzwürmer, Schwamm etc. Das Haus war nicht zu retten. Schließlich durften wir ganz neu bauen. Allerdings waren die Auflagen für den Neubau auch nicht zu verachten, denn die Vorderfront sollte dem historischen Vorbild in nichts nachstehen. Wir haben extra Sandsteinbögen für das Tor und die Schaufenster einbauen lassen, mussten auch wieder Gauben ins Dach aufnehmen. Aber es hat sich gelohnt. Hatten wir vorher einen