Der ermordete Gärtner. Uwe Schimunek
nickte und schaute Frieda an. Sie sah nicht anders aus als gestern. «Und du bist auch ganz sicher?»
Frieda lächelte mit einer Nachsicht, als übe sie schon für ihre Mutterrolle. «Konrad, du kannst mir das glauben. Frauen wissen so etwas.»
Katzmann trank einen Schluck Wein und legte die Zeitung zur Seite. Zum Lesen kam er sowieso nicht mehr.
«Wir sollten deinen Eltern Bescheid sagen, bevor sie es selbst sehen können – meinst du nicht, Konrad?»
Heinz Eggebrecht balancierte den Krug mit dem Bier die Treppe hinauf. Der Wirt in der Eckkneipe hatte es gut gemeint und das Zweilitergefäß bis zum Rand gefüllt. Wahrscheinlich hätte er noch einen Berg aufgeschüttet, wenn Bier nicht so flüssig wäre. Nun, den Verlust von ein paar Tropfen konnte Eggebrecht verschmerzen. Das war nämlich schon die dritte Runde, die er holte.
Im dritten Stock wartete sein Vater bereits in der Tür. Im Rahmen und im Gegenlicht wirkte er größer – erinnerte an eine der Skulpturen von Arbeitern, die russische Künstler neuerdings für realistisch hielten.
«Na, Junge, haste schnell noch eins am Tresen gekippt?»
«Nein, Vater.» Und nenn mich nicht immer Junge, ich bin über dreißig, fügte Eggebrecht in Gedanken hinzu.
«Immerhin ist der Humpen ordentlich voll.» Der Vater trottete in die Wohnung. In der Küche nahm er ihre Bembel aus dem Waschbecken und stellte sie auf den Esstisch. «Ich hab kurz abgespült.»
Eggebrecht schenkte das frische Bier ein.
Sein Vater nahm die Flasche mit dem Holunderblütenschnaps und füllte zwei Kurze. «Der ist bald alle. Wird Zeit, dass der Frühling kommt.»
«Hm.» Eggebrecht befürchtete, dass der Schnaps ihn am nächsten Morgen noch mehr beschäftigen werde als jetzt. Er brauchte das Schnapsglas nur anzuschauen, und schon schien ein Quirl in seinem Kopf zu rotieren.
«Prost, mein Junge!» Der Vater trank den Fusel in einem Zug.
Eggebrecht nippte und hatte das Gefühl, mit den Lippen am Glas kleben zu bleiben, so sehr hatten die Holunderblüten den Klaren angedickt.
«Was treibst du morgen so?», fragte der Vater.
«Erst mal ausschlafen. Und dann … mal sehen.»
«Hm …»
Es wollte offenbar nicht in Vaters Kopf, dass der Montag ein freier Tag sein konnte. Bis in die Nacht hatte Heinz Eggebrecht die Photographien von der Berliner Premiere der Max-Brand-Oper Maschinist Hopkins an der Staatsoper abgezogen, damit sie rechtzeitig in den Redaktionen lagen. Erst am Nachmittag war er wieder in Leipzig angekommen. Sein Vater wusste das. Dennoch tat er so, als sei «der Junge» ein Faulenzer, wenn er ausschlafen wollte.
Eggebrecht hob seinen Bembel. «Wenn du von der Arbeit kommst, werde ich schon wach sein.»
Vater seufzte und zündete sich eine Zigarette an.
Eggebrecht nahm auch eine aus der Kiste. «Ach komm schon, Vater! Ich werde am Dienstag bei meinen Redaktionen anrufen und fragen, wann es wieder Termine gibt. Und morgen ist mein Sonntag.»
«Als du das letzte Mal hier warst, hattest du eine ganze Menge Sonntage …»
Der Vater hatte recht, das wusste Eggebrecht. Seine Auftraggeber mussten sparen. Die Werbekunden schalteten weniger Anzeigen, die Zeitschriften druckten weniger Photographien. Das betraf alle Kollegen. Doch ihm bereitete das keine Sorgen. Ohne Familie und ohne Verpflichtungen, hatte er in den letzten Jahren ein ordentliches Guthaben angehäuft. Wenn er weiterhin hier und da einen Auftrag bekäme, würde er problemlos über ein bis zwei Jahre Krise kommen. Er hatte also genug Zeit, sich in dieser schweren Zeit um seinen Vater zu kümmern. Das wollte er dem Alten aber nicht sagen. Also schwieg er und trank.
Der Vater schenkte noch einmal Schnaps in die Gläser. Eggebrecht rauchte und fragte sich, wie der Alte morgen früh aus dem Bett kommen wollte, sah der doch jetzt schon aus, als sei er wochenlang mit Schlafentzug gefoltert worden.
«Ach Junge, du sagst gar nichts.» Der Vater hob sein Schnapsglas. «Ich stelle mich darauf ein, dass du wieder eine Weile da bist. Prost darauf!»
«Prost!» Der Schnaps brannte, als wolle er in Eggebrechts Magen die Höllenglut entfachen.
«Wenn du hier bist, kannst du wenigstens nicht mehr in schlechte Gesellschaft geraten. Bei diesen ganzen Künstlern.»
«Vater, ich mache Photos von denen. Das sind keine schlechten Kerle, und die machen auch ihre Arbeit.»
«Arbeit …» Der Vater winkte ab.
«Vater, die Künstler schaffen etwas. Fremde Menschen bezahlen etwas dafür. Also verdienen sie ihr Geld genauso wie du.»
Der Vater lachte. Es klang, als würde seine Verachtung aus den Wangen platzen. Dann wurde er ernst. «Mein Junge, wenn ich arbeite, steht am Ende ein Haus. Darin kann man wohnen. Und bei so einer Sängerin», Vater stieß noch ein Lachen aus, «ist das Ergebnis doch nur ein Lied … Kannst du darin wohnen? Kannst du es essen? Kannst du sonst etwas damit anfangen?»
Bloß nicht widersprechen, dachte Eggebrecht. Nur keinen Streit anfangen, wenn der Vater diese Anzahl Bier und Kurze intus hatte. Und schon gar nicht über Sängerinnen in Berlin. Schließlich gehörte eine bestimmte Sängerin zu den Gründen, warum er sich lieber eine Zeit in der Provinz verkroch – kein Thema für eine Vater-Sohn-Debatte kurz vor dem Einschlafen. Mit seiner Mutter hätte er vielleicht darüber gesprochen … Er leerte seinen Bembel. «Nicht jetzt, Vater. Ich habe ein anstrengendes Wochenende hinter mir.»
Der Vater trank, als sei er nach einem Tag im Steinbruch am Verdursten. «Na gut, mein Junge. Aber vielleicht könntest du morgen mal in den Garten schauen und ein paar Geräte hinschaffen. Ich meine, wenn du genug geschlafen hast.»
ZWEI
Montag, 24. März 1930
KONRAD BENNO KATZMANN rannte über den Schlesischen Platz. Beim Aussteigen aus der Straßenbahn hatte die Taschenuhr fünf nach halb sieben angezeigt, ihm blieben noch vier Minuten, um zum Bahnsteig zu gelangen. Die Sandsteinfassade des Neustädter Bahnhofs sah im Morgengrauen bedrohlich aus, als wolle sie die Reisenden verschlucken. Er eilte durch das Portal. Hier herrschte Gedränge.
Das Leben wurde immer hektischer, sein Leben wurde immer hektischer. An kaum einem Montag schaffte er es mehr ohne Gehetze zum Zug. Wie sollte das erst werden, wenn Frieda und er ein schreiendes Kind hatten?
Katzmann schaute auf die Uhr in der Bahnhofshalle: sieben nach halb. Noch zwei Minuten, dann fuhr der D 144 ab. Er nahm drei Stufen mit einem Schritt, als er die Treppe hinter der Eingangshalle hinaufhastete. Zum Glück hatte er die Fahrkarte schon am Freitag bei der Ankunft gekauft. So musste er nur noch das Stück Tunnel von der Schalterhalle zu den Gleisen schaffen, nur ein paar Meter – die letzten Stufen zum Bahnsteig 5 nutzte er zum Luftholen.
An der Bahnsteigkante stand drei Wagen weiter der Schaffner mit der Kelle. «Dieren schließn! Mir foarn obb!»
Katzmann winkte und rannte zur nächsten Wagentür. Eigentlich stieg er meist an der Spitze des Zuges ein, weil er dann im Leipziger Kopfbahnhof weniger zu laufen hatte. Heute aber war ihm das hinterste Abteil lieber als ein Blick auf die Rücklichter der ausfahrenden Eisenbahn.
«Nu machen Se manschema hin!» Der Schaffner forderte Katzmann mit heftigem Winken zum Einsteigen auf. «Un vorschlissn Se de Diere!»
Katzmann sprang die Stufen zum Einstieg hinauf, zerrte die Waggontür zu und atmete tief aus. Das war knapp, dachte er, als nur Augenblicke später der Zug anfuhr.
Gleich im ersten Abteil fand er einen freien Platz neben einem dicken Mann um die fünfzig, der seine Melone gerade auf der Gepäckablage verstaute. Neben dem Dicken saß eine Frau im gleichen Alter. Auf den Plätzen gegenüber hingen zwei Männer in schäbigen Anzügen in den Polstern. Sie blinzelten im Kampf, ihre Augenlider offen zu halten. Noch vor Radebeul würden die beiden schnarchen, da war