Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 3 – Showdown in Kroatien. Tino Hemmann
zaubern, herrschte tatsächlich plötzlich andächtige Stille auf der kleinen Bühne im Kindergarten und viele Augenpaare starrten sie an. »Das habt ihr alle ganz prima gemacht!«, rief sie und kniete sich neben Anton Sorokin, der im Kindergartenmärchen das Hänsel spielen musste und auch wollte. Sie wischte ihm ein paar Tränen vom Kinn und lächelte den Jungen an. »He, Anton! Das mit dem ›H‹, das lernst du ganz bestimmt noch. Und deine Schwester wird sicher viel mit dir üben. Nicht wahr, Natascha?«
Sogleich nickte das Mädchen eifrig und zählte einige Wörter auf: »Ich kenne nämlich alle Wörter mit H: Hallo, Hilfe, Huhu, Hahn …«
»Ich kann das aber nicht«, flüsterte Anton in stockendem Deutsch.
»Du musst das auch nicht gleich können. Irgendwann wirst du es lernen. Bis dahin sagt du eben Chrallo, Chrilfe und Chrahn.« Die Erzieherin erhob sich und klatschte wieder in die Hände. »So, nun zieht ihr alle ganz vorsichtig die wunderschönen Kostüme aus und legt sie auf eure Plätze!«
Ein wüstes Gerangel begann. Währenddessen erschienen auch noch die ersten Eltern, um ihre Sprösslinge aus der dörflichen Kindertagesstätte am Rande der Stadt Leipzig abzuholen.
Immer wieder schaute die vierundzwanzigjährige Babette zur Tür, als warte sie auf einen ganz bestimmten Elternteil. Heute war Donnerstag. Babette wusste, donnerstags würde er die russischen Geschwister abholen: Er! Anatolij Sorokin. Ein muskulöser Mann, welcher Babettes Herz zum Bersten bringen konnte, einer, bei dem sie vor lauter Aufregung zum wandelnden Ungeschick wurde, dahinschmolz, wie Butter in der Tropensonne, auch wenn sie längst wusste, dass eben dieser Mann glücklich verheiratet und Vater dreier Kinder war!
Und dann trat Sorokin ganz plötzlich und lautlos in Erscheinung, füllte fast vollständig den Türrahmen aus – freundlich lächelnd, mit blitzenden Zähnen, in körperbetonter, moderner Kleidung, sportlich und athletisch wie ein Action-Filmheld.
»Tagchen, Herr Sorokin.« Babette hängte Natascha eine Frühstückstasche um den Hals.
»Nje! Das ist nicht meine!«, protestierte das Mädchen. »Die gehört doch Anton! Die ist blau mit einem Auto drauf! Ich will aber kein Auto!«
»Oh …« Sogleich tauschte die Betreuerin die blaue gegen eine pinkfarbene Tasche. »Und«, sagte sie laut, »ist Fedor heute nicht mit?«
Fedor, der fünfzehnjährige Sohn Sorokins, musste mit einem schweren Handicap leben. Er war von Geburt an blind. Fedor verbrachte sein ganzes Leben – abgesehen von den ersten Tagen – in Deutschland, während die beiden Stiefgeschwister Natascha und Anton erst vor einem guten Jahr eingebürgert worden waren, nämlich kurz nachdem Sorokin Katarina, die Mutter der beiden Kleinen, aus Moskau nach Leipzig geholt hatte.
»Doch, ist er.« Sorokin warf einen Blick in den Flur. »Wenigstens war er eben noch hier.«
Im gleichen Moment tauchte der dünne, hochgewachsene Fedor auf und brachte die Jacken seiner Geschwister mit, die er aus etlichen auf winzigen Bügeln hängenden Jacken der Kindergartenkinder herausgefunden hatte.
»Hallo, Babette«, raunte Fedors zwischen hoch und tief schwankende Stimme, während er leicht errötete.
»Hallo, Fedor. Alles okay bei dir?«
Fedor kniete sich auf den Boden und half Anton in das Jäckchen. Sofort hing der kleine Bruder an Fedors Hals und herzte den großen Jungen übertrieben.
»Geht so. – Lass das, Anton, und halte still.« Fedor erhob sich und hielt Anton an der Hand. Hier im Kindergarten brauchte Fedor weder seinen Langstock noch die Hilfe seiner Klicksonartechnik, mit der er eingeschränkt zu sehen gelernt hatte. Diese neue Technik beherrschte der blinde Jugendliche unglaublich gut. Über bestimmte Schnalz- und Klickgeräusche wurden Wellen ausgesandt, die von größeren Hindernissen und Gegenständen reflektiert, dann von Fedors Gehör empfangen und von seinem Gehirn inzwischen völlig automatisch in Bilder umgewandelt wurden. »Und du?«
Babette lächelte. »Alles okay. Anton muss das ›H‹ üben. Er kann sonst nicht um Hilfe rufen, wenn was ist.«
Sorokin schnappte sich Natascha und nahm die Kleine mühelos auf den Arm. »Musste er denn um Chilfe rufen?«
Jetzt grinste die Betreuerin. Oh, wie sie diesen Akzent liebte! »Unser Anton ist das Hänsel im Theaterstück Hänsel und Gretel. Und das Hänsel muss nun mal um Hilfe rufen.«
Fedor lauschte. Er kannte Babette nur flüchtig. Und sie war zweifellos mindestens fünf Jahre älter als er, doch hatte es ihm ihre Stimme angetan. Diese weiche, angenehme und stets bedachte Stimme wirkte ein wenig erotisierend auf den Fünfzehnjährigen, der gegenwärtig die Hochzeit seiner Pubertät durchlebte und befürchtete, niemals mehr ein Mädchen abzubekommen. Zu gern hätte er das Gesicht von Babette abgetastet, um der lieblichen Stimme eine Form zu geben. Doch würde er es niemals wagen, sie eben darum zu bitten.
»Wenn Anton niest, dann kann er aber das ›H‹«, flüsterte Fedor.
»Beim Niesen?« Erneut lächelte das Mädchen. »Dann lass ihn mal viel niesen üben. – Anton! Mach mal ›Hatschi‹!«
Anton schaute hinauf und verstand nicht so recht. »Chratschi?«, fragte er. »Warum?«
Babette wuschelte Antons Haare. »Ist schon gut, mein Schatz. Auf Wiedersehen, bis morgen.«
Brav verabschiedeten sich die Kinder. Errötend gab Babette Sorokin die Hand.
Kurze Zeit später saßen die Sorokins zusammen in der Familienkutsche, einem großen, schwarzen Volvo. Natascha schwatzte ununterbrochen und berichtete von der Märchenprobe. »Die Pfefferkuchen sind aus Pappe«, sprach sie. »Sonst hätten wir das ganze Haus schon lange aufgegessen.«
»Hast du etwa gekostet?« Fedor saß zwischen den Kleinen.
Natascha nickte und kicherte.
In diesem Moment erklang ein schriller Ton im Auto. Sorokin berührte eine Taste und gab ein deutlich hörbares »Blyad’!« von sich. Sofort erhöhte er das Tempo.
»Was ist los, Papa?«, fragte Fedor, der genau wusste, was dieser Ton zu bedeuten hatte. Das SEK rief seine Leute zusammen.
»Papa, was ist blyad’?«, fragte Anton, an dessen großen Augen man seine wachsende Müdigkeit ablesen konnte.
»Da muss was passiert sein«, raunte Sorokin und fuhr so schnell durch eine Kurve, dass alle Kinder aneinandergedrückt wurden. »Was Ernstes. Heute Mittag haben sie noch gesagt, dass absolut nichts anliegt.«
»Was ist blyad’, Papa?«, fragte Anton erneut.
Fedor flüsterte in sein Ohr: »Blyad’ ist russische Scheiße. Aber das sagt man nicht.«
Nun gerade. »Blyad’! Blyad’! Blyad’! Blyad’!«, rief Anton und zeigte kichernd seine klitzekleinen Milchzähne. Und noch einmal: »Blyad’!«
In diesem Moment gab Natascha dem Brüderchen mit dem Handrücken einen derben Schlag gegen die Stirn und rief höchst erzieherisch: »Mann, Anton, das sagt man nicht!«
Sorokin wusste, was nun folgen würde. Zehn Sekunden lang schwieg Anton und atmete nicht. Dann klappte die untere Lippe um, sein Mund öffnete sich und ihm entfuhr ein bemerkenswert heftiges Brüllen, das nicht mehr enden wollte. Durch sanftes Kopfstreicheln versuchte Fedor, den Winzling zu beruhigen, welcher sich schließlich an den großen Stiefbruder kuschelte und nur noch schluchzte.
Dies war der Moment, da sich der Vater zu Wort meldete. »Danke, Natascha. Danke, Fedor. – Bringst du die beiden hoch und sagst Mama Bescheid, dass ich noch mal weg musste?«
»Klar doch.« Fedor verzog das Gesicht. Von der Bundesstraße bis zur Haustür waren es genau 378 Schritte bergauf. Das Einfamilienhaus der Sorokins stand weit abseits in der Leipziger Tiefland-Prärie, der kein Mensch solch eine Steigung zutrauen würde. Und spätestens nach zwanzig Schritten wollte Anton immer getragen werden. »Kein Problem, Papa. Wie lange wirst du weg sein?«
Sorokin zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.« Dann hielt er direkt an der Bundesstraße,