Harrys geträumtes Leben. Hans H. Lösekann

Harrys geträumtes Leben - Hans H. Lösekann


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Jedes Wort, das ich dir vorhin gesagt habe, ist wahr. Ich liebe dich, und wenn du mich vorhin erschossen hättest, hätte ich es verstanden. Können wir die Politik nicht vergessen? Wir sind zwei Menschen, die zueinandergefunden haben, und das ist ein großes Geschenk.“

      Die einzige Antwort war: „Sei still.“

      Nach ewig langer Schweigezeit fragte Yamalia plötzlich, wo er seine restlichen drei Monate in der Legion ableisten werde. Harry war so froh, dass sie etwas mit ihm gesprochen hatte, dass er eifrig erklärte: „Ich bin noch sechs Tage krankgeschrieben, dann werde ich von Mascara auf einen Außenposten versetzt. Der Name ist Fort Sidi Boukekeur.“

      Yamalia verriss plötzlich den Wagen so scharf, dass Harry sich erschrocken an die Dachhalterung klammerte. Mit Mühe lenkte sie den Wagen wieder auf die Straße zurück.

      „Was war das denn?“

      „Nichts.“

      Wieder dieses lähmende Schweigen. Harry machte noch einige Gesprächsversuche, aber ohne Erfolg. Schweigend erreichten sie Mascara. Sie hielt an der Moschee. Harry versuchte es noch einmal: „Yamalia, wollen wir so auseinandergehen? Ich liebe dich, wir lieben uns.“

      „Harry, du gehörst zu unseren schlimmsten Feinden. Die Fremdenlegion ist von allem Schlimmen das Schlimmste. Ich hätte dich erschießen müssen. Ich konnte es nicht. Ich habe mich schuldig gemacht. Jetzt hör gut zu, ich erläutere das nicht weiter. Geh auf keinen Fall während der nächsten Woche nach Fort Sidi Boukekeur. Auf gar keinen Fall. Leb wohl. Vielleicht können wir uns wirklich einmal wiedersehen, wenn der Krieg vorbei ist.“

      Harry war ganz aufgeregt. „Was ist das für eine Warnung, was bedeutet das?“

      „Bitte lass mich, ich steige jetzt aus.“

      „Aber bitte, lass uns etwas vereinbaren, wie wir uns wiedersehen. Ich werde dir auf jeden Fall von Valencia aus über die Universität Algier meine Adresse mitteilen.“

      „Bitte steig jetzt aus, leb wohl.“

      Er stieg aus. Yamalia fuhr sofort davon, ohne zu winken, ohne sich umzudrehen.

      Alles in Harry war leer. Er stand auf dem Bürgersteig, schaute sich um, aber er nahm nichts wahr. Vor der Moschee saßen einige alte Männer auf einer Steinbank und wuschen sich die Füße. Einige Meter weiter standen einige Berber in weißen Trachten und diskutierten, heftig, laut und mit ausholenden Gesten. Harry sah es, aber er nahm es nicht auf. Langsam, so als trüge er ein Gepäck von mindestens hundert Kilo, und nicht nur seine leichte Reisetasche, ging er in Richtung Kaserne. Abwesend meldete er sich zurück, abwesend ging er in sein Zimmer. Er setzte sich auf sein Bett und brütete vor sich hin. Drei traumhaft schöne Tage hatte er mit seiner Traumfrau verbracht. Jetzt hatte er sie verloren. Für immer? Wahrscheinlich. Er hatte sie belogen, er hatte sie getäuscht, aber verdammt noch mal, er hatte doch keine andere Möglichkeit gehabt.

      Ganz langsam kam er wieder in der Wirklichkeit an. Was war das mit der Warnung von Yamalia vor dem Fort Sidi Boukekeur? Das konnte er nicht ignorieren. Nicht für sich selber, aber auch nicht für seine Kameraden. Sehr zäh nahmen seine Überlegungen Struktur an. Er musste den Kommandeur informieren. Aber er konnte natürlich, wieder mal, nicht die ganze Wahrheit sagen.

      „Ich habe, als ich mit einem Ruderboot im Schilf eine Pause gemacht habe, zufällig ein Gespräch belauscht. Leider nicht vollständig, nur teilweise. Aber eines war klar, es ging um einen Überfall auf Fort Sidi Boukekeur. Und zwar jetzt, in den nächsten Tagen.“

      Der Kommandeur hörte sich Harrys Bericht resigniert an. „Alles zerbricht. Sie treiben uns raus. Natürlich werde ich Ihre Meldung weitergeben. Aber ich glaube, dass es nichts bewirken wird. Es brennt überall.“

      Langsam ging Harry zurück zu seinem Logis. Seine Gedanken kreisten: Ich hab’s jedenfalls versucht. Aber was ist mit mir? In vier Tagen läuft meine Krankschreibung ab, und dann muss ich selbst zu diesem verdammten Fort Sidi. Das darf nicht sein. Dafür hat Yamalia mich nicht gewarnt. Ich muss mir etwas einfallen lassen. Aber das schob Harry erst einmal auf. Auf später. Er war eigentlich nur traurig und teilnahmslos. So vergammelte er den Tag und den nächsten und den übernächsten. Dann wurde er zum Kommandeur befohlen.

      „Praktikant Linnemann, ich habe eine schlimme Nachricht. Ihre Warnung war berechtigt. Das Fort Sidi Boukekeur wurde angegriffen und von den Rebellen eingenommen. Es ist nichts bekannt über die Besatzung, die Zahl der Opfer oder der Überlebenden. Das Fort wurde offiziell aufgegeben. Ja, es ist schlimm, alles zerbricht. Ich fürchte, unsere Tage in Algerien sind gezählt.“

      Harry war völlig leer. Es war passiert. Wer war Yamalia? Was hatte sie für einen Einfluss, für eine Kompetenz?

      In den nächsten Wochen sickerte langsam durch, dass Verträge unterzeichnet worden waren. Algerien würde selbständig werden. Die französischen Truppen würden das Land verlassen und die Legion machte den Anfang. Es kam immer noch zu Kämpfen, durch Ultras, durch fanatische Rebelleneinheiten, also durch die Unverbesserlichen, die Extremen beider Seiten. Deshalb war Harry erleichtert, als er mit seinen Kameraden auf einem Truppentransporter eingeschifft wurde. Die Reise war kurz. Schon am nächsten Vormittag bezogen sie ihre neuen Quartiere in der Nähe von Calvi auf Korsika.

      Sechs Wochen vor dem Ende seiner neunmonatigen Praktikantenzeit wurde Harry zu seinem Kommandeur befohlen. Er warb dafür und empfahl Harry, sich regulär für fünf Jahre bei der Legion zu verpflichten. Trotz der Lockung mit einer sofortigen Beförderung und der Zusage zur Aufnahme in die Offizierslaufbahn lehnte Harry dankend ab. Natürlich, denn er hatte andere Ziele. Nach mehreren Versuchen hatte er es geschafft, Señor Jerez in Gandia telefonisch zu erreichen.

      „Ja, ich habe einen Studienplatz für das Jurastudium an der Universität in Valencia sichergestellt. Allerdings kein Stipendium. Aber Geld hast du ja genug verdient mit deinen Grundstücksgeschäften, und das liegt hier auf deinen Namen auf der Bank bereit und es ist auch schon einiges an Zinsen dazugekommen. Das erste Semester beginnt in fünf Monaten, am 1. Oktober. Spätestens einen Monat vorher musst du die Selectividad, das Prüfungsverfahren zur Eignung zum Hochschulstudium, durchlaufen. Aber das schaffst du schon.“

      Harry war begeistert. Er diente seine restlichen Wochen Legion ohne innere Anteilnahme, irgendwie automatisch ab, obgleich die Zeit auf Korsika Drill pur war. Täglich mussten die jungen Männer Geiselbefreiungen üben. Unterbrochen wurde der Drill nur für einen Teil der Legionäre, der eine Zusatzausbildung zu Präzisionsschützen erhielt. Harry gehörte dazu. Er durchlebte das alles wie in einem großen, lockeren Gewand. Innerlich gehörte er nicht mehr dazu. Schon bald gehörte er zu der kleinen Gruppe, die mit der Fähre nach Marseille übersetzte, um dann die letzten Diensttage in Aubagne zu verbringen.

      Mit einem ansehnlichen Gehaltsscheck und auch reichlich Bargeld, er hatte ja während seiner Dienstzeit kaum Geld ausgegeben, trat er schließlich die lange Heimfahrt mit der Bahn nach Bremen an. Bald setzte die Abenddämmerung ein. Träumend sah Harry aus dem Abteilfenster. Nicht immer nahm er wirklich wahr, was er sah. Immer wieder ließ er einzelne Wochen oder auch Tage dieses Dreivierteljahres Fremdenlegion Revue passieren. Ja, er hatte viel erlebt. Die meiste Zeit, die Zeit des Drills, der Strapazen, der Schikanen, konnte er bald ablegen. Einzelne Begebenheiten durchlebte er erneut und manche immer wieder. Die rücksichtslosen Durchsuchungen der Dörfer, die angstvollen, aber auch hasserfüllten Blicke der bettelarmen Bewohner. Den Rebellenüberfall aus dem Hinterhalt auf seine Gruppe, der zu dem langsamen und qualvollen Tod eines Kameraden führte. Den Angriff der Kameraden auf die Freiheitskämpfer im Hinterhalt und deren entsetzliches Ende mit den Fleischfetzen in den Büschen und nicht zuletzt seinen eigenen Anteil daran. Die Schussverletzung, die er sich dabei zugezogen hatte, führte dann auf Umwegen zu den Tagen, die er sicher nie in seinem Leben vergessen würde. Seine Zeit mit Yamalia. Die Tage und Nächte der totalen Liebe und Leidenschaft. So total, dass für nichts anderes Raum oder Zeit blieb. Außer, dass er seine Liebe, sein Wunder, belügen musste, vom ersten Moment an und dann durchgehend. Aber er hatte ja keine andere Möglichkeit gehabt, er war gezwungen gewesen, sie zu belügen. So sah er das auch während seiner Träumereien auf der Rückreise. Und dann der schreckliche Moment, als Yamalia begriff, dass Harry sie belogen und betrogen hatte. Der jähe Umschwung ihrer Gefühle


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