Der Richter in mir. René Münch
Jahren endlich meine Geschwister von väterlicher Seite gefunden habe. Der Leser wird auch erfahren, dass ich ein humorvoller, ja oft lustiger Mensch bin und nicht an Politikverdrossenheit leide. Heute agiert der Richter nur noch in einer untergeordneten Rolle.
Um alles realistisch erscheinen zu lassen, präsentiere ich, wie schon in meinem ersten Buch, Originaldokumente. Stempel, Anschriften und Unterschriften sind aus rechtlichen Gründen geschwärzt. Personen, die in den Geschichten eine Rolle spielen, agieren unter verfremdeten Namen – eine Ausnahme bilden meine Geschwister väterlicherseits. Es sind Zeichnungen von meiner großen Schwester und von mir zu sehen.
Dem Richter in mir habe ich bereits klargemacht, dass die Gründung der DDR und der Mauerbau völkerrechtswidrig waren, ebenso wie die Zwangsadoptionen, die aufgrund des Mauerbaus geschahen. Walter Ulbricht, zu dieser Zeit Chef der SED, verkündete in seinem bekanntesten Spruch: „Niemand hat vor, eine Mauer zu errichten.“ Ich denke, dass sich die Menschen, als sie dies hörten, sicher fühlten und noch etwas Reisefreiheit genossen, ohne daran zu denken, dass der russische Sektor dichtgemacht wurde. An diesem 13.08.1961 stellte man Bürger vor vollendete Tatsachen, niemand konnte sich in dem geteilten Land mehr von A nach B bewegen, Bürger aus der damaligen Bundesrepublik Deutschland (BRD) wurden Eigentum der DDR und konnten nicht mehr zu ihren Familien und Angehörigen. Diejenigen, die es trotzdem wagten, wurden zersetzt und kamen in Strafvollzugsanstalten in der DDR. Ebenso ging es Gegnern des Mauerbaus und freiheitsliebenden Menschen.
Vielleicht gelingt es mir ja, den psychischen Mord an meiner Mutter mit diesem Buch aufzudecken und vor allem aufzuarbeiten – Dokumente vom Referat Jugendhilfe und dem MfS (Ministerium für Staatssicherheit) liegen mir vor. Der Spruch „Das war damals so“ klingt in meinen Ohren wie ein Freispruch für die Täter.
Ein Opfer bin ich nicht mehr, heute kämpfe ich um mein Recht!
Um während der Beschäftigung mit meiner Aufarbeitung nicht emotional abzugleiten, habe ich Emotionen auf Leinwand oder Karton gebracht und präsentiere diese hier. Zudem bringe ich vier Gedichte von Gerda Kocí mit ein. Gerda war damals Auszubildende im Dauersäuglingsheim Dresden, Weinbergstraße 2 und wollte in den Jahren 1961/62 Säuglingsschwester werden.
Eine Anmerkung zum Schluss: Die zahlreichen Akten, die mir für meine Aufarbeitung zur Verfügung standen, lagen größtenteils auf Pergamentpapier vor. In all den Jahren seit ihrem Entstehen hat jedoch die Qualität entsprechend gelitten und einige Passagen sind kaum lesbar. Es ist mir dennoch wichtig, die Dokumente hier zu zeigen, sind sie doch Zeugnis all dessen, was ich vom Tage meiner Geburt an erlebt habe.
Sehr geehrter Herr Richter, heute nicht!
Hallo, Herr Richter, ich muss schon sagen, dass Sie mich heute wieder nerven in meinem Oberstübchen. Sagen Sie mal, kann ich Sie duzen oder wollen Sie lieber mit „Sie“ angesprochen werden?
„Herr Münch“ klingt sehr förmlich, und da ich mich nun mal in deinem Kopf befinde und ein Teil von dir bin, können wir uns gern duzen.
Okay, du Richter, sei bitte nicht sauer auf mich, wenn ich Sie ab und zu sieze. Das muss immer dann sein, wenn Sie mich nerven und ich gerade nicht die Zeit habe, mich mit Ihnen zu unterhalten. Der Tag hat vierundzwanzig Stunden, und wenn ich zwei Stunden für Dich abzweige, ist das völlig ausreichend. Mehr Zeit mit dir würde mich überfordern. Abgemacht, du Richter?
Ist schon okay. René, sag mal, warum schreibst du über solch schreckliche Themen? Das alles ist doch mehr als zwanzig Jahre her.
Ja, Richter, das ist so eine Sache mit der Aufarbeitung. Da sind Dinge geschehen, über die heute noch geschwiegen wird, das hat was mit der Hemmschwelle zu tun. Wie soll ich dir das erzählen, Richter? Hör mir einfach zu und lass mich bitte auch ausreden. Alles, was ich zu DDR-Zeiten erlebt habe, schleppe ich nun schon mehr als fünfzig Jahre mit mir herum. Wenn ich davon mal was erzählen wollte, habe ich es lieber gelassen, denn das sind Tatsachen, die man belegen muss, damit sie dem, der zuhört, glaubwürdig erscheinen.
Stimmt, René, bezüglich der Glaubwürdigkeit gebe ich dir recht. Nun sag doch mal: Wie kam es dazu, dass du das Buch „Der Staat in der Republik“ geschrieben hast?
Okay – nerv! 2012 wurde der Fonds Heimerziehung für DDR-Heimkinder eingerichtet. He, dachte ich mir, als ich davon hörte, auch ich musste schon als Säugling damit leben, ein Heimkind zu sein. Ich kramte in meinen Unterlagen und fand einen alten Impfausweis, auf dem sich der Stempel von einem Dauersäuglingsheim befand. Ich fragte mich, ob der Stempel reichte, wahrscheinlich jedoch nicht. Ich beantragte meine Kinderheimakte und konnte es nicht glauben: Der Horrorkatalog war noch da, und ich durfte Kopien davon anfertigen. Was wollte ich mehr? Das Manuskript für mein Buch schwebte mir auch schon im Kopf herum, und das Einzige, was mir noch fehlte, waren Dokumente – Beweise.
Die haben dir also wirklich die Akte gezeigt und du konntest Kopien davon machen?
Ja, Richter, das haben sie. Ich musste da zwar etwas Druck machen, aber es hat sich gelohnt und ich konnte damit beginnen, meinen Kopf leer zu schreiben und das Gewesene aufzuarbeiten. Ich wollte das alles schon immer mal aufschreiben und ein Buch rausbringen. Wenn ich so etwas zu DDR-Zeiten geschrieben hätte, dann wäre ich in das Gelbe Elend (Stasi-Gefängnis) nach Bautzen gekommen – oder woanders hin. Schon meine Mutter hatte man wie einen Staatsfeind behandelt, und als ich ihr im Alter von achtzehn Jahren begegnete, verging mir der Gedanke daran, ein Buch über eine DDR-Diktatur zu schreiben. Heute ist das anders, da kann ich es. Natürlich bin ich einigen Menschen mit Sicherheit ein Dorn im Auge, aber nun ja, da müssen sie halt durch!
René, wenn es der Aufarbeitung dienlich ist und du anderen helfen kannst, ziehe ich vor dir den Hut.
Danke, Richter.
Ja, und nun sag mal, warum schreibst du dieses Buch jetzt ausgerechnet mit mir? Ich habe dich doch, seit du denken und handeln kannst, ziemlich bösartig auf falsche Fährten gelockt.
Ach, Richter, wenn du wüsstest, dass du da oben in meinen Kopf nicht allein bist, dass da nämlich noch drei andere sind, die lustiger sind als du, würdest du vielleicht gleich toben und dich fragen: Was wollen die, und wieso bin ich nicht allein?
Du sagst mir erst jetzt, dass ich in deinem Oberstübchen nicht allein bin?
Ach, Richter, fang jetzt keinen Streit an. Du hast mich nicht danach gefragt und ich fühlte mich nicht dazu verpflichtet, es dir zu sagen. Weißt du, Richter, du bist nur ein Teil von mir wie die anderen drei auch, und mit dir gehe ich lieber Instanzen durch, um mich nicht selbst psychisch hinzurichten. Ich brauche dich. Du bist mir schon oft eine gute Hilfe gewesen, gerade im Umgang mit den Behörden und Ämtern, die immer noch glauben, dass es die DDR noch gibt, zumindest glauben es diejenigen Mitarbeiter, die man nach der Wende übernommen hat.
Ach, komm, René, hör mal auf, so zu denken. Und ja, durch mich bist du ein Kämpfer geworden, obwohl ich dich auch gern mal aufs Glatteis geführt und dir viele Steine in den Weg gelegt habe.
Gut, dass du das zugibst. Genau deswegen gibt es ja die anderen drei da oben. Die helfen mir dann schon, die Steine aus dem Weg zu schaffen, egal ob die von dir oder von einer Behörde dort hingelegt worden sind. Herr Richter, irgendwie habe ich das Gefühl, dass du ins Negative abgleitest und mich wütend machen willst. Doch bedenke: Das geht nicht mehr so einfach, wie du es gern hättest. In den letzten drei Jahren hat sich einiges geändert.
Sage mal, René, wenn man über solche Geschehnisse schreibt, muss man doch seine Hemmschwelle überschritten haben, oder?
Ja, Richter, das habe ich auch. Nachdem ich mir Kopien von der Kinderheimakte gemacht und mich damit beschäftigt hatte, nahm ich mir vor, erst einmal den Kopf leer zu schreiben und alles zu dokumentieren. Ach, ich sehe gerade, dass ich meine Fenster mal wieder putzen müsste. Wenn ich mich recht erinnere, waren sie letztes Jahr im September schon dran, und jetzt haben wir August! Ja, wenn ich die Scheiben so betrachte, muss das jetzt sein – die Fliege vom letzten Jahr ist auch noch da, nur fliegt sie nicht mehr.
Herr Münch, Sie sind ein Spielverderber!
Herr Richter, das ist für mich kein Spiel.