Der Richter in mir. René Münch

Der Richter in mir - René Münch


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      Zur Vorgeschichte der Familie Karge – die Familie meiner Mutter

      Sag mal, René, du betreibst Recherchen bis ins kleinste Detail – was bringt dir das?

      Ach, Richter, mir tut die Aufarbeitung gut, und es hilft mir über den Schmerz hinweg, wenn ich alles aufschreibe. Ein Recht auf Bildung habe ich auch, wenn es um das Thema „Recherchieren“ geht, bessere Bildungspolitik geht erst einmal nicht. Mit meinem ersten Buch habe ich mir den Kopf leer geschrieben, auch um mich damit zu beruhigen, dass ich für die Geschehnisse nichts kann. Über das, was ich in diesem zweiten Buch schreibe, lagen mir wichtige Informationen und Unterlagen erst dann vor, als ich mit dem ersten Buch fertig war. Mit dem neuen Material ist noch mehr Aufarbeitung möglich. Mir ist es auch sehr wichtig zu belegen, dass meine Mutter aus einer gutbürgerlichen Familie stammt und nicht so war, wie es das Referat Jugendhilfe Abteilung Volksbildung zu DDR-Zeiten schilderte. Übrigens: Am 9. November 2014, genau fünfundzwanzig Jahre nach dem Mauerfall, bekam ich folgende E-Mail:

      Richter, du kennst mich. Wenn ich solche Informationen erhalte, sehe ich aus wie eine gerupfte Gans – mit viel Gänsehaut! Ich frage mich dann immer wieder: Was verheimlicht man mir beim BStU Dresden? Das sind dort doch alles ganz nette Leute. Bereits als ich meine Geschwister väterlicherseits kennenlernte, konnte ich das feststellen.

      Irgendetwas verheimlicht man, etwas, das auf keinen Fall an die Öffentlichkeit darf. Gerade du, René, machst vieles öffentlich.

      Das ist Aufarbeitung, Richter, und Geschichte aus der Zeit des Kalten Krieges.

      Nicht nur aus jener Zeit, René. Wenn man dir bis heute verschweigt, dass du Geschwister und Verwandte hast, ist der Kalte Krieg noch lange nicht vorbei.

      Jetzt übertreibst du aber!

      Nein, das tue ich nicht. Glaub mir, da stimmt was nicht.

      Egal, du Held, langsam habe ich Erfolg mit meinen Recherchen und werde bald Licht ins Dunkel bringen. An dem Abend, als diese E-Mail kam, habe ich – fünfundzwanzig Jahre nach dem Mauerfall – Verwandte fünften Grades angerufen. Mir pocht bei solchen emotionalen Themen immer das Herz. Ich stellte mich vor und sagte, dass ich ein Sohn von Hannelore sei und nicht wisse, wie das mit den Verwandtschaftsverhältnissen ausschaut. Ich weiß es bis heute noch nicht so genau, woher auch? Der Mann am Telefon erzählte mir, dass er gern in Thüringen studiert hätte, was er nicht durfte. Daraufhin flüchtete er in den Westen – ursprünglich stammt er aus Schlesien. Er erzählte mir, dass meine Mutter mit einem Mann in den Osten wollte, um eine sozialistische Persönlichkeit zu werden. Aus der sozialistischen Persönlichkeit bei der SED ist nichts geworden, da hatten diktatorische Kräfte das Sagen, und jemandem aus dem Westen konnte man nicht vertrauen.

      Ich denke mal, dass deine Mutter eine soziale Ader hatte, so wie du, René. In der DDR herrschte eine kommunistische Diktatur, also kein sozialdemokratisches Gedankengut. Deine Mutter hat sich wohl von diesem Mann, M. M. war sein Name, blenden lassen und ist ihm gefolgt. Es musste wohl so kommen, dass sie bereits nach einem Jahr DDR im Jahr 1956 zurückwollte. Doch das ging nicht mehr. Sie befand sich in den Fängen des MfS, und was das bedeutete, muss ich dir nicht erzählen, das weißt du selbst.

      Ich weiß, Richter, deshalb musste auch der erste Fluchtversuch nach einem Jahr DDR im Jahr 1956 scheitern. Meine Mutter blieb in den Fängen des MfS. Sie wurde am 13. September 1961, also einen Monat nach dem Mauerbau, angeklagt und am 10. Oktober 1961 im „Namen des Volkes“ verurteilt. Zu diesem Zeitpunkt war sie mit mir schwanger – von einem Mann namens Heinrich Merbitz, doch dazu komme ich später. Und jetzt, Richter, hör mir einfach nur zu und quake mir nicht rein. Es ist nicht ganz einfach, sich in Unterlagen einzulesen und sich ein Bild davon zu machen, also volle Konzentration, bitte: Am 12. November 2014 erfuhr ich von meinen Großcousins die Geschichte der Familie Karge, also von mütterlicher Seite. Zum ersten Mal hielt ich eine Familienchronik der Familie Karge in der Hand, zusammengestellt von meinen Großcousins. Meine Mutter stammt von einer wohlhabenden Familie ab.

      Aber René, dann ist sie 1955 doch sicherlich nicht freiwillig in den russischen Sektor übergesiedelt!

      Richter, zu diesem Thema kommen wir später. Wir beginnen erst einmal mit der Chronik, um zu erfahren, wer meine Großeltern waren. Vielleicht kann ich mich dann in die Lage meiner Mutter hineinversetzen. Die Chronik wurde von dem Bauern Hugo Karge im Jahr 1937 geschrieben. Ich erzähle das Nachfolgende aus seiner Sicht. Das macht es mir einfacher, mich fünfundzwanzig Jahre nach dem Mauerfall in die Familie meiner Mutter hineinzufühlen. Es beginnt mit einem Vorwort:

       Vorwort

      Durch Familienforschung konnte Hugo feststellen, dass meine Ahnen, soweit er es zurückverfolgen konnte, stets Bauern gewesen sind. Es mag also schon in meinem Blut gelegen haben, dass ich mich stets nur in Verbundenheit mit dem Boden glücklich fühlen konnte.

      „Die Erhaltung und Verbesserung des Hofes war mein Lebenszweck und mein Sinn im Verein mit meiner mir treu zur Seite stehenden Ehefrau nur darauf gerichtet, es durch äußerste Tatkraft und Sparsamkeit zu erreichen, dass einmal ein Sohn den Hof schuldenfrei übernehmen kann und die anderen Kinder auch nicht mit leeren Händen vom Hof zu gehen brauchen. Im liberalistischen Zeitalter kam es aber meistens anders. Die Höfe wurden zersplittert, mussten wegen Erbteilung in andere Hände übergehen und die Kinder zerstreuten sich in alle Winde. Die Verbundenheit von Blut und Boden hörte auf, sehr zum Unglücke der Landwirtschaft. Schon damals habe ich diese Zustände als Unglück für die Bauernhöfe und deren Familien empfunden und es stets bedauert, dass nicht ebenso wie bei dem Großgrundbesitz aus diesen Höfen gebundener Besitz gemacht werden konnte. Für das Bauerntum und überhaupt für die Landwirtschaft empfinde ich die Schaffung des Erbhofgesetzes als die größte Tat des Nationalsozialismus.“

      René was schreibst du denn da?

      Ich zitiere Hugo Karge von 1937. Da habe ich noch nicht gelebt und meine Mutter war gerade vier Jahre alt. Also, Richter, mit den Nationalsozialisten habe ich nichts am Hut, das steht so in der Familienchronik.

      „Damit hat nun jeder Bauer, der nicht vom liberalistischen Denken verseucht ist, die Gewissheit, dass der von ihm so sorgfältig gehegte und gepflegte Hof der Familie erhalten bleibt.“

      René, die waren ja damals drauf!

      Da hast du recht. Ich habe zu dieser Zeit noch nicht gelebt und sage heute, dass es damals eben so war, obwohl ich den Spruch überhaupt nicht mag. Herr Richter, das, was du eben erfahren hast, hat Hugo im Jahr 1937 als Vorwort geschrieben. Also Ruhe jetzt! Dass ich mit über fünfzig Jahren all das erfahre, was zu meiner Familie gehört, kann ich noch nicht in Worte fassen. Das Schreiben hilft mir dabei, es zu verarbeiten.

      Lebenslauf des Friedrich Wilhelm Karge, Sohn des Bauern David Wilhelm Karge und seiner Ehefrau Johanna Christa, geb. Hache, geschrieben von seinem Sohn Hugo Karge.

      „Am 23. April 1837 wurde er in Rosenau, Kreis Jauer, geboren und besuchte die Volksschule. Mit zwölf Jahren verlor er seinen Vater. Nach zweijährigem Witwenstand heiratete seine Mutter einen Bauern Sommer, welcher das väterliche Gut käuflich erwarb. Ein Jahr später starb seine Mutter bei der Geburt seines Stiefbruders. Sein Stiefvater heiratete wieder, so hatte er nun zwei Stiefeltern und wurde fremd auf dem Hof seiner Eltern. Bis zu seinem Militäreintritt erlernte er die Landwirtschaft auf dem väterlichen Hof. Da er aber keine Aussicht hatte, den Hof einmal zu erhalten, genügte er seiner Militärpflicht durch freiwilligen Eintritt bei dem Dragoner-Regiment Graf Bredow in Lüben. Als Freiwilliger musste er vier Jahre dienen. Nach Beendigung seiner Militärdienstzeit kaufte er in Altenlohm (Niederschlesien) das Bauerngut Nr. 5 und wurde am 3. Juli 1862 in der Kirche zu Waldau vermählt mit Auguste, Tochter des Bauern Hoferichter in Fellendorf, Kreis Liegnitz. Sein Leben in Altenlohm war reich an Kümmernissen. Es stellte sich wohl reicher Kindersegen ein, doch starben alle Kinder schon klein oder im schulpflichtigen Alter, zwei Kinder waren gleichzeitig im schulpflichtigen Alter verstorben und wurden an


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