Der Richter in mir. René Münch
„Altenlohm hatte eine alte Dorfkirche aus dem 13. Jahrhundert. Durch die Lutherische Kirchenreformation wurde Niederschlesien evangelisch. Gegen den Willen der Bevölkerung katholisierte die Gegenreformation dieses Gebiet wieder. Altenlohm verblieb jedoch infolge seiner Grenzlage im evangelischen Herzogtum Liegnitz, so predigte der aus dem katholisch gewordenen Nachbardorf Aslau nach Altenlohm geflüchtete evangelische Pfarrer an einem Grenzgraben auf der Altenlohmer, der evangelischen Seite stehend über das Wasser zur katholischen Seite den dort versammelten Aslauer Bürgern. Auf Dauer kam die zwangskatholisierte Bevölkerung der Umgebung mehr und mehr in die Altenlohmer Kirche zum evangelischen Gottesdienst. Daraufhin wurde der Kirchenbau vergrößert und musste in den nächsten Jahrhunderten noch mehrmals erweitert werden, sodass die Kirche schließlich drei Emporen hatte und 3.000 Menschen einen Sitzplatz bot. Durch die Säkularisierung Anfang des 19. Jahrhunderts wurden die Kirchen in den Dörfern wieder evangelisch, die Zahl der Kirchenbesucher in Altenlohm ging dadurch ständig zurück. Der riesige, vollständig in Holz gefertigte Bau, mit Holzschindeln gedeckt, verursachte der Gemeinde erhebliche Erhaltungskosten. Am 15. Mai 1935 brach bei Reparaturarbeiten am Dach Feuer aus, die Kirche brannte vollständig nieder. Die brennenden Schindeln flogen mehr als 3 Kilometer weit. Der Turm blieb lange stehen, weil dessen brennendes Fachwerk aus uralten Eichenbalken von hoher Tragfähigkeit war. Die Hitze war so groß, dass die Glocken schmolzen und abtropften. Einen wiedererstarrten Bronzeklumpen hatte mein Großvater als Briefbeschwerer auf seinem Schreibtisch. Ich war einer der letzten Täuflinge in dieser Kirche (Abb. 3.7). Altenlohm brauchte nun eine neue Kirche. Mein Großvater hatte seine eigenen Vorstellungen über deren Form und Ausgestaltung. Sie sollte nach seinem Wunsch von dem später sehr bekannt gewordenen Berliner Architekten Gerhard Langmaack entworfen und von einem bestimmten Maler, ebenfalls aus Berlin, ausgestaltet werden. Gemeinde und Kreisverwaltung sowie die evangelische Kirchensynode waren dagegen. Das sei viel zu teuer, das könne mit örtlichen Fachleuten genauso gut und billiger gemacht werden. Mein Großvater als Gemeindevorsteher und Vorstandsmitglied der Kreissynode Haynau hat sich jedoch durchgesetzt: Die neue Kirche wurde so gebaut und ausgestattet, wie er es wollte. Der Maler hat das Altarbild als Kopie des Gemäldes ‚Letztes Abendmahl‘ von Leonardo da Vinci geschaffen, die Köpfe und Gesichter jedoch sind von Altenlohmer Bürgern (Abb. 3.10). Dieses Gemälde wurde 1999 von den Polen überpinselt und das hier wiedergegebene Foto ist leider sehr unscharf. Meine Schwester war der erste Täufling in der neuen Kirche – was für ein Zufall!“
Es gibt nur das eine Foto vom Abendmahl (Abb. 3.10) aus der Kirche, deswegen auch die schlechte Qualität.
Im Jahr 2007 haben die Polen diese Kirche originalgetreu renoviert (Abb. 3.11).
René, Kreativität kennt keine Grenzen, wie man an dem Großvater erkennen kann. Das könntest glatt du sein.
Ach, Richter, wenn man mich lassen würde – aber dann richtig!
„Ein Beispiel für das selbstbewusste Handeln meines Großvaters: Für den Einsatz der Feuerwehr bestimmte grundsätzlich er, welches Pferdegespann aus dem Dorf die Spritzenpumpe ziehen musste. Er erkundigte sich stets vorher, wo es brannte. War das Gebäude sanierungsbedürftig und lagerten darin keine wertvollen Güter, wurden schwere, langsame Pferde vorgespannt, war es hingegen ein gutes Gebäude, wurden schnelle Warmblüter eingesetzt. Im ersten Fall wurde der Brandschaden größer, die von der Brandkasse zu zahlende Versicherungssumme auch. Hier nun ein Beispiel für das geschickte Regeln einer Sache: Zu dem Hausgrundstück meines Großvaters gehörte 1 Morgen Ackerland (= 2.553 Quadratmeter). Diese Fläche verpachtete er an den Friseur, der mit seiner Familie sehr ärmlich lebte und das Land gern haben wollte. Als Pachtpreis wurde vereinbart, dass der Friseur jeden Tag morgens um 8 Uhr zu meinem Großvater kommen musste, um ihn zu rasieren, ihm den Bart zu stutzen und bei Bedarf die Haare zu schneiden. Das war für beide Seiten eine günstige Regelung, zumal der Friseur nur 150 Meter entfernt wohnte. Durchsetzungsfähigkeit, Verhandlungsgeschick und Mut zu unkonventionellen, konsequenten Entscheidungen waren die hervorragenden Eigenschaften meines Großvaters. Die Kraft seiner Persönlichkeit war sicherlich die Ursache für seinen wirtschaftlichen Erfolg. Ich habe öfter beobachtet, dass er respektgebietend wirkte, distanziert und auch hart war. Seine beiden Söhne hatten wohl auch zu leiden und waren gegenüber dem Vater oft aufsässig. Sein Sohn Arthur beispielsweise ging als Achtzehnjähriger mit Gleichaltrigen aus dem Dorf zum Tanzen in eine Arbeitersiedlung. Das hatte ihm sein Vater verboten, weil zwischen Bauern und Arbeitern soziale Spannungen bestanden. Erwartungsgemäß kam es zur Prügelei, Arthur wurden Rippen gebrochen und seine Freunde brachten ihn nach Hause.“
Ist das wahr, René? Dein Opa Arthur, ein Bauer, bekam die Hucke voll von Arbeitern?
So ist das, Richter, wenn man als Achtzehnjähriger nicht hören kann oder will. Ich kenne so was auch.
„Ungerührt sagte mein Großvater: ‚Ihr habt ihn dahin mitgenommen, also seht zu, wie ihr ihn ins Krankenhaus bekommt.‘ Das Krankenhaus war fünfzehn Kilometer entfernt, es gab weder Autos noch Krankenwagen noch Telefon. Sohn Arthur verließ schließlich mit etwa zwanzig Jahren bei Nacht und Nebel ohne Abschied das Elternhaus. Einige Monate lang gab es keinen Kontakt zwischen Vater und Sohn, bis meine Großmutter es in die Hand nahm und zwischen den beiden vermittelte. Ohne elterliche Hilfe machte er eine Ausbildung zum Diakon und war danach in den Von Bodelschwinghschen Anstalten für psychisch Kranke in Bethel angestellt. Anfang der 30er Jahre heiratete er und wohnte mit seiner Frau in Holzminden. 1934 bekamen sie eine Tochter, Hannelore Karge, die der Verfasser der Chronik nie kennengelernt hat.“
René, jetzt werde ich stutzig. In deiner Kinderheimakte steht 1933, und du schreibst hier 1934?
Stimmt, Richter. Aber ich lasse jetzt hier in der Chronik das Jahr 1934 stehen, denn den Verfasser kann ich nicht fragen, schließlich kenne ich ihn noch nicht.
„Später schlossen Vater und Sohn Frieden, ihr Verhältnis zueinander blieb aber distanziert. Auch mit Sohn Oskar ging es nicht glatt. Dieser hatte ein Verhältnis mit Frieda Kretschmer, Tochter des Altenlohmer Maurermeisters. Am 29. Januar 1929 bekam Frieda einen Sohn, Heinz, und im Sommer 1930 heirateten sie. Aber Frieda wollte nicht mit den Schwiegereltern auf dem Hof zusammenleben. Erst als mein Großvater das Altenteilerhaus (das Ausgedinge) fertig gebaut hatte und vom Hof wegzog, zog sie auf den Hof. Es war offensichtlich nicht leicht, sich gegen den Willen meines Großvaters durchzusetzen. Das zeigt sich auch in der Abbildung (Abb. 3.12): Statur, Haltung, Gangart und Gesamteindruck dieses Mannes signalisieren dem Betrachter: ‚Ich weiß, was ich will, und ich will es durchsetzen.‘ Daneben der zweiunddreißigjährige Sohn Oskar versuchte es sowohl in Kleidung als auch in seinem Gesamteindruck dem Vater gleichzutun.“
„Großmutter Berta Karge (Abb. 3.2) war eine resolute Bauersfrau: zupackend, tüchtig, liebevoll für Kinder und Enkel sorgend. Ihre Wirkungsfelder waren Küche, Haus und Garten. Sie arbeitete ständig und hatte trotzdem immer Zeit für uns Kinder. Obwohl ich sie täglich um mich hatte – wir wohnten ja im selben Haus (Abb. 3.6) –, kann ich eigentlich nichts Besonderes von ihr berichten. Sie war immer da und regelte den Alltag zuverlässig und sicher. Ohne diese Frau hätte mein Großvater seine vielen Aktivitäten nie erfolgreich durchführen können. Die letzten zehn Lebensjahre meiner Großeltern waren so eng mit meinem Leben verknüpft, dass diese Zeit zusammen mit meinem eigenen Leben behandelt werden soll.
Elterngeneration der Karge: Großmutter und ihre Brüder, Zeitraum 1895 bis 1985:
Meine