In Leipzig – danach. Ursula Weißig

In Leipzig – danach - Ursula Weißig


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bei uns noch lange kein Fit verwendet.

      IM KINDERGARTEN

      Mit zweieinhalb Jahren musste ich tagsüber in den Kindergarten gehen. Der war im Gebäude des Stötteritzer Rathauses untergebracht. Mein Vater arbeitete dort in der Verwaltung, meine Mutter fuhr mit der Straßenbahn zur Arbeit in die Waldstraße. Sie arbeitete seit Januar 1948 in einem Verlag als Sekretärin des Verlagsleiters. Heute nennt man das Chefsekretärin. Sie ging vollkommen auf in ihrem Beruf, war für Chef, Mitarbeiter und Autoren eine Vertrauensperson. „Volk und Buch“ war der erste Verlag, der von der sowjetischen Militäradministration wieder freigegeben wurde. Ich habe heute noch mein schönstes und liebstes Kinderbuch von dort, „Annette reist in die Rhön“ von Elisabeth Witsch, illustriert von Max Schwimmer, 1945 erschienen. In diesem Verlag war auch Erich Loest einer der ersten Autoren.

      Im Kindergarten war ich das jüngste Kind, alle Kindergärtnerinnen wurden mit Fräulein angesprochen und hatten eine weiße Schürze um. Zum Kindergarten gehörte ein Hof, mit gelben Ziegelsteinen gepflastert und eine Wiese mit großen Bäumen. Es gab dort kein Klettergerüst, keine Rutsche. Zum Spielen hatten wir Bälle, Springseile, Reifen und Puppenwagen. Letztere aus Korb geflochten und auf einem kleinen Holzgestell mit Rädern. Sicher gab es davon nur wenige, nicht jedes Mädchen konnte in der warmen Jahreszeit auf dem Hof mit dem Puppenwagen umherfahren.

      Eines Tages war ich froh, als kleinste, so ein Gefährt ergattert zu haben und kam auf die Idee, es ganz für mich in Sicherheit zu bringen. Vom Hof ging eine Tür ins Rathaus und ich wusste, dass dort mein Vater arbeitete. Er war für mich die rettende Insel, dort kann mir keiner oder keine den Wagen wieder wegnehmen. Also nichts wie hin zu der Tür, holpernd ging’s übers Pflaster, die Tür war schwer, aber ich konnte sie aufschieben und den Wagen hinter mir her zerren. Nun stand ich vor einer großen Holztreppe, die auch noch um die Kurve ging, also eine Wendeltreppe. Was ich einmal begonnen hatte, wollte ich auch zu Ende bringen. Also rauf mit der Karre auf die erste Stufe und dann Stück für Stück, Stufe für Stufe, immer weiter. In der Kurve, auf der breitesten Stufe angekommen, kam mir ein Mann entgegen. „Na, wo willst du denn hin, du kleene Zwecke mit dem großen Wagen?“

      „Ich will zu meinem Vati“, konnte ich nur sagen und er. „Wenn du mir noch sagst, wie der heißt, dann bring’ ich dich am besten mal hin, eh’ du mir hier noch die Treppe runterfällst.“

      Nachdem er von mir erfahren hat, wer mein Vati war, klemmte er mich samt Wagen unter den Arm, trug mich die Treppe hoch, stellte mich bei meinem Vater im Zimmer ab und sagte: „Hier, die will zu dir, stand schon auf der halben Treppe.“

      Meinem Vater blieb fast das Herz stehen, konnte ich mit meinen knapp drei Jahren doch gar nicht einschätzen, in was für eine Gefahr ich mich begeben hatte. Zu kurze Beine zum Treppensteigen und dann noch den Wagen bugsieren. Auf dem Arm meines Vaters ging es zurück in den Kindergarten, die Erzieherinnen bekamen ein Donnerwetter zu hören, das sie so schnell nicht vergessen sollten und ich war nun auch noch daran schuld. Sie konnten mir aber nicht lange böse sein, da ich als Jüngste auch von Anfang an den meisten Kummer hatte und viel geweint habe. Ich war immer sehr froh, wenn nachmittags mein großer Bruder nach der Schule zum Kindergarten kam und mit mir nach Hause gegangen ist. Kam dann mein Vater später auch nach Hause, legte er sich auf das Sofa. Ich durfte mich mit meinem Märchenbuch, das war sehr groß und hatte auf jeder Seite bunte Zigarettenbilder, dazulegen. Er las mir daraus so lange vor, bis meine Mutter mit dem Abendbrot aus der Küche kam. Manchmal waren es mehrere Märchen, mein Vater war der beste Vorleser, den ich als Kind hatte. Später hat mein Bruder versucht, ihn auch in dieser Hinsicht zu ersetzen, was ihm aber leider nicht gelungen ist. Vielleicht hatte er aber auch keine Lust und hat sich deshalb nicht allzu viel Mühe gegeben. Welcher halbwüchsige Junge verbringt schon gern seine Freizeit mit den Märchen der Brüder Grimm.

      Von meinem „Ausflug“ mit dem Puppenwagen hat mein Vater zu Hause nichts berichtet. Er wollte sicher meiner Mutter den Schrecken im Nachhinein ersparen. Erst viele Jahre später, als ich mal mit meiner Mutter im Rathaus diese Treppe hochging, habe ich es ihr wie nebenbei erzählt.

      DAS ERSATZKIND

      Die Weihnachtszeit muss für meine Mutter die schwerste Zeit im Jahr gewesen sein.

      Der immer wiederkehrende Todestag meines kleinen Bruders Claus am 23. Dezember hat ihr nicht nur den verstorbenen kleinen Jungen in Erinnerung gebracht, auch die Umstände seines Todes waren eine große Belastung für sie und die Familie. Keiner konnte sagen, welche Erkrankung zum Tode geführt hatte, die Kindereuthanasie war ein Tabuthema. Habe ich doch selbst noch in meiner Ausbildung zur Kinderkrankenschwester 1964 das Lehrbuch von Prof. Werner Catel, dem Chefarzt der Leipziger Kinderklinik während der NS-Zeit und Befürworter der Kindereuthanasie, benutzen müssen. Im Nachhinein ist mir auch klar, dass die Schwestern, die für unsere praktische Ausbildung verantwortlich waren, selbst an der „Betreuung und Pflege“ der Kinder in dieser Zeit beteiligt gewesen sein könnten. Oft genug haben sie uns erzählt, unter welchen erschwerten Umständen sie während des Krieges gearbeitet haben. Viel zu spät ist mir bewusst geworden, dass meine Mutter nur widerwillig meinem Wunsche, Kinderkrankenschwester zu werden, nach gekommen ist. Die Bewerbung und das dazu gehörende Gespräch bei der Oberin der Kinderklinik musste ich allein erledigen, was die Oberin sehr befremdete. Sicher hatte meine Mutter immer noch die Bilder im Kopf, als sie ihr kleines Baby dort abgegeben hatte und brachte es nicht fertig, wieder einen Fuß an diesen Ort zu setzen. Die Oberin war zum Zeitpunkt meiner Ausbildung kurz vor ihrer Pension. Also gerade in dem Alter, in dem sie vielleicht sogar mit meiner Mutter 1943 direkten Kontakt, ein Gespräch gehabt haben könnte, als sie ihr „krankes“ Kind abgeben musste. Diese vielen Fragen tauchen immer wieder auf.

      Meine Mutter hat mir auf meine Fragen nach dem Tod des Bruders nur immer wieder gesagt, dass er einen Darmpolypen hatte und daran sicher verstorben ist. Für mich gab dann aber immer ihr Nachsatz: „Wenn er nicht gestorben wäre, würde es dich heute nicht geben, dein großer Bruder sollte noch ein Geschwisterchen haben“, das Gefühl, ein „Ersatzkind“ zu sein.

      Es war dann aber auch wirklich mein großer Bruder Gerhard, der viel Zeit mit mir verbrachte oder verbringen musste. Er zog oft mit größeren Spielkameraden und mir im Schlepptau los, meist zum Völkerschlachtdenkmal. Dort wurde zuerst auf der Wiese, wo vor dem Krieg noch Wasser war, Kaninchenfutter gerupft. Die Wiesen und Hänge waren aber alle verpachtet, Grünfutter war begehrt. Hatten doch die meisten Haushalte Kaninchen oder Hühner auf dem Hof, die einfachste Art der Selbstversorgung. Die Jungen mussten sich also beeilen und brauchten auch einen Aufpasser, damit sie kein Pächter erwischte. Der Wachposten war ich. Als ein kleiner Dreikäsehoch stand ich auf dem obersten Wall mit Blick zu den grasrupfenden Jungen und einem ängstlichen Blick in die Runde nach einem „bösen Mann“. Doch damit war mein Martyrium nicht beendet. Die Körbe waren schnell voll, jetzt fingen die Burschen an, da unten Fußball zu spielen. Nirgendwo gab es nach dem Krieg eine schönere, grüne Gelegenheit dazu.

      Immer wieder riefen sie zu mir hoch: „Pass’ bloß auf, dass keiner kommt und wenn einer kommt, schreist du und rennst weg.“ Natürlich stand ich immer auf dem Sprung, das gruselige Denkmal über mir, auf der riesigen Wiese die fußballspielenden Jungen und in mir die Angst vor einem wutschnaubenden Pächter.

      Einmal war es dann auch knapp. Ein Mann kam die Treppe hoch, ich schrie, die Jungen kamen mit den Körben angerannt, mein Bruder schnappte mich und ab ging’s im Schweinsgalopp. Ich hoch oben auf den Schultern meines Bruders, wie auf einem schwankenden Schiff. Vielleicht hat sich bei mir damals eine Höhenangst entwickelt, es blieb nämlich nicht bei diesem einmaligen „Ritt“.

      DER RITT AUF DEM FENSTERBRETT

      Bei meinen Besuchen im Haus, bin ich sehr gern zur Familie im 3. Stockwerk gegangen. Die Frau ging frühzeitig zur Arbeit, sie trug die Zeitung aus. Deshalb war


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