... und die Geist lachte. Hermann Küster

... und die Geist lachte - Hermann Küster


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      Nicht, dass mir der Predigttext nichts sagen würde. Nicht, dass ich dazu keine Ideen hätte. Er sagt mir schier zuviel. Ich habe einen Haufen Ideen. Ich erkenne auch klare Bezüge des Textes zur Gegenwart. Zahlreiche. Zu zahlreiche. Ich kann meine Gedanken nicht ordnen. Ich finde keine mich befriedigende logische Abfolge. Muss jetzt jenes zuerst gesagt werden und dann eines und dann das andere? Oder erst eines und dann das andere und erst anschliessend jenes? Wie ich es auch probiere – es überzeugt mich nicht. Jede Zuordnung meiner Gedanken zueinander hat ihre Vor- und ihre Nachteile. Zwingend ist keine der möglichen Abfolgen. In jedem Fall sind Wiederholungen, Vorgriffe, Rückgriffe unvermeidlich. Ermüdend für die Menschen, die sich das am Sonntag im Gottesdienst werden anhören müssen. Nein, es geht nicht. Ich bringe, wie ich es nenne, „keinen Chic“ in die Sache. Immer mühsamer und zäher formieren sich die Gedanken in meinem Kopf. Und immer unentschlossener bewegen sich meine Finger, um sie in die Tasten zu tippen. Normalerweise gestatte ich mir maximal eine halbe Stunde für eine A-5-Seite. Inzwischen benötige ich bei dieser Predigt diese Zeit – und mehr! – schon bereits für einen einzigen Satz. Je langsamer und quälender sich die Dinge entwickeln, je krampfiger die Angelegenheit wird, desto mehr verwischt sich mir nun auch der Gesamtzusammenhang. Ich habe den Faden endgültig verloren. Längst sagt mir der Verstand, es sei besser, die Arbeit zu unterbrechen und morgen einen neuen Anfang zu versuchen. Aber der Kopf lässt es nicht zu. Ich bleibe dran. Dickköpfig und stur. Ich will es schaffen! Und zwar heute! Freitag ist mein Predigttag. Beginnend spätestens nach dem Mittagessen. Für morgen habe ich andere Arbeiten eingeplant (die ich zwar auch heute, anstelle der Predigt, machen oder in die nächste Woche verschieben könnte …!). Nein: Ich muss! Ich will! Heute! Ich will! Ich will! Und wenn ich etwas will, so lasse ich nicht locker!

      Aber ich verkrampfe mich nur. Nacken und Schultern schmerzen. Die Bauchmuskulatur ist angespannt. Der ganze Körper ein Stein! Und es hilft keine Spur, wenn ich zwischen hinein heisse, ja wütende Stossgebete gen Himmel sende: „Also hör mal zu, lieber Gott, das hier, das mache ich ja nicht zu meinem eigenen Ruhme, sondern für dich! Da könntest du mir eigentlich ruhig mal ein bisschen helfen. Schläfst du eigentlich, Heilige Geist? Wo sind sie nun, die Worte, die uns jeweils rechtzeitig in den Mund zu legen du versprochen hast?“ Aber dieses Stossgebet löst nur Gedanken in mir aus wie: „Nicht zu deinem eigenen Ruhme? Wenn du nicht so ehrgeizig wärest, wenn du nicht so sehr auf ein günstiges Urteil der Gemeindeglieder aus wärest, also darauf, dass sie dich schätzen, mit anderen Worten, wenn du nicht eben doch auf deinen Ruhm bedacht wärest, dann könntest du die Predigten jeweils lockerer angehen und würdest nicht so knorzen!“ Ich kann nicht ausschliessen, dass diese Gedanken Retourkutschen der Heiligen Geist auf meine Vorwürfe, meine wütenden Stossgebete sind. Und das macht mich grämlich. Besonders, weil ich diesen Retourkutschen eine gewisse Berechtigung nicht ganz absprechen kann …

      Im Zimmer nebenan, dem Kinderzimmer, regt sich etwas. Im Reich unseres ersten Kindes, der Tochter Judith, dessen Tür zu meinem Zimmer meist offen steht und nur durch ein Scherengitter von meinem Arbeitszimmer getrennt ist, wird es lebendig. An dieses Scherengitter hat sich Judith zuerst herangerollt, später dann ist sie auf Knien an es herangerutscht, um mir ihre sanften Botschaften zuzugurren und zuzublubbern. Inzwischen pflegt sie sich knickebeinig an diesem Scherengitter aufzurichten und erste Kurzsätzchen zu mir herüber zu sprechen.

      Meine Frau erscheint am Scherengitter, die Kleine an der Hand.

      „Na? Wie läuft’s?“, fragt sie.

      „Gar nicht läuft’s!“, antworte ich düster.

      „Ich lasse jetzt die Kleine hier.“, sagt sie. „Soll ich in dem Fall die Tür schliessen?“

      „Ja“, sagt mein Hirn. „Nein“, sagt mein Mund zu meiner eigenen Überraschung.

      „Gut“, sagt sie. „Also dann: Ich wünsche dir gutes Gelingen.“

      Worauf sie geht. Judith bleibt am Scherengitter stehen.

      „Prelich?“, fragt Judith.

      „Ja. Ich schreibe eine Predigt“, antworte ich.

      Darauf trollt sie sich und wendet sich ihrem Spiel zu. Aber nach qualvollen Minuten, in denen ich auch weiterhin mit der Predigt nicht vorwärtskomme und mich infolgedessen von ihren Spielgeräuschen ablenken lasse, wird es im Nebenzimmer still. Ich wende mich zum Scherengitter um. Da steht das Töchterchen und schaut mir aufmerksam zu.

      „Na, du?“, mache ich, „willst du ein bisschen auf meinen Schoss kommen? Wollen wir eine Runde schmusen?“ Gleichzeitig denke ich: „Oh, nein, Hermann, was machst du da?! Herrschaftszeiten, bist du ein Idiot! Zeitverluste kannst du dir nun wirklich nicht leisten!“ Aber ich denke auch: „Hör auf! Eine Runde mit ihr schmusen hat dich doch schon manches Mal so aufgestellt, dass es nachher etwas besser gelaufen und dir leichter von der Hand gegangen ist!“

      „Hm-hm“, nickt Judith am Scherengitter eifrig.

      So hebe ich sie zu mir herüber und nehme sie auf den Schoss. Und sie zeigt auf die Schreibmaschine: „Das?“ Und ich gebe ihr das Wort: „Schreibmaschine“. Sie weiss an sich, dass das eine Schreibmaschine ist. Sie will nur überprüfen, ob der Gegenstand noch immer so heisst wie ich ihn gestern schon – und vorgestern und manchen Tag davor auch – genannt habe. Dieses Spiel spielen wir noch mit anderen Gegenständen. Dabei entspanne ich mich zusehends. Schliesslich denke ich, dass ich ja in dieser Woche schon fast fünfzig Stunden gearbeitet habe (der Montag, der Pfarrersonntag, ist mal wieder kein solcher gewesen). Ich kann mir also schon einmal ein paar Stunden für meine Tochter frei nehmen. Ich höre jetzt auf mit der aussichtslosen Arbeit an meiner Predigt. Morgen ist auch noch ein Tag. Vielleicht läuft morgen alles etwas besser. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

      „Was meinst du, Judith, wollen wir ein bisschen spazieren gehen?“

      „Hm-hm“, wieder begeistertes Nicken.

      So packe ich, sehr zum Erstaunen meiner Frau, mitten an einem Predigtfreitag meine Tochter in die Kinderkarre und wir marschieren los. Aus dem Dorf hinaus führt unser Weg vorbei an feuchten Weiden. Was es hier nicht alles zu sehen und zu hören gibt! Hinter einer Hecke ein sanftes Schnaufen, begleitet von einem rupfenden Geräusch. Judith stellt den Zeigefinger der Rechten auf: „Esemuh“, erklärt sie mir mit bedeutsamer Miene, was heisst: Das ist eine Kuh. Und „Miau“ lauert auf der Wiese vor dem Mausloch. „Esegook“ scharrt Würmer aus der Erde oder macht ein Mordgeschrei um das eben gelegte Ei – „Hoich“ (Horch), sagt Judith mit aufgestelltem Zeigefinger. „Vööle“ fliegt in vielfacher Ausfertigung über Weiden und Büsche, zwitschert in den Bäumen: „Hoich, Vööle!“. Ein tiefes Brummen in der Nähe wird als „Wesseps“ (Wespe) identifiziert. Als das Insekt sichtbar wird, ist es eine Hummel und wird von Judith als Biene bezeichnet. „Hummel“, sage ich. „Aha“, sagt Judith. Und hat schon wieder etwas anderes erhorcht und bald einmal auch mit dem Blick erfasst: „Foschla“ (Flugzeug), das hoch über uns seine Bahn zieht. Ich wundere mich darüber, was mein kleines Töchterchen alles so sieht und zwar meist bevor ich es wahrnehme. Das kleine Adlerauge sieht einfach alles überall gleichzeitig. Da muss ich mich voll konzentrieren, wenn ich ihr, ihrem Interesse an allem und ihrem Mitteilungsbedürfnis gerecht werden will. Bei all dem entspanne ich mich. Schultern und Nacken werden wieder geschmeidiger. Der Schmerz lässt nach. Ich geniesse den Spaziergang, der erheblich länger wird als vorgesehen. Jeder Gedanke an meine Predigt ist längst aus meinem Hirn herausgefiltert, hat sich wie Nebel verflüchtigt. Wie schön und frei ist doch das Leben!

      Dann taucht ein befreundeter Kirchgemeinderat (Kirchenvorsteher) auf. Er freut sich, uns Zwei so zufrieden zu sehen. Auf eine Zigarettenlänge (damals habe ich noch geraucht, das ist, Gott sei Dank, lange her) stehen wir beieinander und reden lustvoll über Gott und die Welt und freuen uns gemeinsam über die „Gesprächsbeteiligungen“ der Kleinen, die immer wieder unsere Aufmerksamkeit beanspruchen und erhalten. Dann begegnen wir der Küsterin, einer Berlinerin, die Herz und Mund am rechten Fleck hat. Man kann sehr ernsthaft mit ihr reden. Sie steht mit beiden Beinen mitten drin im Leben. Man kann aber auch sehr viel Spass mit ihr haben, denn sie weiss immer zu allem irgendeinen Spruch, irgendeine träfe (treffende) Bemerkung.


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