Kalte Zukunft. Benjamin Blizz

Kalte Zukunft - Benjamin Blizz


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waren Schadprogramme, die sich im Gegensatz zu Viren nicht reproduzierten und größtenteils absichtlich ins System eingeschleust wurden. Der Virus legte durch seine Vervielfältigung den Computer lahm, der Trojaner operierte dagegen im Hintergrund, indem er Backdoor- oder Spionageprogramme schuf.

      Während Shane den Hinweis gedanklich verarbeitete, wanderte sein Blick zu einer herkömmlichen Pinnwand aus Kork, die an der Wand rechts neben Fritzschs Workstation hing. Die bunten Zettel, teils übereinander gepinnt, erinnerten ihn an einen Baum, was der äußerst kreative Fritzsch mit dieser Anordnung wahrscheinlich auch bezweckt hatte. Es musste schwer für ihn sein, einer verhältnismäßig eintönigen Arbeit nachzugehen, die ihm keine Möglichkeit bot, seine ausgeprägte künstlerische Ader auszuleben.

      Ein roter Zettel in der Mitte des Baums stach aus der Masse hervor. Neben einer Telefonnummer, die Landesvorwahl gehörte zu Kanada, standen wieder einige Notizen:

      Materialversagen unwahrscheinlich. Kabelbrände werden hauptsächlich durch defekte Sicherungen verursacht. Speed Cable Inc. liegen keine Vergleichswerte vor. Sollen Verteilerkästen überprüfen!

      Allmählich dämmerte Shane, wofür man die Nomaden verantwortlich machen wollte und warum Ling von ihrer Unschuld überzeugt war. Erst ein Trojaner-Befall im Computernetzwerk, dann defekte Teile in den PECS-Modulen – das war ganz sicher nicht die Handschrift technikverachtender Wüstenbewohner.

      »Ihr Kaffee wird kalt!« Ertappt zuckte Shane zusammen, fing sich aber sofort wieder und drehte sich mit dem unschuldigsten Lächeln, das er zustande bringen konnte, zu seinem Gegenüber herum. »Oh, ich war ganz in Gedanken. Der Jetlag, wissen Sie?«

      Der junge Sicherheitsmann fixierte ihn aus schmalen, dunkelbraunen Augen. Noch wirkte er lediglich misstrauisch, aber das konnte schnell in Feindseligkeit umschlagen, sobald ihm klar wurde, dass Shane sich unerlaubt Einsicht in vertrauliche Unterlagen verschafft hatte. Höchste Zeit, zu verschwinden!

      Mit einem dankbaren Nicken nahm Shane dem Sicherheitsmann den Kaffeebecher aus der Hand und wandte sich zum Gehen. »Ich werde mich für ein paar Stunden aufs Ohr hauen. Kaffee ist das beste Einschlafmittel.«

      Während er den Rückzug antrat, spürte er den wachsamen Blick des jungen Mannes in seinem Rücken. Ob der Verdacht geschöpft hatte? Shane konnte es nicht mit Gewissheit sagen, aber von nun an musste er sehr vorsichtig sein. Irgendetwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu.

      Kapitel 4

      28. Februar 2023

      Sun City

      Obwohl das Bett bequem, die kalte Dusche erfrischend und das Frühstücksbuffet überwältigend gewesen waren, erfreute sich Shane nicht des Gefühls des Ausgeschlafen-Seins. Gähnend blickte er zu Estella Meinhard hinüber, die soeben mit der Hoteldirektorin Miss Ling und einem Gefolge herausgeputzter Zimmermädchen in Richtung Flughafengebäude verschwand. In Kürze würden die weiteren Gäste eintreffen.

      Als Erstes Thalia Morgan, der weibliche Nachfolgepart Al Gores, wie sie von den Medien genannt wurde. Wie Gore war sie zunächst Politikerin gewesen und hatte sich dann dem Umweltschutz gewidmet. Nun zählte sie zu den weltweit angesehensten Frauen und war zugleich Vorsitzende der Green Earth Foundation und Beraterin zahlreicher renommierter Umweltschutz-Organisationen. Shane freute sich bereits darauf, sie wiederzusehen, dennoch hielt er es nicht für nötig, zum Empfang zu erscheinen.

      Er studierte die weiteren Namen auf der Gästeliste und das geplante Programm. Unter Thalia Morgan standen David Meier, Vorstandsvorsitzender des marktbeherrschenden deutschen Energiekonzerns, Lennard Frank, privater Investor in Begleitung seiner Frau Marie, einige ihm unbekannte Investoren und hochrangige Wissenschaftler sowie William Crosswind, republikanischer Energiepolitiker, der seine Traditionsverbundenheit überwunden hatte und innovativen Technologien nun aufgeschlossen gegenübertrat.

      Vorsichtig nippte Shane an seinem kochend heißen Kaffee. In ihm rumorte es – ein natürlicher Widerwille gegen jedwede Form von Empfängen und Zusammentreffen sogenannter Eliten, denn bei Veranstaltung dieser Art wurde von ihm erwartet, die Gäste zu hofieren und ihnen so viel Ehrerbietung und Aufmerksamkeit zu erweisen, dass sie sich bedeutender fühlten als der Durchschnitt der Menschen. Doch was unterschied sie vom Rest der Bevölkerung? Sie leisteten einen hohen Beitrag, ja, obschon die Auslegung dieses Aspekts natürlich sehr relativ war. Aber leitete sich daraus der Anspruch auf Besserbehandlung ab? Dieses alberne Getue – die heuchlerischen Zusicherungen und die immer gleichen, nichtssagenden Floskeln –, all das versetzte Shane innerlich in Rage.

      Dort, wo der Flyer ein Bild einer PECS-Solarzelle zeigte, erschien nun in Shanes Kopf das Gesicht der jungen Forschungsleiterin. Eine kindliche Schwärmerei sorgte dafür, dass er ihr offenes freundliches Lächeln nicht mehr vergessen konnte. So hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt; allerdings war er sich über seine Gefühle auch nicht wirklich im Klaren. Er musste sie unbedingt besser kennenlernen, andernfalls könnte sie eine Leere in ihm zurücklassen, die er sich wahrscheinlich nie verzeihen würde.

      Eigentlich war es lächerlich! Er hatte sie gerade einmal fünf Minuten mit ihr unterhalten und trotzdem übte sie eine Faszination auf ihn aus, die ihn an die Zeit seiner Jugend erinnerte. Wie hieß es doch so schön: Ein paar Minuten, um jemanden zu mögen, eine Stunde, um sich in ihn zu verlieben – und ein Leben, um ihn wieder zu vergessen.

      Er versuchte, die kreisenden Gedanken in seinem Schädel zur Ruhe zu bringen und widmete sich weiter dem Flyer. Das Programm sah erst für 15:00 Uhr ein erstes gemeinsames Zusammentreffen aller Gäste in der Bibliothek vor. Demnach blieb ihm noch genügend Zeit, um im Pool ein paar Bahnen zu ziehen. Wenn es einen Sport gab, der Shane erfüllte, dann war es das Schwimmen. Das Wasser vermittelte ihm das Gefühl, getragen zu werden; gleichzeitig umhüllte es seinen Körper wie eine wärmende Schutzschicht, die ihn gegen die störenden Einflüsse des Alltags abschottete. In seiner Schulzeit hatte er sogar den ersten Platz der britischen Meisterschaft im Freistilschwimmen bei den unter 20jährigen gewonnen. Aus dem ehemaligen Leistungssport war mit den Jahren jedoch nur noch ein erholsames Hobby geworden. Wie so viele Dinge im Leben, für die er nie die Zeit fand.

      Vom Tisch aus beobachtete er die emsigen Angestellten, die seit dem frühen Morgen förmlich aus allen Löchern gekrochen kamen und sich in Scharen ihren Aufgaben widmeten. Jedes Mal, wenn er so viele arbeitende Menschen sah, musste er unwillkürlich an einen Ameisenstaat denken. Aber was war die Menschheit genaugenommen denn mehr als ein Ameisenstaat?

      Kapitel 5

      »Meine sehr geehrten Damen und Herren, dürfte ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten!«, verschaffte sich Estella Meinhard breit lächelnd Gehör.

      Die in Smalltalk vertieften Gäste wandten sich ihr zu und verstummten in ihren Unterhaltungen.

      »Setzen Sie sich doch bitte!«

      Estella deutete auf die gepolsterten Ledersessel mit rotem Brokat. Shane kippte den letzten Rest Champagner noch halbwegs würdevoll herunter und folgte ihrer Anweisung.

      »Als Erstes möchte ich Sie noch einmal ganz herzlich im Namen von Hawkes Energy und Hawkes Enterprises begrüßen. Mein Name ist Estella Meinhard, aber Sie haben mich ja bereits beim Empfang kennengelernt. Warum Sie alle hier sind, brauche ich Ihnen wohl nicht zu erläutern, da ich davon ausgehe, dass Sie unser Einladungsschreiben gelesen haben – oder zumindest Ihre Sekretärinnen!«

      Zögerliches Lachen breitete sich in der Bibliothek aus.

      »Bevor ich nun weiter auf unser Vorhaben und das Programm der nächsten zwei Tage eingehe, möchte ich Sie noch mit den Projektleitern der Anlage bekannt machen.«

      Zwei Männer in Anzug und eine wenig attraktive Frau gehobenen Alters traten vor. Den einen Mann erkannte Shane als Bill Fritzsch, den Sicherheitschef.

      »Mister Heckler ist der leitende Wissenschaftler des PECS-Kraftwerks und für alle dortigen Aufgaben verantwortlich«, stellte sie den graubärtigen Mann ganz links vor. Die Gäste schenkten ihm einen kurzen Beifall.

      »Danke!«, sagte Heckler verlegen. »Neben dem reibungslosen


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