Der Fremde und die Andere. Friedhelm Zühr

Der Fremde und die Andere - Friedhelm Zühr


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sie seien halbe Analphabeten. Sie könnten wohl Rechnungen lesen, wenn nötig ihre Unterschrift geben oder allenfalls die großen Buchstaben der yellow press lesen, die im Pub herumläge.

      Doch eines Abends klopfte es an seiner Kammertür. Er öffnete. Fiona stand da im weißen Pyjama, engelsgleich, fand er, das rote Haar wirkte wie ein Lichtkranz über ihren Schultern.

      Sie gab ihm lächelnd ein altes, dickleibiges Buch im braunen Ledereinband.

      Die Bibel habe sie in einer Truhe im Keller gefunden, alter Familienbesitz, fügte sie hinzu und verschwand. Warum bleibt sie nicht? dachte er.

      Dennoch freute er sich. Er blätterte in der Bibel.

      Sie war alt, sehr alt, Mitte des 17. Jahrhunderts, aus der Zeit, in der die Truppen Oliver Cromwells in der Stadt Droheda unter den irischen Katholiken wütete. Vorfahren des Onkels hätten sie wohl gerettet, vermutete er.

      Der Fremde stutzte. Textpassagen aus dem Alten Testament, in denen von der Sintflut berichtet wird, waren am Rande mit dicken Ausrufezeichen versehen.

      Natürlich, der ewige Regen hier im Nordwesten, dachte er. Gab es nicht hier vor einem knappen Menschenalter eine verheerende Springflut?

      Die Männer der Farm hatten mit den Unkenrufen, ein Unwetter sei im Anmarsch, recht behalten.

      Zunächst wurde es heiß und stickig, es war kaum auszuhalten.

      An seiner Schreiberei war nicht zu denken. Er konnte keinen ernsthaften Gedanken für seine Doktorarbeit zum Ende führen. Hier und da stilistische Korrekturen, allenfalls Ergänzungen im Quellenverzeichnis, das war alles.

      Und da setzte das Unwetter ein!

      Ein Blitz schlug mit solcher Kraft in eine nahe Eiche ein, dass das Haus erschütterte.

      Und starker Regen trommelte auf die Dächer.

      Man – der Farmer, die zwei Söhne, Fiona und der studierte Stadtmensch – traf sich spontan und doch ziemlich beklommen in der Küche, spottete jeweils über die anderen, sie seien Angsthasen. Und man wurde ungewöhnlich redselig, mit Gewittern kenne man sich aus, man habe sie alle überstanden, solange man noch darüber reden könne, ha, ha …

      Eine Whiskeyflasche machte die Runde. Es wurde recht lustig an jenem Abend, man trank, rauchte, schwatzte und ging erst spät ins Bett. –

      Doch es regnete unaufhörlich: tagelang, nun schon zwei Wochen.

      Die dritte Regenwoche begann.

      An eine Arbeit draußen war nicht mehr zu denken, die Schafe blökten im Stall, der Hof war aufgeweicht, die Wege schlammig, Wasserlachen, der Busverkehr wurde eingestellt.

      Mit dem Auto kam man nur noch schwer durch – bis dann gar nichts mehr ging.

      Nun saß man immer häufiger abends in der Küche, trank, lachte; ein Lachen, das gar nicht mehr so fröhlich klang.

      Melancholie, Traurigkeit schlichen sich ein, Stimmungen, die ohnehin hier oft zu Besuch waren, nun wurden sie Stammgäste. Abend für Abend. Man saß herum und tat nichts. Man starrte auf einen Punkt, den es anscheinend nur für sie gab.

      Erinnerte man sich an die gewaltige Springflut vor mehr als einem halben Menschenalter?

      Sie verschlang dutzende Gehöfte, zerstörte unzählige Existenzen. Entsetzlich.

      Jahre her. Die Zeit heilt alle Wunden? Natürlich nicht.

      Die Angst, ein namenloses Grauen, blieb in den Schädeln der schweigsamen Männer.

      Die Langeweile schlich sich immer bedrohlicher heran, sie hatte bald alle im Griff.

      Was sollte man auch tun den langen Tag lang? Der verdammte Dauerregen hatte sie eingesperrt wie die Schafe drüben im Stall. Ja, sie glichen einer Herde trübsinniger Schafe.

      Und wenn sie ihre Schädel erhoben, sahen sie seltsamerweise den studierten Stadtmenschen an. Was erwartet man von ihm?

      Eine Unterhaltung, ein Spielchen, um die Zeit zu vertreiben, um die Ecke zu bringen, totzuschlagen? Schrieb er nicht über Faultiere, diese Zeitterroristen? Wusste er einen Ausweg, gar eine Erlösung? Könnte doch sein. Der Fremde war ratlos. Was wollen sie von mir? Er wusste es nicht. Er spürte lediglich einen Erwartungsdruck, unbestimmt, namenlos.

      Endlich war ihm eine Idee gekommen: Die alte Bibel.

      Am nächsten Abend brachte er sie mit, zeigte sie dem Farmer. Der nickte nur, er zeigte keine Überraschung. Der Fremde las aus ihr vor. Zu seinem Erstaunen hörten ihm alle zu, langweilten sich anscheinend nicht, sie ließen es sich zumindest nicht anmerken.

      Sie schwiegen, starrten ihn an, die Blicke auf seinen Mund gerichtet – und hörten zu.

      Er las über die Sintflut, über die Arche Noah, auf der sich bekanntlich allerhand Tiere – auch Schafe – drängten. Textpassagen, die einst ein Vorfahr mit dicken Ausrufezeichen versehen hatte.

      Und draußen trommelte der Regen gegen die Fensterscheiben. Geschichten, die er immerfort wiederholen musste. Und der Regen war die monotone Begleitmusik dazu.

      Zunächst wunderte er sich. Warum faszinierten sie gerade diese Geschichten?

      Nur weil es regnete? Erst als er aus dem Neuen Testament vorlas, ahnte er es.

      Er las aus dem Evangelium des Markus, über Jesus Christus, der sich in Golgatha kreuzigen ließ.

      Am Erlöserkreuz. Na, eben die altbekannte Geschichte, seit Jahrhunderten erzählt.

      Aber dieser Passagen fanden besonderes Interesse, ja Zustimmung.

      Die Männer nickten versonnen vor sich hin.

      Die Kreuzigung, die Erlösung, die Kreuzigung, die Erlösung, murmelten sie dumpf vor sich hin.

      Dumpf geworden vom Whiskey, von der Langeweile, von der Trostlosigkeit um die Farm herum, die in der alttestamentarischen Sintflut unterzugehen drohte.

      Ja, und gerade an jenem Abend waren alle Schafe in den Ställen jämmerlich ertrunken, eine Holzwand hatte dem Druck der Wassermassen nicht standgehalten, die Schleusen waren gleichsam gebrochen. Ihre Existenz vernichtet. Sie sahen keinen Ausweg mehr.

      Es wurde kein Wort mehr gewechselt. Nur noch stumme Blicke.

      Irgendwas mussten sie planen! Dem Fremden wurde es allmählich nicht geheuer.

      Irgendetwas stimmte nicht. Braute sich da etwas zusammen?

      Die Stimmung war unbestimmt, unerklärlich, namenlos und dadurch gefährlich.

      Er spürte es, war beklommen, ein ungutes Gefühl, gelinde gesagt.

      Am nächsten Abend las er wieder vor, stockend, immer wieder sich verhaspelnd.

      Schließlich meinte er, es ginge ihm nicht gut.

      Und die Männer nickten. Er spürte dankbare Blicke. Doch sie beunruhigten ihn.

      Er ging in seine Kammer. Nur kurz wechselte er mit Fiona Blicke.

      Sie war blass, wirkte verstört, sie hatte längst kein Wort mehr gesagt, von Heiterkeit oder gar Spott keine Spur. Sie sagte nur leise, sie müsse nun auch schlafen gehen.

      Um Mitternacht klopfte es leise an der Kammertür des Fremden. Er wunderte sich, doch schon etwas ängstlich öffnete er.

      Fiona. Im weißen Pyjama, das rote Haar hing wirr auf die Schultern.

      Sie zog sich aus. Der Fremde bemerkte eine silberne Kette mit einem Kreuz um ihren Hals. –

      Sie verbrachte die ganze Nacht mit ihm, nackt, sich anschmiegend wie eine Katze, noch unschuldig.

      Gerade mal 16 oder 17 Jahre alt. Er hatte schon mit einigen Frauen geschlafen. Keine mit grünen Augen wie ihre. Der Blick.

      Wie eine Katze, die rätselhaft Menschen ansieht, seelenruhig,


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