Falidal und die verlorenen Farben. Rainer M. Osinger
ganz oben ist«, rief dieser begeistert, denn er liebte es, auf Bäume zu klettern.
Und schon bald waren die beiden gemeinsam am obersten Wipfel des riesigen Baumes und sahen in der Ferne das weite, große, unglückselige und farblose Land.
Von irgendwoher konnte man das Klopfen eines Spechtes hören. Sanft blies ihnen der Wind um die Ohren und brachte herrlich frische Luft mit sich.
Dort oben, in den Wipfeln der Bäume, dachte Falidal oft über Farlo nach, und darüber, warum in Farlo das Leben so grau und eintönig war. Wodurch die Bürger im Lande wohl so kalt und freudlos geworden waren?
Der alte Farbenfreund
Eines Tages traf Falidal einen eigenartigen und seltsamen Mann, den uralten Farbenfreund namens Lefa.
Es war an einem warmen und windigen Nachmittag.
Lefa – sein Name bedeutet lebendige Farben – hatte eine sehr positive Ausstrahlung. Er war wie Falidal ein Außenseiter in Farlo. Und Lefa war sehr freundlich, warmherzig und gütig zu dem kleinen Mädchen. Auch Lefa war bunt und farbig.
Falidal stand vor dem alten Mann und starrte ihn wohl ziemlich verwundert an.
»Na, was denkst du?«, brummte da der Alte und sah ihr in die Augen.
»Du siehst sonderbar aus«, stellte Falidal fest.
»So, und warum?«, fragte Lefa.
»Weil du genauso anders aussiehst, wie ich es tu.«
»Mhm!«, brummte der Alte, wobei ein kurzes, freundliches Lächeln über sein verwittertes Gesicht huschte. »Und was hast du sonst noch bemerkt?«
»Seit wann sind denn eigentlich alle so grimmig und traurig?«, fragte sie den alten Mann, während sie im Park auf einer Bank saßen und die Vöglein ihnen neugierig Gesellschaft leisteten und aufgeregt um sie herumflatterten.
»Seit es in Farlo keine Farben mehr gibt!«, antwortete der alte Mann.
»Keine was?«
Es war Falidal etwas unangenehm, dass sie gar nichts über Farben wusste. Lefa tat jedoch so, als wäre es ganz normal, darüber Bescheid zu wissen. Aber woher sollte sie auch etwas darüber wissen, kein Erwachsener hatte ihr je davon berichtet. Deshalb fragte sie nochmals völlig unwissend: »Es gibt keine was mehr?«
»Na, keine Farben.«
»Was sind denn Farben?«
»Du weißt es also auch nicht, du weißt tatsächlich nicht, was Farben sind? Das solltest du aber, mein Kind, das solltest du. Farben sind eigentlich bloß die unterschiedlichen Töne, die durch das Licht hervorgerufen und mit unserem Auge wahrgenommen werden. Aber Farben sind in Wahrheit noch viel mehr, musst du wissen. Es sind vielfältige, wunderbare Abstufungen und Tönungen, die das Leben zu etwas ganz Besonderem gemacht haben. Verstehst du, was ich meine?«
»Hm, ja, ich glaube schon.«
»Farbe muss wahrgenommen, gesehen, aber auch mit der Seele gefühlt und verstanden werden, weißt du, und um wirklich zu leben, muss man sie spüren und gewissermaßen in sich aufnehmen – nur haben die Lelos diese Fähigkeit schon fast ganz verloren. Sie sind eintönig und gleichförmig alle schwarz-weiß geworden. Nicht nur äußerlich, sondern vor allem eben auch in ihrem Denken und Handeln. Bis auf einige wenige«, meinte der Alte ernst.
»Sie tragen die Farbenvielfalt nicht mehr in ihrem Herzen. Denn die wahre Buntheit des Lebens ist mit dem natürlichen Auge gar nicht zu sehen. Diese Buntheit und unendliche Farbenpracht kannst du nur mit dem Herzen erfassen und erleben. Und dazu muss so wie bei den Farben Licht in deinem Herzen sein. Damals, als es noch vollkommen anders war in Farlo, hieß unser Land auch noch ganz anders, es hat Bulevie geheißen.«
»Ja wirklich, Bulevie? Das klingt aber lustig«, meinte das Mädchen vertrauensvoll.
»Ja, es bedeutet ›Buntes Leben der Vielfalt‹.«
»Oh, wie schön, warum heißt es denn nun nicht mehr so? Und wieso haben wir denn in der Schule davon gar nichts gelernt? Niemand hat mir bisher davon erzählt!«
»Ja, seit Idolos herrscht, hat er dem Land auch den neuen Namen ›Farlo‹ gegeben. Farlo heißt nämlich nichts anderes als Farblosigkeit. Und das ist es, was er erreichen wollte. Und er hat es auch schon beinahe ganz geschafft. Alle Bücher, Bilder und Erinnerungen über Bulevie hat er verbrennen lassen. Und die alten Leute, die noch davon wussten, sind inzwischen fast alle verstorben. Wer noch immer von den Farben wusste und über sie sprach, wurde einfach verhaftet und in den Kerker geworfen und so zum Schweigen gebracht.
Er wollte das ganze Land unter seine Macht und seinen Gedankeneinfluss bringen und alles ganz einheitlich, farblos und damit auch leblos und gleichförmig machen. Er verabscheut die Vielfalt und Verschiedenartigkeit des Lebens und der unterschiedlichen Menschen. Immer mehr wurden die Lelos in den Bann aus Macht, Gier und Geiz gezogen. Und sie bemerkten nicht, wie unfrei und eigentlich arm sie trotz ihres vielen Geldes und Wohlstandes waren.
Zuerst wollte er alle Menschen gleich machen und dann mehr und mehr ihr Denken schablonenhaft vereinheitlichen.
›Du brauchst mehr und noch mehr, was du hast, ist bei Weitem nicht genug! Du musst besser sein und noch besser, du musst schöner sein und noch schöner, du musst reicher sein, du musst schneller sein, du musst klüger sein als alle anderen.‹
So wie man war, war es eben nie genug. So ging es zuerst in nur einigen Köpfen und dann glaubten diese traurigen Unwahrheiten immer mehr Lelos … Und damit konnte sich dann das ganze törichte Schwarz-Weiß-Denken leicht verbreiten.«
Lefa erzählte der aufmerksamen Falidal innerlich bewegt weiter: »Und mit jeder geglaubten Lüge verschwanden in jedem einzelnen Lelo-Herzen mehr und mehr auch die Farbe und Freude und damit die schöne Vielfalt des Lebens in Farlo. Bis zu guter Letzt fast das ganze Land nur noch eintönig und völlig farblos und grau war. Alles Bunte war verschwunden, verstorben und aus dem Lande vertrieben. Auch alle Fremden und Andersartigen waren fort.
Nun ist es schließlich so weit, dass die Lelos, die heute existieren, beinahe alle schon glauben, dies sei ein ganz normaler Zustand.
Kaum noch einer kennt die Farben wirklich. Und kaum jemand interessiert sich für die unglaubliche Vielfalt, die die Farben mit sich bringen. Für die meisten Bürger Farlos ist selbst das Wort ›Farbe‹ inzwischen ein absolutes Fremdwort geworden.
Dieser traurige und bedrückende farblose Zustand ist aber ganz und gar nicht normal! Oh nein – wir sollten normalerweise glücklich, lebendig, farbenfroh und auch vielfältig in unserem Denken sein. Und ganz einfach bunt und verschieden in unserer Art und unserem Aussehen!
Weißt du, was die größte Freiheit ist?«, fragte der Alte das Mädchen. »Die größte Freiheit, die es überhaupt gibt, ist es, zu lieben. Und das ist letztlich auch unsere Bestimmung!
Doch wir Bulevieaner wurden immer bedrückter. Wenn wir das, was wir glaubten, auch noch taten, was ja unweigerlich geschehen musste, dann wurde es ganz schlimm. Wir haben mehr und mehr aufgehört zu teilen und zu lieben. Aufgehört barmherzig und mitfühlend zu sein. Die Fremden ließen wir nicht mehr herein in unser Haus und auch nicht in unser Land, wenn sie Zuflucht und Hilfe brauchten, vor lauter Angst, wir müssten von unserem Überfluss etwas weggeben und mit anderen teilen.«
Falidal standen die Tränen in den Augen.
»Den Armen und Hungernden verschlossen wir unser Herz, den Andersartigen gingen wir aus dem Weg und mieden sie. Die beeinträchtigten Mitmenschen schloss man mehr und mehr aus der Gesellschaft aus. Jeder war nur noch auf seinen eigenen Vorteil bedacht und strebte gierig für sich selbst. Keiner interessierte