Ehrenmord ist kein Aprilscherz. Manfred Eisner
für ein zeitgemäßes Smartphone entscheiden, das Hin-und-her-Geschiebe mit dem Finger auf dem Display ist mir einfach zu blöd!). Dann fragte ich Herrn Junker, ob sich womöglich jemand von seinen deutschen Kollegen für den Wagen interessiert habe. Junker aber konnte sich nach so langer Zeit nicht mehr an diesbezügliche Details erinnern. Wenn es so gewesen sei, müsse ein solcher ebenfalls auf der Liste der Interessenten aufgeführt sein. Ein kurzer Blick darauf ergab, dass dies offensichtlich nicht der Fall war. Die wenigen, die sich für die alte Karre interessiert hatten, waren dem Namen nach Polen, Ukrainer oder Nordafrikaner. Als ich ihn darum bat, willigte der nette Herr Junker freundlicherweise ein, die gesamte Akte für uns zu kopieren. Ich bot an, diese später abzuholen, aber er sagte entgegenkommend, er müsse heute Nachmittag sowieso in die Stadt und würde sie für mich bei der Polizei deponieren. Wir dankten dem Verkaufsleiter für seine bereitwillige Hilfestellung und fuhren zurück in die Inspection de Police am Markt. Javier hatte eine zündende Idee, als er während der Fahrt dem Kollegen Lindemans vorschlug, die Anmelderegister sämtlicher Hotels in Bütgenbach und Umgebung nach deutschen Gästenamen, die in der Zeit um den 7. Juni und den 17. Oktober vor zwei Jahren hier übernachtet hätten, zu durchforsten. Dieser war inzwischen ein wenig lockerer geworden, als er einsah, dass wir durch den erneuten Besuch beim Händler doch auf neue und sehr interessante Indizien gestoßen waren. Er meinte, er würde sich gleich nach dem Mittagessen zusammen mit seinem Mitarbeiter, dem Agent de Police Charles Seervais, ans Werk machen. Javier schlug vor, dass auch er und Piter mitmachen würden und die vier sich für die Suche in etwa einem Dutzend der infrage kommenden Beherbergungsbetriebe aufteilen könnten. Der Inspecteur Principale de Police Stefan Breitkopf, stellvertretender Inspektionsleiter, informierte uns, dass sein Chef Mijnheer Lejoly zur föderalen Polizeizentrale nach Vottem bei Lüttich gefahren sei, um sich persönlich um die Identifizierung des Smith-&-Wesson-Revolvers zu kümmern. Man habe ihm bereits einen ersten wichtigen Hinweis über eine mögliche Herkunft der Waffe mitgeteilt und Lejoly wolle diese Spur mit Druck persönlich verfolgen. Zum Lunch gingen wir in eine typische Frietkraam, wie man in Belgien die Frittenbuden bezeichnet, mit dem Namen Le Pub, wo neben den traditionsgemäßen Pommes mit Mayonnaise ebenso leckere Burger auf der Speisekarte stehen. Dazu gab es ein lokales Muss: einen randvollen Humpen eines süffigen belgischen Bieres. Während die vier Kollegen sich auf die Pirsch nach eventuellen deutschen Besuchernamen in die Hotels der Umgebung aufmachten, studierten Margrit und ich nochmals die Kopien aus der Firmenakte, die Verkaufsleiter Junker inzwischen ins Kommissariat gebracht hatte. Wir nutzten die Zeit, um einen umfassenden Bericht über die neuen Erkenntnisse zu tippen, die wir den Daten unserer eigenen Akte gegenüberstellten. Dann mailten wir das Ganze als PDF-Anhang an Staatsanwalt Pepperkorn mit Kopien an Waldi und unser Büro. Als wir damit fertig waren, erschien Mijnheer Inspecteur Lejoly und legte uns die Tatwaffe sowie einen ausführlichen Ballistikbericht der Police Fédérale á Liège (Lüttich) vor. Anhand der Waffennummer und mittels eines damit abgeschossenen Projektils hatte die dortige Kriminaltechnik die Herkunft des Revolvers eindeutig identifiziert: Sie gehörte ursprünglich einem ehemaligen Kolonialbeamten im belgischen Congo, das 1960 unabhängig wurde. Die Waffe (Revolver Modell K-22-LR 18-3 – Combat Masterpiece; Hersteller: Smith & Wesson, USA, Seriennummer 55K22MPLR8976, Baujahr 1955) wurde 1962 auf einen der Söhne des Beamtenehepaars Van der Velde überschrieben, als dieser sich mit seinen Eltern in der Stadt Gent niederließ. Dieser Gaston Van der Velde meldete die Waffe im Jahre 1999 nach einem Einbruch in sein Haus als gestohlen. Sie trat erneut in Erscheinung, als im Juni 2002 ein Wachmann der Banque Nationále de Belqique in deren Filiale in Hasselt bei einem bewaffneten Überfall mit dieser mehrfach angeschossen und schwer verwundet wurde. Der Täter wurde zwar einige Wochen später gefasst, der Revolver galt aber seitdem als verschollen. Ich setzte eine Mail an Ferdl in Kiel mit diesen Daten ab und bat ihn, mal im Darknet nach der Waffe zu surfen. Es ist ja bekannt, dass inzwischen viele Täter sich dieser obskuren Quelle bedienen, um unbekannt an eine Mordwaffe zu gelangen.
Inzwischen war Javier von der Erkundungstour als Erster wieder zurück, allerdings ohne positives Ergebnis. Wir sahen uns gemeinsam den ballistischen Bericht noch einmal genauer an. Ich fragte, ob man vielleicht irgendwo den Namen des Schützen erfahren könne. Javier überlegte kurz und bat Lejoly um Erlaubnis, einen seiner Computer benutzen zu dürfen. Er ging auf die Suche nach der Akte des damaligen Banküberfalls. Als er fündig wurde, rief er Margrit und mich aufgeregt an den Bildschirm. Erstaunt jubelte er auf Spanisch: »Pura vida! Unglaublich, Nili, wie konntest du das ahnen?« Dabei zeigte er auf den Namen eines der drei bewaffneten Täter, die die Filiale gestürmt hatten: Mohammad ibn-Seif, ein damals fünfzigjähriger Marokkaner, als berufslos und im Brüsseler Bezirk Molenbeek wohnhaft eingetragen, war derjenige, der den Wachmann lebensgefährlich angeschossen hatte. Er war dafür zu sechs Jahren und drei Monaten Haft verurteilt worden, hatte seine Strafe abgesessen und war inzwischen entlassen worden. »Ihr werdet es kaum glauben«, sagte Javier jetzt auf Englisch, »aber ich fand zufälligerweise genau diesen Namen – und sogar zwei Mal – auf der Gästeliste des Hotels Bergerac, etwa zwei Kilometer außerhalb der Stadt. Ich habe dem natürlich keine besondere Beachtung geschenkt, suchten wir doch nach deutschen Namen. Aber jetzt erkannte ich diesen sofort wieder!«
»Das Kompliment geht an dich zurück, mein lieber Javier!«, lobte ich ihn begeistert auf Spanisch. »Prima, dass du ein solch gutes Gedächtnis hast! Gute Arbeit, pura vida!«
Er rief gleich Piter auf dem Handy an und Inspecteur Lejoly ebenfalls, um seine beiden Leute zurückzubeordern. Lejoly ordnete schließlich seinen Stellvertreter, INPP Breitkopf, an, uns in ihrem Dienstwagen zum Hotel Bergerac zu fahren. Zusammen mit Javier und Margrit verlangten wir nochmals Einsicht in das Gästeregister, das uns der Concierge Monsieur Palmier bereitwillig vorlegte. Da stand er tatsächlich: Mohammad ibn-Seif, 59 Jahre alt, geboren in Safi, Marokko, wohnhaft 28, Rue de Cheval Noire im Ortsteil Sint Jans-Molenbeek im Westen Brüssels. Zu seinem ersten Aufenthalt vom 6. bis zum 7. Juni vor zwei Jahren war er in Begleitung einer zweiten, namentlich nicht registrierten Person angereist. Monsieur Palmier hatte den Gast empfangen und ihn sich eintragen lassen, den zweiten allerdings erst am nächsten Morgen im Frühstücksraum bemerkt, kurz bevor die beiden wieder abreisten. Ja, jetzt, da wir nachfragten, erinnerte er sich daran, dass sie in einen grünen Kombi mit deutschem Kennzeichen eingestiegen waren, der an seiner Kupplung einen Anhänger zog, auf dem sich ein zweiter Wagen befand. Das passte haargenau zu dem Termin, an dem Uwe Wilkens den Renault Mégane an das Autohaus Stolzen verkauft hatte. Bei seinem zweiten Besuch, der vom
15. bis zum 17. Oktober des gleichen Jahres stattfand, hatte Palmier diesen Gast wiedererkannt und sich durch gezielte Befragung vergewissert, dass er diesmal allein angereist war. Allerdings war ibn-Seif wohl ohne Wagen gekommen. Zumindest konnte sich Monsieur Palmier nicht entsinnen, einen solchen gesehen zu haben. Nachdem wir mit diesen bedeutenden Ergebnissen in die Inspektionswache am Marktplatz zurückgekehrt waren, rief Inspecteur Lejoly den Leiter der Brüsseler Föderalen Kriminalpolizei in der Rue Royale im Ortsteil Molenbeek an, den er persönlich kannte. Dieser leitete unmittelbar eine Suchmeldung betreffend Mohammad ibn-Seif ein und versprach, seine ›Opsporing Afdeling‹ (Abteilung für Vermisstensuche) würde sich melden, sobald sie etwas erfahren hätten. Der hilfsbereite Bütgenbacher Polizeiinspektor sagte zu, diesen an meine Dienststelle weiterzuleiten.
Margrit und ich bedankten uns sehr bei all den Kollegen, die uns derart wirksam unterstützt hatten, und ich wollte sie – bevor wir am nächsten Tag unsere Rückreise antreten würden – alle zu einem typisch flämischen Abendessen einladen. Ich bat den Herrn Inspektor, einen Tisch in einem guten Restaurant zu reservieren.
Also verbrachten wir einen sehr vergnüglichen Abend in einer gediegenen und gemütlichen Gaststätte, die in einem urigen Gebäude mit einer alten und schön gestalteten Steinfassade untergebracht war. Wir betraten das Lokal über eine zweiseitig begehbare Außentreppe, die mich an ähnliche Hochparterreeingänge an einigen Gebäuden an der Gracht Am Fleeth in der Glückstädter Innenstadt erinnerte. Man servierte uns in einer Scheibe Kochschinken eingewickelten und im Backofen gratinierten Chicorée als Vorspeise sowie den sehr schmackhaften und reichhaltigen Gentse Waaterzoi Kip, einen traditionellen flämischen Eintopf, wobei der ehemalig darin enthaltene Fisch heute üblicherweise durch Hühnerfleisch ersetzt wird. Nach dem Essen fragte ich, ob mir jemand die Rezepte für diese Gerichte verraten könne. Meine