Sturmzeit auf Island. Susanne Zeitz
sieht aus wie eine Vogelscheuche, denkt er und versucht, die lieblosen Gedanken zu verdrängen. „Von wem sprichst du denn?“
„Von Elin natürlich, von wem denn sonst.“
„Würdest du dich vielleicht setzen und mir in aller Ruhe erzählen, um was es eigentlich geht?“ Hoffentlich ist sie bald fertig. Er möchte endlich an seinem Kapitel weiterschreiben. Er kämpft seinen Ärger nieder und ringt sich zu einem freundlichen Lächeln durch.
Kristin lässt sich in den schweren Ledersessel vor seinem Schreibtisch fallen. Wann hat sie hier zum letzten Mal gesessen und hat sich von Carl aus einem neuen Kapitel vorlesen lassen? Merkwürdig, dass gerade jetzt dieser Gedanke auftaucht. Sie verscheucht ihn ohne Antwort wie ein lästiges Insekt. Daran ist nur Elin schuld! Kaum ist sie wieder auf der Insel, schon mischt sie sich in ihr Leben ein. „Aber Elin ist doch gar nicht auf Island“, entgegnet ihre innere Stimme leise.
„Elin ist wieder da, das heißt nicht sie selbst, sondern ihre Tochter. Auf jeden Fall sieht sie Elin sehr ähnlich.“
Carl schaut sie an. Seine rechte Augenbraue hebt sich ein wenig.
Kristin spürt, wie Hitze in ihr aufwallt. „Du glaubst mir nicht, das sehe ich dir an!“
„Lass uns nicht streiten, erzähl einfach.“
„Ich habe mich heute mit Anna getroffen, du weißt schon, mit meiner Freundin aus Deutschland.“
Carl nickt und versucht, die Ungeduld zu unterdrücken.
„Wir sind ins Café gegangen und da habe ich sie gesehen. Elin in junger Ausführung. Dieselben roten Haare, die grünen Augen und so weiter. Da gibt es keinen Zweifel! Es muss ihre Tochter sein. Ich habe gedacht, mich trifft der Schlag.“ Kristin holt tief Luft. „Ich habe heute Morgen schon gespürt, dass etwas Dunkles in der Luft liegt.“ Sie fuchtelt wild mit den Händen.
„Hast du sie angesprochen?“
„Was? Spinnst du? Ich will mit Elin und ihrer Brut nichts zu tun haben. Sie hat schließlich unser Leben zerstört. Auf was für Ideen du kommst! Ansprechen, ha!“ Kristin wirft ihrem Mann einen funkelnden Blick zu und schüttelt aufgebracht den Kopf. „Es darf niemand erfahren, dass sie auf der Insel ist. Hörst du? Niemand! Versprich mir das!“ Sie greift über den Schreibtisch nach Carls Arm und drückt ihn fest. Wie muskulös und stark er ist. Eine leise Sehnsucht erfüllt sie.
Carl schüttelt ihre Hand unsanft ab. „Du meinst Steinunn und Soley, nicht wahr?“ Seine Stimme ist schneidend.
Kristin zuckt kurz zusammen, dann richtet sie sich kerzengerade auf. „Genau, die meine ich. Sonst geht alles wieder von vorne los. Sie gehört nicht mehr in unser Leben, hat eigentlich noch nie zu uns gehört.“
„Du machst mich krank mit deiner ewigen Eifersucht und mit deinem Hass auf deine Schwester.“
„Stiefschwester“, korrigiert sie ihn sofort.
„Du hast unser ganzes Leben damit vergiftet.“ Er spricht leise, mehr zu sich selbst: „Und ich kann und mag nicht mehr.“
„Wie meinst du das? Schließlich war sie es, die Unglück über uns alle gebracht hat.“ Ihre Stimme klingt schrill. „Was machst du da?“
Carl antwortet nicht, sondern greift zum Telefon.
„Wen rufst du an?“
Carl schüttelt unwillig den Kopf. „Hallo Soley“, sagt er stattdessen mit seiner ruhigen, dunklen Stimme.“
Kristin macht Anstalten, ihm das Telefon zu entreißen.
„Wage es ja nicht“, zischt er.
„Soley, Kristin hat heute höchstwahrscheinlich Elins Tochter in Reykjavik gesehen.“
Am anderen Ende herrscht für einen Moment Stille.
„Soley, bist du noch dran?“
„Was sagst du da? Ihre Tochter? Kommt sie hierher? Soll ich es Mutter sagen?“ Soley sprudelt wie eine Mineralquelle.
„Wir wissen nicht, wo sie abgestiegen ist, ob sie es überhaupt ist. Kristin hat sie leider nicht angesprochen. Sag also Steinunn noch nichts davon. Sie würde sich nur unnötig aufregen.“
„Sie hat sie einfach gehen lassen, ohne sie anzusprechen?“ Soley ist fassungslos.
„So ist es. Immer das alte Lied“, seufzt Carl.
„Dann werden wir sie also nicht treffen?“ Soley klingt geknickt.
„Ich weiß es nicht, doch ich habe da so eine Idee“, verkündet Carl und zuckt zusammen, als Kristin die Tür hinter sich zuschlägt. Dann weiht er seine Schwägerin in seinen Plan ein.
Kristin lässt sich in ihrem Zimmer schluchzend auf ihr Bett fallen. Angst, Hass, Verunsicherung und Eifersucht erfassen sie wie eine mächtige Welle und tragen sie mit sich fort. Als sie wieder an Land geschwemmt wird, übernimmt die kleine Kristin die Führung.
KAPITEL 5
Akureyri 1963
Der Sturm heult um das rote Holzhaus und rüttelt an den geschlossenen Fensterläden.
Kristin rekelt sich behaglich in ihrem Bett. Es ist dunkel in ihrem Kämmerchen wegen der geschlossenen Holzläden, aber auch wegen des Novembers, der das Tageslicht immer mehr verdrängt.
„Die Sonne scheint jetzt in Afrika und wärmt die Löwen“, so hat es ihr die alte Saga, ihre Oma, erklärt und die muss es ja schließlich wissen.
Kristin spitzt die Ohren. Unten in der Küche werkelt die Magd. Sie heizt sicher den großen Herd an und schiebt die Brötchen hinein. Die Treppe knarrt und ächzt. Sagas schwere Schritte kommen langsam nach oben. Sie öffnet die Tür zur Elternkammer und tritt ein. Die tiefe, rauchige Stimme der Oma mischt sich mit der hellen, jugendlichen von Kristins Mutter. Kristin lächelt in sich hinein, als sie an den dicken, runden Bauch der Mutter denkt. Da ist ihr Bruder Olaf drin und der kommt nun bald heraus und liegt dann wie das Jesuskind in der Krippe.
Sie freut sich auf das Brüderchen, auf Weihnachten und auf den neuen Pullover. Sie hat im Sommer gesehen, wie die Oma fleißig die Stricknadeln in ihren knochigen Händen bewegte, am Abend, als Kristin eigentlich schon hätte im Bett sein sollen. Sie musste aber noch einmal auf das Klohäuschen und da sah sie durch den Spalt der Stubentür, wie die Großmutter das Strickteil der Mutter zeigte und sagte, dass es für sie, Kristin, sei.
Schnell schlüpft Kristin in die bereitgelegten Kleider, bindet sich das Schürzchen um und geht zur Mutter.
Hekla blickt ihre Tochter zärtlich an, als diese sich bückt, um einen Wollschal aufzuheben. „Bald ist es soweit“, meint sie und ein Lächeln zieht sich über ihr bleiches, aufgequollenes Gesicht und nimmt ihren blauen Augen für einen kurzen Moment die Müdigkeit der letzten Wochen.
Sie sieht aus wie der große Walfisch, den die Fischer gestern an Land gezogen haben, denkt Kristin grinsend und schmiegt sich an den dicken Bauch der Mutter. „Woher weißt du, dass es ein Junge wird? Vielleicht kommt auch ein Mädchen.“ In ihrer Stimme schwingt Hoffnung mit.
Die Mutter lacht. „Die Elfenkönigin vom großen Lavahügel hat es der Saga verraten. Aber ich vertraue dir ein Geheimnis an. Über so ein liebes, kleines Mädchen, wie du es bist, würde ich mich auch sehr freuen.“ Sie streicht ihrer Tochter zärtlich über den Kopf und flicht mit raschen Fingern deren aschblonde Haare zu einem Zopf.
„Jetzt lass uns runtergehen. Das Frühstück ist sicher schon fertig.“
Leicht hüpft Kristin die Treppe hinunter. Hekla folgt ihr langsam und bedächtig.
In der Küche haben sich bereits alle um den schweren Holztisch versammelt. Der Bauer, die zwei Knechte, die Oma und die Magd. Schnell nimmt Kristin neben ihrer Großmutter Platz, während sich Hekla schwer auf den Stuhl neben ihrem Mann Magnus