Sturmzeit auf Island. Susanne Zeitz
anfühlt. Spitz und schmerzhaft. Julia zuckt zusammen. Ein graugrünes Augenpaar scheint Laserstrahlen in ihre Richtung zu schleudern. Was ist denn los? Ist sie gemeint? Aber warum?
Julia wendet sich ab, tut so, als ob sie in ihrem Reiseführer lese und mustert die Frau verstohlen aus den Augenwinkeln. Das Klischeebild einer Gouvernante Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts. Graubraune Klamotten, streng aus dem Gesicht gekämmte graue Haare, sicher als Dutt am Hinterkopf zusammengedreht. So Anfang siebzig, schätzt Julia, obwohl, sie könnte auch erst um die sechzig sein.
Die Frau wendet ihr hageres Gesicht nun ihrer Begleiterin zu, sagt irgendetwas, worauf auch diese nun zu Julia herüberschaut.
Julia spürt, wie Ärger in ihr aufsteigt.
So ein unmögliches Benehmen. Wenn es um ihre auffallende Erscheinung geht, dann soll sie halt wegschauen. Julia ist daran gewöhnt, die Blicke wegen ihrer leuchtend roten Haare auf sich zu ziehen, doch sind diese meist bewundernd, wohlwollend, nicht ablehnend, fast hasserfüllt, wie jetzt.
Herausfordernd erwidert Julia den Blick, doch die Frau schaut sofort weg.
Kurz darauf steht sie abrupt auf, schleudert Julia noch einen wütenden Blick zu, legt Geld auf den Tisch, verabschiedet sich von ihrer Begleiterin und verlässt mit gehetzten Schritten das Café.
Als ob sie vor mir auf der Flucht wäre, denkt Julia und schaut der hageren Peron hinterher. Hoffentlich kein schlechtes Omen für meinen Islandaufenthalt! Julia läuft ein kalter Schauer den Rücken hinab. Nervös zupft sie an ihrem Zopf.
Sie greift zum Smartphone und schreibt ihrer Mutter eine WhatsApp:
Gerade eine merkwürdige Begegnung mit einer Frau gehabt. Hat mich entsetzt angeschaut, so als ob sie einen bösen Geist gesehen hätte.
Julia wartet, doch ihre Mutter antwortet nicht. Schade. Enttäuscht steckt sie ihr Handy in die Tasche.
Wolken bedecken mit einem Mal den Himmel. Woher sie so plötzlich gekommen sind? Das Wetter scheint hier schnell zu wechseln und mit dem Verschwinden der Sonnenstrahlen ist auch die laue Wärme weg. Julia schließt den Anorak, nimmt ihren Schal aus dem Rucksack und kuschelt sich hinein. Ein bisschen Geborgenheit. Ein Blick auf die Uhr. Es wird Zeit, langsam ins Hotel zurückzukehren. Bald gibt es Abendessen. Julia verlässt schnell das Café. Das leere Gefühl und ein Anflug von Heimweh drängen sie in die Sicherheit der Reisegruppe und des Hotels.
In ihrem Zimmer angekommen, fällt ihr Blick in den Spiegel. Eine bleiche Julia mit ängstlichen Augen schaut sie hilfesuchend an. Sie schüttelt bei ihrem Anblick ärgerlich den Kopf.
„Was ist denn los mit dir? Du wirst dich doch nicht von dieser unsympathischen Frau einschüchtern lassen?“, fragt sie ihr Spiegelbild streng. Sie ist schließlich hier, um Urlaub zu machen und sich wohlzufühlen. Sie wird sich ihre Ferien nicht von den dunklen Vorahnungen ihrer Mutter und erst recht nicht von dieser unfreundlichen Person vermiesen lassen! Punkt.
Sie begibt sich unter die Dusche. Das warme, nach Lavendel duftende Geriesel spült die dummen Gefühle weg.
Erfrischt, die Haare hochgesteckt, die Augen mit ein wenig Lidschatten und Mascara betont, schlüpft sie in hellgrüne Jeans und zieht eine weiße Spitzenbluse an. Wieder einen Blick in den Spiegel. Schon besser, findet sie, legt sich ein goldgrün gemustertes Plaid um die Schultern und verlässt beschwingt das Zimmer in Richtung Speisesaal. Ihr Magen knurrt erwartungsvoll. Sie ist gespannt auf ihre Reisegruppe. Hoffentlich sitzt sie mit netten Leuten an einem Tisch.
KAPITEL 4
Kristin
Kristin hastet zu ihrem Auto. Ihre zittrigen Hände haben Mühe, den Schlüssel ins Zündschloss zu stecken. Kurz darauf fährt sie mit quietschenden Reifen los. Ihr Blick fällt auf den Tacho. Schnell nimmt sie den Fuß vom Gaspedal.
Der Schreck sitzt ihr in den Knochen.
Den ganzen Morgen hatte sie bereits gespürt, dass etwas passieren würde. Etwas Schicksalsträchtiges schwebte schon beim Aufwachen wie ein dunkler Schleier über ihr.
Nachdem der Sozialdienst Carl bei der Morgentoilette geholfen hatte, frühstückten sie zusammen. Wie immer schweigsam, von ein paar kurzen, nichtssagenden Sätzen abgesehen. Anschließend, wie jeden Morgen, lenkte Carl seinen Rollstuhl geschickt durch die geräumige Küche in sein Arbeitszimmer, wo er die nächsten Stunden verbringen würde. Als bekannter isländischer Schriftsteller schrieb er an seinem neuen Roman.
Kristin hätte ihm gern von ihrer dunklen Ahnung erzählt, doch so nahe standen sie sich schon lange nicht mehr, dass sie ihm Einblick in ihr Innenleben gewährt hätte.
Kristin blickte ihm schweigend hinterher. Er sah immer noch gut aus mit seinen lockigen, silbergrauen Haaren.
Sie hatten sich bei einer Vernissage kennengelernt. Kristin erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen.
Riesige Leinwände mit düsteren Farben und wirren Motiven hatten die kleinen Räume der Galerie in eine Höhle verwandelt. Entsprechend war die Luft dumpfig und warm. Die Gäste drängten sich um den Laudator, der mit seinen Lobeshymnen auf den Künstler kein Ende zu finden schien.
Kristin trat unruhig von einem Bein auf das andere und schielte immer öfter zum Ausgang. Warum war sie nur mitgegangen, fragte sie sich, krempelte die Ärmel ihrer Bluse hoch und fächerte sich mit der Einladungskarte frische Luft ins Gesicht.
„Ach komm doch mit. Du kannst nicht jeden Abend deine Nase in irgendwelche Kitschromane stecken. Du versauerst ja langsam. Draußen spielt sich das wahre Leben ab“, hatte ihre Freundin Eva auf Kristins Absage geantwortet. Womit sie Recht hatte. Kristin verbrachte ihre Wochenenden gewöhnlich auf dem Sofa, las und träumte von ihrem Traummann.
„Vielleicht findest du deinen Prinzen ja heute Abend. Bei Vernissagen kannst du interessante Typen kennenlernen“, hatte die Freundin gelockt und sie schließlich überredet.
Kristin musste hier raus. Sofort. Fast panisch bahnte sie sich den Weg zum Ausgang, übersah eine Stufe und fand sich an der Brust eines Mannes wieder, der bis dahin lässig an einer Säule gelehnt hatte. Carl, groß, schlank, längere braune Haare und ein sympathisches Lächeln.
Über Kristins Gesicht huscht ein Lächeln, als sie die Szene wieder vor sich sieht.
Sie verließen gemeinsam die Galerie und Carl lud sie auf ein Glas Rotwein ein. Sie tauschten zwar ihre Telefonnummern aus, doch sie dachte nicht im Traum daran, dass er sich tatsächlich schon am nächsten Tag bei ihr melden würde.
Kristin hatte sich nie etwas vorgemacht. Sie war nicht hübsch. Groß, hager, mit kantigem Gesicht, aschblonden, dünnen Haaren und graugrünen Augen. Welch ein Unterschied zu ihrer Stiefschwester Elin mit ihrer zierlichen Figur, der langen, roten Mähne, den strahlenden grünen Augen, und dem herzförmigen Gesicht.
Das hässliche Entchen neben einem wunderschönen Schwan. So hatte sie sich immer gefühlt.
Und nun war Elin zurückgekommen. In junger Ausführung. Die Vergangenheit ist wieder lebendig geworden.
Hafnarfjördur.
Kristin wäre beinahe an dem Ortsschild vorbeigefahren. Sie drosselt das Tempo und biegt in den Ort ein.
Die Straße führt um größere und kleinere Lavafelsen herum. Elfenwohnungen.
Kristin liebt diesen Ort. Für sie besitzt er etwas Magisches, Geheimnisvolles.
Sie hält vor einem hellblauen Wellblechhaus. Ihre Hände zittern so stark, dass sie Mühe hat, die Haustür aufzuschließen.
Sie wirft ihre Jacke auf einen Stuhl und stürmt in das Zimmer ihres Mannes.
„Carl, ich muss dir was erzählen“, stößt sie atemlos hervor.
Carl, der mit dem Rücken zur Tür sitzt, schrickt zusammen. Unwillig über die Störung dreht er sich zu ihr um.
„Musst du so reinstürmen und