Was ich glaube. Arnold Mettnitzer
da schreibt, ein Funke bleibt, der das Geschwätz überdauert. Er will nicht für die Ewigkeit schreiben, er will auf der Suche bleiben nach einem Wort, das in einem anderen Menschen mehr auszulösen vermag als die Ödnis des Bla, bla, bla.
Während ich das schreibe, kommt ein Brief, von einem, der mir in langen Gesprächen großes Vertrauen geschenkt hat. Seine Zeilen machen mich glücklich: „Ich denke oft an dich und an die Zeit, in der du mich unterstützt hast. Mein Weg war steinig, aber jetzt glaube ich auf dem richtigen Weg zu sein, und ich arbeite wieder mit Begeisterung und Hingabe. Ich habe mich von alten Wertvorstellungen losreißen und in neue hineinbegeben können. Dafür bin ich unendlich dankbar.“ Wie gesagt: Es sind die Worte, die wir im Vertrauen zueinander sprechen und miteinander tauschen, die den Gedanken Flügel verleihen und uns damit, wie es in einem Gedicht von Hermann Hesse heißt, „neuen Räumen jung entgegensenden“.
Augustin
Im siebten Wiener Gemeindebezirk, Ecke Kellermanngasse/Neustiftgasse, befindet sich der Augustinbrunnen, benannt nach dem Dudelsackpfeifer und Bänkelsänger Markus Augustin, der gegen Ende des 17. Jahrhunderts durch die Gassen und Lokale der Stadt zog und die Menschen mit Spiel, Gesang und oftmals auch derben Scherzen zu unterhalten wusste. Auf meinen Spaziergängen komme ich oft an diesem Brunnen vorbei. Schmunzelnd lese ich dort: „I wor hin, jetzt hobts mi wieda, drum hörts auf meine Lieder!“
Zur Institution wird „Der liebe Augustin“, als er im Jahre 1679 während der Pest trotzdem seinen Humor nicht verliert und anfängt, auch den nahen Tod und die damit verbundene Not zu besingen. Aber aus Angst vor der Ansteckung ziehen sich die Menschen aus den Lokalen zurück. Augustin singt und spielt in den einsamen Gassen und in leeren Gaststätten. Von den Wirten trotzdem verpflegt und vor allem mit Alkohol versorgt, trinkt er nicht selten mehr, als er verträgt, und bleibt auf dem Weg nach Hause auf offener Straße liegen. Dort finden ihn die Pestknechte: „Do schau her!“, ruft einer und bekreuzigt sich dreimal. „Des is jo der Augustin! Wenn’s den a scho erwischt hat, steht die Welt nimma lang!“ Die Männer packen die vermeintliche Leiche auf den Wagen, den Dudelsack dazu, karren ihre Fracht zur Pestgrube nach St. Ulrich und kippen sie hinein. Als Augustin die Augen aufschlägt, weiß er nicht recht, wo er ist. Zuerst glaubt er, das Brummen, das er hört, komme aus seinem Schädel. Bald aber merkt er, dass er von Tausenden Fliegen umschwirrt wird. Und was für ein Gestank um ihn herum! Dass er so weich sitzt, macht ihn stutzig. Da ist ein Mensch unter ihm! Einer? Nein, ein ganzer Haufen, Männer, Frauen, Greise, Kinder – alle mit schwarzen Pestflecken übersät! Den Augustin packt die Panik. „I wü auße do!“, schreit er. „Helft’s ma! Hüüüüfe!!!“ Doch niemand hört ihn. In seiner Verzweiflung greift er zum Dudelsack. „Der Augustin soll sterben, wie er g’lebt hat“, sagt er zu den Toten. „Spü’ auf!“ Und so sitzt er in der Grube und spielt in seiner Angst ein Lied nach dem anderen …
Einige Kirchgänger bleiben verwundert stehen. Die Musik, die sie hören, kommt nicht aus der Kirche. Sie gehen den Klängen nach, finden Augustin in der Pestgrube und helfen ihm heraus. So jedenfalls erzählt es eine der vielen Auffindungsgeschichten. Dass er die Nacht unter all den Toten verbracht hat, ohne sich anzustecken, verbreitet sich wie ein Lauffeuer in Wien. Die Menschen schöpfen wieder Hoffnung. Augustin bleibt „pumperlgsund“ und beweist damit, dass die Pest nicht unbesiegbar ist. Aus dieser Episode entsteht das Wiener Volkslied mit dem bekannten Refrain: „Oh, du lieber Augustin, Augustin, Augustin! Oh, du lieber Augustin! Alles ist hin!“
Augustins Geschichte mag makaber klingen, in ihr aber steckt viel Weisheit und viel vom sogenannten Wiener Gemüt. Der Wiener, wenn es ihn im Sinne Augustins noch gibt, liebt es, sich mit dem Tod zu beschäftigen, ihn als „Freunderl“ zu besingen. Um sich den Tod vom Leib zu halten, trinkt er augenzwinkernd mit ihm „Bruderschaft“! In feinen oder gröberen humoristischen Nuancen finden wir das aber wohl sonst auch. Ein russisches Sprichwort etwa meint: „Was fürchtest du den Tod, Väterchen? Es hat noch keiner erlebt, dass er gestorben ist.“
Mark Twain wundert sich, wozu wir eine Friedhofsmauer brauchen. „Die, die draußen sind, wollen nicht hinein, die, die drinnen sind, können nicht mehr hinaus. Wozu also eine Mauer?“
Zwei Lektionen bleiben den Wienern, die sie ihrem Augustin verdanken:
Erstens, es scheint sich in allen Situationen des Lebens zu lohnen, auch die andere Seite der Medaille anzuschauen. Gerade darin liegt ja die wohltuende Wirkung des Humors. Wer konfrontiert mit Bedrohung und Gefahr nicht vor Angst erstarrt, sondern „engagiert gelassen“ bis zuletzt nach möglichen Auswegen sucht, hat zum Schluss die besseren Karten in der Hand. Humor hat, wer ihn auch angesichts des Todes nicht verliert. Augustin jedenfalls hat ihn als die beste Medizin gegen die Pest erfahren. Vielleicht liegt ja gerade darin auch der innere Grund für die Verbundenheit der Wiener zu ihrem „lieben Augustin“. Zweitens, Augustins Pestgrubenerlebnis aus dem Jahre 1679 bestätigt auch eine Entdeckung, die erst rund 200 Jahre später dem großen Chemiker und Mikrobiologen Louis Pasteur (1822 – 1895) gelungen ist. Seine entscheidenden Beiträge zur Vorbeugung gegen Infektionskrankheiten fasst er in dem Satz zusammen: „Der Keim ist nichts, das Terrain ist alles!“
Begeisterung
Das menschliche Gehirn wird so, wie es der Mensch benutzt, aber ganz besonders so, wie er es mit Begeisterung benutzt. Was in seinem Gehirn mit Nachdruck hängen bleibt, hängt mit Erlebnissen zusammen, die ihn berühren, bewegen, ihm „unter die Haut“ gehen. Und hier tut sich schon ein erstes ernstes Problem auf: Viele Menschen haben in ihrem Leben nicht nur die Begeisterung, sondern mit ihr auch die Lebensfreude verloren. Und weil ihnen in der Folge nichts mehr unter die Haut geht, glauben sie sich den Luxus der Begeisterung auch nicht mehr leisten zu können. Sie haben sich wunderbar angepasst an das, was täglich von ihnen verlangt wird. Dadurch haben sie sich selbst funktionalisiert. Sie „funktionieren“ nur mehr, und ihr glatter Panzer, mit dem sie sich dabei umgeben, ist kaum noch durchdringbar. Bereits beim Erwachen wissen sie, was der Tag bringen und was an diesem Tag zu vollbringen sein wird. Aber trotz allem befindet sich auch bei diesen Menschen als wunderbar angepasste und stereotyp funktionierende Zeitgenossen hinten auf dem Rücken eine kleine Stelle, an der sie noch berührbar und damit auch verwundbar sind, die Stelle, wo beim Bad des Siegfried im Drachenblut das Lindenblatt gelegen hat. Dort steht geschrieben: „Es gibt kein gutes Leben ohne Begeisterung!“ Der Begriff „Begeisterung“ ist in diesem Zusammenhang auch deshalb so wichtig, weil daran zu erkennen ist, woran eine Gesellschaft, der nichts mehr nahegeht, besonders zu leiden hat. Es fehlt vielen Menschen das innere Feuer, der Antrieb und die Motivation, etwas, das sie bewegt und von innen her anrührt …
Wo aber allzu lange nichts mehr passiert, erlischt das Leben, berührt uns das Unvorhergesehene, das Überraschende, das Wohltuend-Andere nicht mehr, das, wovon wir in glücklichen Momenten so gerne berichten und von dem wir dann sagen, dass wir nie gedacht hätten, solches (noch einmal) erleben zu können. Wo solche Erlebnisse nie stattfinden oder zur absoluten Rarität verkommen, ist es gut zu verstehen, dass Menschen, denen es an Begeisterung fehlt, krank werden. Wenn die WHO den westlichen Industriestaaten für die nächsten zwanzig Jahre den Anstieg von Angststörungen und depressiven Erkrankungen vorhersagt, dann kann die Schlussfolgerung daraus doch wohl nur lauten: Die Gesellschaft, in der wir leben, schreit geradezu nach Veränderung. Dabei geht es nicht um ein gemütlich-oberflächliches „Schau-ma-mal-dannseh-ma-schon“, sondern um unser aller nacktes Überleben. Der Umgang mit der Natur muss noch deutlicher ins Bewusstsein rücken, menschliches Miteinander in allen Lebensbereichen neu überdacht werden, die Behandlung von Kranken in einen größeren Zusammenhang gestellt und junge wie alte Menschen aus einer völlig neuen Perspektive betrachtet werden. Was eine seelisch gesunde Gesellschaft braucht, sind Beispiele des Gelingens, an denen deutlich wird, wie es gemacht werden kann und wie es anders gemacht werden muss, damit es gelingen kann.
Ein sozial hochkarätig wirksames Medikament lautet: Rede jeden Tag wenigstens einmal mit einem Menschen, der viel älter ist als du, und bemühe dich gleichzeitig, jeden Tag wenigstens einen Gesprächspartner zu finden, der weit jünger ist als du. Das Interesse an den Erfahrungen und Sichtweisen anderer Menschen macht uns reich, offen, hellhörig und weit. „Wir müssen füreinander