Selma Merbaum - Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben. Marion Tauschwitz

Selma Merbaum - Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben - Marion Tauschwitz


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Angst. In ihren Versen erfahren Rainer Maria Rilkes Worte »das Schöne sei des Schrecklichen Anfang« ihre tiefe fürchterliche Bestätigung. Wie ein »Wundpunkt« spiegeln sich in Selmas Gedichten die Höllenstürze ihres jungen Lebens. Hinter anfangs noch verspielter Zärtlichkeit ihrer Worte manifestiert sich bald auch die Destruktivität der immer grauenvoller werdenden täglichen Ereignisse. Als wolle Selma nicht länger »zahme« Gedichte schreiben, setzt sie ihre Kunst bewusst dazu ein, die allgegenwärtige Unmenschlichkeit jener Zeit abzubilden und Grausamkeiten aufzuzeigen.

       Sieh doch, das Grauen dort in dem Wald –

       vielleicht stirbt dein Vater jetzt!

       Vielleicht bist du eine Waise bald

       und sein Körper ist bald zerfetzt …

       Zerfetzt seine Lippen, zerfetzt sein Haar,

       zerfetzt seine Hände auch –

       und das alles schon nach einem Jahr

       und Glück ist verwandelt in Rauch …

      Wir lesen heute eine junge Dichterin, deren Worte nicht mehr hauptsächlich als Ausdruck einer unerfüllten Liebe zu einem Freund zu werten sind. Sie sind vor allem kunstvoll verwobene Metaphern für eine Realität, die Trauer, Angst und Schrecken hervorrief.

      Dank dieser Biografie, die Selmas Leben, ihr Werk und den komplexen historischen Kontext eng miteinander verknüpft, erfahren ihre Gedichte eine existenzielle Bereicherung und lassen sich umfassender verstehen.

      Viel stärker als es bisher gesehen wurde, tritt uns Selma Merbaum als selbstbewusstes, couragiertes Mädchen entgegen. Diese politisch wache junge Frau nahm schon früh und selbstbestimmt ihr Leben in eigene Hände und ließ sich bis zum Ende von Hoffnung auf eine liebevollere Zukunft tragen.

      Die Biografie gibt Selma ihre Identität zurück, die die Nazi-Schergen ihr zu nehmen versucht hatten. Selmas Fühlen und Denken, Leben und Sterben werden uns nicht nur durch ihr Werk, sondern nun auch durch den Blick auf ihr Leben für immer in Erinnerung bleiben.

      Iris Berben

      »Gedichte, zum Weinen schön«

      Die Lyrikerin Hilde Domin war tief berührt von den Versen, die ihr die junge Germanistik-Professorin und Celan-Spezialistin Bianca Rosenthal von der California Polytech State University 1976 bei ihrem Besuch in Heidelberg vorstellte. Gedichte –»so rein, so schön, so hell, so bedroht«, Verse – von »frühlingshafter Grazie«. Ein völlig unbekanntes Mädchen hatte sie verfasst: »Selma Meerbaum-Eisinger«. Die junge Dichterin sei mit achtzehn Jahren in einem deutschen Zwangsarbeitslager in Transnistrien umgekommen.

      Bianca Rosenthal war eine Cousine zweiten Grades von Selma und auch von Paul Celan. Alle stammten sie aus Czernowitz, »diesem sagenhaften Czernowitz«.

      Hilde Domin war fasziniert und machte sich stark für die Verbreitung von Selmas Versen, die sie an den jungen Hofmannsthal erinnerten. Oder an Gertrud Kolmar. Den Brief, den sie im Januar 1979 an den damaligen Redakteur des Süddeutschen Rundfunks, Helmut Heißenbüttel, geschrieben hatte, las ich bei meiner Arbeit zur Biografie Hilde Domins. Sie hatte ihrem Schreiben drei Gedichte von Selma beigelegt: »Sie sehen sofort, ob Sie dies übernehmen wollen.«– Heißenbüttel wollte nicht.

      Domin ließ nicht locker. Sie nahm Kontakt mit dem STERN-Journalisten Jürgen Serke auf und drückte ihm im Februar 1980 den Privatdruck mit Selmas Gedichten in die Hand: »Lies mal. Gedichte zum Weinen schön. Mach was draus.« Schon im Mai desselben Jahres machte sich Serke im Auftrag des STERN auf den Weg nach Israel und brachte die »Geschichte einer Entdeckung« nach Deutschland.

      Das Schicksal der jungen Dichterin berührte mich tief.

      Der Siegeszug von Selmas Gedichten begann, doch die Vernichtungstaktik der Nazi-Schergen schien Erfolg gehabt zu haben: Dünn gesät waren die Erinnerungen der wenigen Überlebenden an das junge Mädchen. So begnügte sich die Literaturwelt mit der Annahme, dass Selmas traurige Lebensgeschichte »zu kurz und zu dürftig schien, um daraus eine spannende narrative Geschichte zu entwickeln«.

      Doch es gab noch Klassenkameradinnen und vor allem eine Freundin aus Selmas zionistischer Gruppe Hashomer Hazair, mit denen ich Kontakt aufnehmen konnte. Ich habe mit Bekannten und Verwandten in den USA und in Israel gesprochen und Selmas Verwandte in Deutschland getroffen. Im ukrainischen Regionalarchiv in Czernowitz sah ich Schulunterlagen ein.

      Aus den Erinnerungssplittern und dank jüdischer Geburts-, Hochzeits- und Sterberegister sowie der vorhandenen Archivunterlagen konnte ich Selmas Lebensgeschichte zusammensetzen – und Selma ihren richtigen Namen zurückgeben: Sie hieß nie anders als Selma Merbaum.

      Selmas Persönlichkeit zeigt sich von einer neuen Seite. Sie war eine politisch engagierte, selbstbestimmte junge Frau. Selmas Gedichte lesen sich neu. Sie sind mehr als »sehnsüchtige Liebesgedichte« einer unerwiderten Liebe zu einem jungen Mann. Sie sind eine Liebeserklärung an die Natur der Bukowina und zeugen von der sensiblen Empfindsamkeit eines erwachenden jungen Lebens. Die Verse erzählen von Glück und Sorge, von Freude und Wehmut, von Aufbegehren und Angst, von Sehnsucht und Trauer. Sie reflektieren aber auch souverän die Turbulenzen der verschlungenen Geschichte einer Landschaft, die – davon war Paul Celan überzeugt –»den meisten von Ihnen unbekannt sein« dürfte. In ihr lebten »Menschen und Bücher«. Menschen, mit denen das Schicksal wenig sanft umgegangen ist und die dem Vergessen entrissen werden müssen.

      I.

      BIOGRAFIE

       SELMA MERBAUM

      »Czernowitz, das waren Sonntage, die mit Schubert begannen und mit Pistolenduellen endeten. Czernowitz, auf halbem Weg gelegen zwischen Kiew und Bukarest, Krakau und Odessa, war die heimliche Hauptstadt Europas, in der die Metzgertöchter Koloratur sangen und die Fiaker über Karl Kraus stritten. Wo die Bürgersteige mit Rosensträußen gefegt wurden und es mehr Buchhandlungen gab als Bäckereien. Czernowitz, das war ein immerwährender intellektueller Diskurs, der jeden Morgen eine neue ästhetische Theorie erfand, die am Abend schon wieder verworfen war. Wo die Hunde die Namen olympischer Götter trugen und die Hühner Hölderlin-Verse in den Boden kratzten. Czernowitz war ein Vergnügungsdampfer, der mit ukrainischer Mannschaft, deutschen Offizieren und jüdischen Passagieren unter österreichischer Flagge zwischen West und Ost kreuzte. Czernowitz war ein Traum. Die glückliche Ehe der Habsburger mit dem deutschsprachigen jüdischen Bürgertum, das diesen Außenposten der k. u. k. Donaumonarchie am Rande der bessarabischen Steppe zu einem ökonomischen und vor allem kulturellen Zentrum Osteuropas machte.« *

       Schritte knirschen in Schneemusik 1

      Der 5. Februar 1924 war ein klirrend kalter Wintertag. In Czernowitz hatten sich die Menschen längst gegen die beißende Kälte gerüstet und eigens angefertigte »Fensterpolster« oder zusammengerollte Handtücher zwischen die Doppelscheiben in ihren Wohnungen geklemmt, um den Frost abzuhalten. Der dennoch durch die Ritzen kroch und seine Eisblumen an die Fensterscheiben hauchte.

      Unwirsch rebellierte der nahe Fluss unter seiner eisigen Decke:

       Liegt das Eis so schwer und weiß

       und es hindert jede Regung.

       Ist der Fluß so still – ohne Bewegung,

       möchte doch gern schäumen, wild und heiß. 2

      Friederika Merbaum hatte sich an jenem Dienstag auf den Weg in die »Maternitatea« gemacht. Dort sollte ihr erstes Kind zur Welt kommen. Kein leichter Entschluss – denn wer es sich leisten konnte, mied die Gebäranstalt.

      Da mochte die Wohnsituation in den eigenen vier Wänden beengt sein, es an Hygiene mangeln


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