Selma Merbaum - Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben. Marion Tauschwitz
Requisitenkiste gegriffen. Die einfachen Menschen aus der Provinz sollten ein Erinnerungsfoto haben, das sie für einen Moment lang, eine Momentaufnahme lang, ihre Armut und Einfachheit vergessen ließ. Deshalb schlang er den beiden Frauen üppige Fuchsstolen um die Schultern – die sie nicht zu tragen wussten. Der Fuchs hängt unbehaglich zur Seite und beißt sich traurig in den Schwanz. Die Hände der Menschen auf der Fotografie lassen erkennen, dass sie zupacken müssen. Schmuck war da eher hinderlich. Und deshalb wirken die Ketten und Uhren, die den Frauen um Hals und Handgelenke geschlungen wurden, fremd, ja deplatziert. Pose erstarrt in der Inszenierung: Max thront zwischen den beiden Frauen und weiß nicht so recht, wohin mit seinem Blick. Jung und zerbrechlich wirkt er. Er sieht wesentlich jünger aus als sechs- oder siebenundzwanzig. Das kleine Zweifingerbärtchen ist ein modischer Versuch, mangelnde Männlichkeit zu unterstreichen. Es kaschiert auch nicht die aufgeworfene Oberlippe. Ganz offensichtlich drängen sich die oberen Schneidezähne leicht nach vorn.
»Liebes Mütterchen, Solst nie traurig sein, weil ich hoffe du wirst mit mir und mit Joselu noch fiel vergnigen haben. dein aufrichtiger Sohn Max. Gewidmet meiner Theueren Mutter. Zum ewigen andenken an das schwere Kriegsjahr 1918.«21
Mit Liebe und harmloser Orthografie drückt der Sohn seine Zuneigung zur Mutter auf der Rückseite der Fotografie aus. Max schreibt gerne Widmungen auf die Fotos, auf denen er zu sehen ist. Drei sind erhalten geblieben. Hoffnung und Zuversicht sprechen immer aus den Zeilen. Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft. Auf ein besseres Leben, das er bald in einer fremden Stadt beginnen will. Sobald es ihm möglich ist, verspricht er, die Mutter zu sich zu holen. »Joselu« fehlt auf dem Foto, das auf 1919 datiert ist.
Der junge Max
Hatte Max gezögert, nach Czernowitz zu ziehen, so wird Josef seine Bedenken zerstreut haben. Der jüngere Bruder galt als abenteuerlustig, hatte immer schon vieles leichter genommen als Max. Und außerdem standen Slobozia-Banila und Văşcăuţi nur noch für die Hässlichkeit des Krieges, waren Inbegriff von Schrecken und Pogromen. Czernowitz dagegen hatte seinen Mythos über den Krieg hinaus gerettet. Czernowitzer zehrten eigentlich ihr Leben lang von dem Bild in ihren Herzen. Nicht nur, weil man dort weiterhin beharrlich Deutsch sprach. Oder weil die Stadt mit üppiger Natur verführte und ihre prächtigen Bauwerke sich weiterhin vor ihrer historischen Vergangenheit aufbäumten. »Cernăuţi e cel mai neromânesc oraşdin România.«– Czernowitz war zwar »die nichtrumänischste Stadt Rumäniens«22, doch sie wurde auch von den Rumänen geliebt.
Czernowitz, die Stadt voller Minderheiten, die angeblich keine bevorzugte – und wo sich doch alle benachteiligt fühlten. Die Juden genauso wie die Deutschen und die Ruthenen, wie sich die Ur-Ukrainer nannten. Fast die Hälfte der Einwohner der Stadt waren Juden. Nicht zu vergessen die bis zu zwanzig kleineren ethnischen Gruppen, die nicht nur Farbe in das Treiben auf dem Marktplatz brachten, sondern auch Probleme in den Behördenalltag. Czernowitz, die dreigeteilte Stadt: unten die Handwerker und Krämer, die Intelligenz in der Mitte, oben die Reichen. Dort hörte man weder ruthenische Flüche noch sah man die »Chniokes«, die orthodoxen Juden, die selbst beim Zeitunglesen im Gebetsrhythmus hin- und her wippten.
Max und Josef sahen Czernowitz nicht als die Stadt voller Widersprüche. Die vertraute deutsche Sprache lockte und die Aussicht, Verwandte väterlicherseits ausfindig zu machen und eigenen Wurzeln nachzuspüren.
Auch Chaim und Abraham Merbaum waren unter Entbehrungen großgeworden. Onkel und Cousin von Max sollten sie sein, so war ihm bisher erzählt worden. Hatte die Mutter Andeutungen über andere, engere verwandtschaftliche Beziehungen gemacht? Waren Chaim und Abraham möglicherweise Vater und Halbbruder von Max? Max und Josef wollten das klären.
Chaim Merbaum hatte mit seiner ersten Frau Galizien verlassen und sich im knapp fünfzig Kilometer entfernten Czernowitz niedergelassen. Sein Sohn Abraham hatte in Czernowitz eine Lehre in einer Molkerei absolviert und nach Abschluss seiner Ausbildung mit Fleiß und dem richtigen Geschäftssinn bald seinen eigenen Betrieb in der Dreifaltigkeitsgasse aufgemacht. Die Qualität der Merbaum’schen Butter war legendär und Abraham ein gewiefter Geschäftsmann. Als Lieferant für die Czernowitzer Krankenhäuser hatte er den großen Coup gelandet und sich beliebt und unentbehrlich zugleich gemacht. Keiner der Direktoren der Hospitäler wollte den großzügigen Merbaum-Präsentkorb missen, den der Molkereichef ihnen alljährlich zukommen ließ. Doch auch seine Angestellten wurden Nutznießer der guten Geschäftslage. Abraham Merbaum hatte nicht vergessen, wie es ist, wenn man Hunger leidet. Er wusste auch, dass Juden mehr als anderen Erfolg geneidet wurde. Ein einladender Korb mit zweihundertfünfzig frischen Brötchen und hauseigener Butter stopfte deshalb täglich hungrige und neidische Mäuler.23
Chaim Merbaum hatte alles richtig gemacht. Stetig war er bergauf gezogen. Ein sozialer Aufstieg ließ sich an der richtigen Adresse ablesen: Je höher am Berg die Wohnung, desto wohletablierter sein Bewohner. 1906 hatte Chaim als Tagelöhner noch ganz unten am Ende der Stadt in der im jüdischen Viertel gelegenen Russischen Gasse 145 sein Dasein gefristet, wo Seiler und Tischler, Binder, Kürschner, Uhrmacher, Schuster, Klempner, Barbiere, Kupferschmiede, Schlosser, Kesselflicker, Glaser, Schneider, Gold- und Silberschmiede Geschäft und Wohnung vereinten.
Heimelig war ein Zuhause dort nicht.
… so viele Hühner und ein kleiner weißer Hund
und Himmel der so farbenfroh und bunt –
der kahle Baum wirkt so gespensterhaft
und graue Häuser, wie ganz ohne Kraft … 24
Die Armut der Bewohner spiegelte sich in den Häusern und Straßen wider. Im Sommer trieb der Wind gelben Staub durch die engen Gassen, der in den Augen biss und die Kehle rau werden ließ. Im Frühjahr und Herbst machte Regen den Lehm der ungepflasterten Wege weich und schwer. Dann quälten sich die Anwohner durch den knöcheltiefen gelben Morast. Ein trostloser Anblick.
Lichter spiegeln sich in schmutzig-naßen Pfützen,
gelb und fettig, schmutzig auch, und schwer.
Helle Häuserfenster können gar nichts nützen.
Tore hallen hehr und leer. 25
Frieda Merbaum wird ihrer Selma bei solchem Wetter deshalb später immer ein extra Paar Schuhe für den Schulweg mitgeben: Die »ganz hohen Galoschen« für den Matsch zog Selma erst kurz vor der Schule aus. In »schöne Halbschuhe mit hohen Absätzen«26 schlüpfte sie erst, als sie die gepflasterte Straße erreicht hatte.
In den primitiven Häusern jener Gegend drängten sich meist mehrere Familien zusammen. Sie gaben sich mit einfachsten Heizmöglichkeiten zufrieden und beklagten selten, weder fließendes Wasser noch WC oder gar ein Bad zu haben. »Ein weitverzweigtes, sehr gut angelegtes Canalisationsnetz und eine Tiefquell-Wasserleitung haben zur Hebung der sanitären Verhältnisse«27 nur in der Oberstadt beigetragen. Im Armenviertel versorgten städtische Brunnen die Anwohner mit dem kostbaren Nass, das erst nach Hause geschleppt werden musste. Beißender Salmiakgeruch aus den Plumpsklos in den Hinterhöfen raubte den Atem – ein unwirtlicher Ort, vor allem im Winter.
Doch gerade die kalte Jahreszeit verlieh auch den armseligen Gassen der Unterstadt Charme. Der erste Schnee überdeckte Unrat und Gestank. Czernowitz liebte den Schnee. Schneegedichte hatten im Czernowitzer »Morgenblatt« im Winter ihren festen Platz:
»Schneeflocken wehen um das Haus
Und kleiden Baum und Reis’.
Wie herrlich sieht der Wald jetzt aus
Im Winterkleide weiß.«28
Der Winter hatte die Stadt oft von November an fest im Griff, den erst der März lockerte. Unten in der Stadt blieb der Schnee länger liegen, denn dort schaufelte kein Räumdienst die Straßen frei. Kein Kunde der kleinen Kramläden oder Handwerksbetriebe erwartete, dass ihm der Weg zur Eingangstür gebahnt wurde.
Hatten Max und Josef gleich in der Molkerei von Abraham Merbaum in