Selma Merbaum - Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben. Marion Tauschwitz

Selma Merbaum - Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben - Marion Tauschwitz


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      Es ist nicht leicht: von ihm empfangen werden.

      ›Ein andermal, der Rabbi spricht mit Gott.‹«14

      Doch vielen blieb der Chassidismus fremd. Mehr noch, er stieß sie ab. Da tanzte einer in goldenen Pantoffeln, während andere hungerten. Paul Celan assoziierte mit Sadagora, wie andere Czernowitzer auch, Gauner und Ganoven15, selbst wenn es der Geburtsort seiner Mutter war.

      Leo Eisingers Mutter Rosa wurde 1925 in Sadagora beerdigt, nachdem sie an den Folgen einer Tuberkulose und Unterzuckerung gestorben war. Der Tod seiner Mutter könnte Leo bewogen haben, seine Wohnung in der armseligen Sterngasse aufzugeben und wieder zu seinem Vater Moses in die Steingasse zu ziehen. Als später in direkter Nachbarschaft zum Vater eine Wohnung in der Steingasse 6 frei wurde, zog er dort ein. Möglicherweise schon mit Frieda und Selma?

      Ob Löwi Eisinger Selma ein guter Vater wurde, wissen wir nicht. Doch von der Nestwärme einer Großfamilie mit Brüdern der Mutter und zahlreichen Cousinen und Cousins wird Selma in ihren ersten Lebensjahren profitiert haben. Die Berufstätigkeit von Mutter und Stiefvater hat der Kleinen sicher schon früh Selbstständigkeit abverlangt. Unterstützung der Mutter bei hausfraulichen Tätigkeiten wird Selma eine Selbstverständlichkeit gewesen sein – in Handarbeit und Hauswirtschaft gehörte Selma später in der Schule immer zu den Besten.

      Eine von Selmas wichtigsten Bezugspersonen war wohl Großmutter Henriette »Henie« Schrager, die Mutter von Selmas Mutter Frieda. Und das nicht nur, weil sie immer schon vertrauter Teil der Familie gewesen war, sondern auch, weil die Großmutter die Kultur in Selmas Elternhaus geprägt hatte. Selmas Cousine Edit in Israel erinnerte sich noch im hohen Alter an die würdevolle Eleganz der Großmutter, die selbst im Alltag nie ihre lange Perlenkette abgelegt hatte.16 Großmutter Henie hatte Stil und den verdankte sie ihrem guten Elternhaus. Ihr Vater Abraham Thaler war ein vermögender »Eigenthümer« und hatte ihr offenbar die Erziehung angedeihen lassen, die jüdische Bildungsbürger für ihre Töchter vorsahen: Haushaltsführung, Belesenheit und Klavierspiel mit Gesang. Selmas Großmutter war belesen. Und sie spielte auch Klavier. Selma wird jede Gelegenheit genutzt haben, der Großmutter dabei zuzuhören. Ihre Musikalität wurde im Hause der Großmutter gefördert und geprägt. Stundenlang konnte das kleine Mädchen lauschen, wenn jemand Klavier spielte, und war nachhaltig fasziniert davon, wie Finger dem Ebenholz und Elfenbein der Tastatur Töne und Klänge entlockten. Die ihre Fantasie beflügelten, für sie Gestalt annahmen und zu religiösen Bildern führten: zum Beispiel zu Szenen des Kampfes, den der Engelfürst Michael ausfocht, als er den Drachen niederzwang; Szenen, die Selma später in ihrem Gedicht Der Kelch verarbeiten wird:

       … Frauenhände,

       die, über Tasten schwebend, spielen die Legende

       vom Prinzen, welcher mit dem Drachen rang. 17

      Musik verband oft mehr als Worte. Musik war für Selma mehr als bloßer Hörgenuss. Musik führte Menschen zusammen, schuf dauerhafte Vertrautheit. In Selmas einzigem erhaltenen Brief von 1942 aus dem Lager im Steinbruch an ihre Freundin Renée ruft sie sich in den wohl verzweifeltsten Momenten ihres Lebens diese Innigkeit ins Gedächtnis. Sie schöpft Kraft und Trost aus der Erinnerung an die Nachmittage, als die beiden Mädchen »zusammengesessen sind ohne zu reden. Nachmittage, an welchen Du gespielt hast, und ich zugehört habe«18. Musik, »muzică vocală«, gehörte auch in der Schule zu Selmas Lieblingsfächern, in denen sie mit guten Noten glänzte.

      Wenn Großmutter Henie Klavier spielte, durfte der Gesang der Kinder nicht fehlen. Deshalb kam auch die Familie von Philipp Schrager, dem Bruders ihres verstorbenen Mannes, gern zu der alten Dame. Vorzugsweise, um gemeinsam den Sabbat zu feiern. Und dann war natürlich auch Cousin Paul mit von der Partie. Selma und Paul haben offenbar mehr Zeit gemeinsam verbracht als bisher angenommen.

      Pauls Musikalität wurde in den höchsten Tönen gerühmt, seine schöne Singstimme gepriesen. Kein Wunder also, dass der Junge dieses vielgelobte Talent kultivierte und in das Erwachsenenalter hinüberrettete: Den Rhythmus der jüdischen Gebetsstimme beim Rezitieren seiner Gedichte behielt er bei, was viele Jahre später zu einer großen Demütigung führen sollte.

      Der erste öffentliche Auftritt in Deutschland des damals noch weitgehend unbekannten Dichters Paul Celan fand im Mai 1952 auf der Tagung der Gruppe 47 in Niendorf an der Ostsee statt. Die Wiener Freunde um Ingeborg Bachmann hatten ihren Einfluss spielen lassen. Dass die Gruppe nicht zimperlich mit Kritik umging, war bekannt. Doch Paul Celan wurde dort wegen seiner Vortragsweise richtiggehend ausgelacht. Bemerkungen wie »Der liest ja wie Goebbels« oder »Singsang wie in einer Synagoge« verletzten ihn tief. Die Verhöhnung seines Gedichts »Todesfuge« aber riss eine immer schwärende Wunde auf. Hatte er doch darin nicht nur die bittere Erfahrung der schlimmsten Verfolgung, die »schwarze Milch der Frühe«, thematisiert, sondern auch versucht, dem traumatisierenden, nie verarbeiteten Schmerz über den gesichtslosen Tod seiner Mutter im Arbeitslager Michailowka Gestalt zu geben. Der von Hans-Werner Richter »herbergsvatermäßig geführte Haufen«19 beschwieg die Existenz von Juden ohnehin. Weder kam der Holocaust im Allgemeinen, noch die persönlichen Schicksale der Einzelnen je zur Sprache.

      Bei seinen Großeltern hatte Paul Kritik dieser Art nicht zu fürchten und seinen jüngeren Cousinen Edit, Erika und Selma wird er ohnehin Vorbild gewesen sein und in ihnen willige Zuhörerinnen für seine selbsterdachten Märchen gefunden haben. Selma wird ihm bald nacheifern und ihm auch in ihrer Verbundenheit mit der Natur in nichts nachstehen.

      Diesen Wochenenden mag Selma auch deshalb entgegengefiebert haben, weil sich dann die Großfamilie versammelte und die orthodoxe Großmutter die religiösen Riten zelebrierte, als ob der Großvater noch mit dabei wäre. Und wenn die Sabbatkerzen entzündet wurden und einer der Alten den Segen sprach, kehrte mit der Stille die Erinnerung an die Verstorbenen, den Vater und Großvater, ein.

       Im Zimmer schwebt die Stille und die Wärme,

       ganz wie ein Vogel in durchglühter Luft,

       und auf dem schwarzen kleinen Tische

       liegt still das Deckchen, dünn und zart wie Duft. 20

      Von Düften geprägt ist die Hawdala, die Abschiedszeremonie, die mit Liedern den Sabbat von der kommenden Woche scheidet. Die Dose mit den wohlriechenden Gewürzen durfte nicht fehlen.

      Als Selma mit ihren fünfzehn Jahren diese Stimmungen des Sabbats einfing, verfügte sie noch nicht über die Abstraktion, mit der Paul Celan später in seinem Gedicht »Hawdalah« die Atmosphäre der Kindheitserinnerung ästhetisch umgesetzt hat:

      »von unten her, ein

      Licht geknüpft in die Luft –

      matte, auf der du den Tisch deckst, den leeren

      Stühlen und ihrem Sabbatglanz zu –

      zu Ehren.«21

      Doch geprägt hatten die Abende im Hause der Großmutter offenbar beide. Dann konnte sich Selma in Geborgenheit wiegen und die Wohnung der Großmutter zu ihrer Märchenwelt machen:

       … betäubend süßer Duft lullt ein,

       als wollt’ er aus dem Märchenschlaf Dornröschen rauben. 22

      Selmas Gedicht Stille wurde bisher nur in Bezug auf die Beschreibung gesetzt, die ihre Freundin Renée Abramovici in der späten Erinnerung über die ärmlichen Wohnverhältnisse abgab, in denen Selma groß wurde.

      Doch ist das Gedicht wirklich Spiegel einer armseligen Wohnsituation? Stille stimmt eher auf feierliche Ruhe und Reinheit ein. Selma schien beim Schreiben ihrer Verse festlich gestimmt gewesen zu sein. Glanz und Duft hat die Fünfzehnjährige in ihre Zeilen eingeflochten und sich aus der kümmerlichen Realität tragen lassen. Mag die Wohnung der Großmutter auch bescheiden gewesen sein – sie gab Selma Raum für ihren Kindertraum: der die rote Nelke zum Kleid der Engel, zum Kleid aus Goldstaub werden ließ.23 1939 wird Selma zur Großmutter ziehen.

      Die Trennung von der Großmutter


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