Selma Merbaum - Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben. Marion Tauschwitz
in den Tagen der Schiwa, der Trauerwoche. Das Merbaum’sche Schuhgeschäft wurde geschlossen. Sieben Tage lang. Sieben Tage lang Schweigen, sieben Tage lang Besinnen. Gemeinsam mit Familie und Freunden verharren, sich bekümmern. Gemeinsam mit Familie und Freunden essen. Kein Spiegel reflektiert den Schein der brennenden Kerze, die zur Erinnerung an den Verstorbenen entzündet wird. Denn die Spiegel werden verhängt: Den Toten will man nicht zweimal sehen, heißt es. Auch Eitelkeit soll außen vor bleiben. Immer wieder gesellen sich neue Besucher zu den Trauernden. Schweigen mit ihnen. Hocken und wippen auf unbequemen Schemeln und richten sich auf das Unabänderliche ein, weil die jüdische Religion nicht auf Verharren im Schmerz, sondern auf das Leben ausgerichtet ist.
Josef nahm die Arbeit im Schuhgeschäft deshalb so schnell wie möglich wieder auf – und zwar gemeinsam mit seiner Schwägerin, die sich in der Pflicht fühlte. Sie hatte in den vergangenen Monaten für die Pflege ihres Mannes keine Kosten gescheut. Nun saß sie auf einem Schuldenberg von fast einer Million Lei, die sie bei den Markenlieferanten »Derby« und »Baku« abzustottern hatte.4 Frieda war gezwungen, nach und nach selbst das Inventar ihres Ladens zu verkaufen.
Sie war nach dem Tod ihres Mannes mit Selma zu den Eltern in die Franzengasse 46 gezogen, nur einen Steinwurf von der Rapfgasse entfernt. Die freigewordene Wohnung übernahm nun Chaim Merbaum, der mit seiner jungen Frau Jente Blasenstein dort einzog. Friedas kleiner Laden war unabhängig vom dortigen Wohnhaus: Drei Stufen führten von außen zum Eingang hinunter.
Selmas Mutter war mit ihren dreiunddreißig Jahren eine junge Witwe. Schon ihrer kleinen Tochter zuliebe musste sie sich dem Leben zuwenden. Die jüdischen Gesetze hätten einer verwitweten Frau nach drei Monaten eine Wiederheirat zugestanden. Doch der Schloschim, der Trauermonat, war gerade um, als am 13. Dezember 1924 Dr. Scurteanu gegen Abend in das Jüdische Hospital in der Synagogengasse gerufen wurde. Helfen konnte der Arzt auch hier nicht mehr. Selmas Großvater Israel Schrager war den Folgen einer »Arterio Sclerose« erlegen. Dreiundsechzig Jahre alt war der Kantor der jüdischen Gemeinde nur geworden.5 Selma hatte innerhalb eines Monats Vater und Großvater verloren.
Es war ein Glück, dass Onkel Josef, der vertraute Bruder des Vaters, weiterhin um Selma herum war. Und auch Onkel David mit seiner kleinen Erika, die im selben Alter wie Selma war. Denn mit ihrem Cousin David kam Selmas Mutter bestens aus. Die Familien unternahmen so viel gemeinsam, dass man sagen konnte, dass »Selma und Erika zusammen aufwuchsen«.6
»Wenn Brüder beieinander wohnen und einer stirbt ohne Söhne, so soll seine Witwe nicht die Frau eines Mannes aus einer andern Sippe werden, sondern ihr Schwager soll zu ihr gehen und sie zur Frau nehmen und mit ihr die Schwagerehe schließen.«7 Dieses sogenannte Levirat hätte sich auch für Josef und Frieda angeboten. Waren sie nicht jung genug? Waren sie nicht ein gutes Team? Hatten sie nicht beide mit vereinten Kräften die gemeinsamen Schulden reduziert? Doch selbst der sozialverträgliche Aspekt schien die »Schwagerehe« nicht attraktiv gemacht zu haben. Als 1927 nur noch zwölftausend Lei Restschuld an »Derby« zu bezahlen waren, zog sich Josef aus dem gemeinsamen Geschäft zurück. Er ging weg – nur mit dem, was er auf dem Leibe hatte. War Frieda der Grund für die Trennung? Selmas Mutter wollte wieder heiraten. Doch Josef war nicht der Auserwählte.
1927 stellten sich Josef und Frieda dem Fotografen zu einem Abschiedsfoto.
Frieda und Josef
Die wirtschaftliche Not der vergangenen Jahre hatte Spuren hinterlassen. Beide wirken erschöpft. Frieda ziert die Eleganz ihres spitzenbesetzten Kleides, doch die junge Frau ist dünn geworden. Ihr widerspenstiges dunkles Haar, das sie Selma vererbt hat, bändigt sie mit einer großen Schleife zum Zopf. Josef an ihrer Seite verliert sich in seinem weiten Anzug. Doch er neigte wohl immer schon zum Schlanksein. Als die Zeiten bedrohlich wurden, sah er sich dürr wie »ein Skelett«.8 Auf dem Foto ähnelt Josef seinem Bruder Max – und dann auch wieder nicht. Josef hat nicht die aufgeworfene Oberlippe des Bruders. Auch in der Augenpartie unterscheiden sie sich. Josef schmückt ein modisches Menjou-Bärtchen. Wer die Fotografie genau betrachtet, empfindet einerseits die Vertrautheit des Paares, kann andererseits die Distanz zwischen ihnen nicht leugnen. Wieder ist die Ernsthaftigkeit der Pose wohl dem Zeitgeist geschuldet. Nicht aber die Melancholie, die Wehmut, die von den beiden ausgeht. Ratlos scheinen sie in eine ungewisse Zukunft zu blicken. Die in sorgsamem Sütterlin verfasste Widmung auf der Rückseite des Fotos soll optimistisch klingen, doch liest sie sich wie ein Seufzer: »Froh gedenket mein. In Lieb und Treu allzeit. Wenn in weiter Fern werd sein umgeb Euch Lust und Munterkeit.« »Bettelstudent« ist noch hinzugefügt worden – dachte die Verfasserin der Zeilen an den armen »Bettelstudenten« Symon, der in der Millöcker-Operette am Ende doch noch sein Glück findet?
Josef und Frieda hatten etliche Abzüge von dem Foto machen lassen und zur Verwandtschaft in alle Welt geschickt.9
Am 20. Mai 1927 heiratete die Witwe Frieda Merbaum den geschiedenen, siebenundreißigjährigen Händler Leo Eisinger, Löwi gerufen. Unter diesem Namen wurde er sogar in das jüdische Heiratsregister eingetragen.10
Hochzeitsregistereintrag: Friederika Merbaum und Löwi Eisinger
Über das Zusammentreffen von Leo und Frieda ist nichts überliefert. Auch Josef Merbaum schwieg sich später darüber aus. Hatte ihn die Hochzeit gekränkt? Der Kontakt zu den Meerbaums kühlte mit Friedas Hochzeit ab.
Zu Löwi Eisinger »schweigen die Quellen«11 nicht. Er war der Sohn des Viehhändlers Moses Eisinger und seiner Frau Rosa, Rosel gerufen. Eisingers und Merbaums mussten sich gekannt haben: Als sich die Eisingers nach dem Ersten Weltkrieg in Czernowitz niederließen, hatten sie mit Chaim Merbaum in der Steingasse jahrelang Haus an Haus gewohnt.
Davor waren Leos Eltern viel herumgekommen. Bis nach Böhmen hatte es Moses Eisinger verschlagen. Seine Frau stammte aus Rohozna im damals Böhmischen Kronland der Habsburgmonarchie. Dort war Leo am 5. Juli 1890 zur Welt gekommen. Vielleicht auch zehn Tage später. Wieder nehmen es Meldezettel und Gemeindebucheinträge mit den Daten nicht so genau. Doch sie legen Zeugnis ab über die unruhige Wanderschaft der Eisingers: 1910, 1915, 1916, 1917 bewegte sich die Familie rastlos von Ort zu Ort.12 Erst mit dem Ende des Krieges, als Rohozna der Tschechoslowakei zugeschlagen wurde, hatten sich die Eisingers in Czernowitz niedergelassen. Der deutschen Sprache wegen. Vielleicht auch, weil es Leos Vater Richtung Heimat zog. Er stammte aus dem nahen Sadagora.
»Sadagora«– die russische Übersetzung des Namens »Gartenberg«. Der deutsch-baltische Offizier Peter Nikolaus von Gartenberg hatte 1770 während des Russisch-Türkischen Krieges im Auftrag der Zarin Katharina der Großen eine Münzprägeanstalt am linken Pruthufer nahe bei Czernowitz eingerichtet. Aus dem Metall der erbeuteten osmanischen Kriegswaffen wurden die Münzen für den Sold der Soldaten der russischen Armee geprägt.
Viele Juden hatte von Gartenberg in Lohn gehalten. Nach der österreichischen Annexion der Bukowina 1774 waren sie mit Privilegien und Landbesitz erst gelockt, dann mit bürokratischen Zwängen vertrieben worden, als sie nicht länger dienlich waren. Erst als sich 1842 Israel Friedmann, der Führer der Chassidim, der Wunderrabbi, in Sadagora ansiedelte, stieg die Zahl der Juden wieder. Vor allem galizische Juden ließen sich vom Chassidismus und Prunk des Rabbis faszinieren – auch wenn die verwinkelten, kotbedeckten Straßen Sadagoras mit ihren kleinen schindelgedeckten Holz-Häuschen, in die niemals ein Sonnenstrahl drang, im krassen Gegensatz zum Prachtbau standen, in dem der Rabbi Hof hielt.
»Am Hof des Wunderrabbi von Sadagora lernte der Vater die schwierigen Geheimnisse […] Von Sadagora nach Czernowitz und zurück zum Heiligen Hof gingen die Wunder […]«13 – auch Rose Ausländer hatte der Wunderrabbi beeindruckt. Der in Russland eingebürgerten Czernowitzer Dichterin Klara Blum war dieser Paradiesvogel ebenfalls ein Gedicht wert.
»Man raunt: er kann Geburt und Tod erzwingen,
Auf einem Tüchlein fährt er übers Meer,
Sein Lächeln wird dir Glücksgeschäfte bringen,
Sein Zornesblick macht deine Taschen leer.