Selma Merbaum - Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben. Marion Tauschwitz
sollte sich dennoch als Segen erweisen – wenn auch leider nicht als Rettung. Vorübergehend aber konnte Not gelindert werden und Hoffnung aufflackern.
Wenn die Wohnsituation einengt, verbringen Kinder jede freie Minute in Wald und Flur, zumal, wenn eine Stadt wie Czernowitz mit Parkanlagen und Grünflächen gesegnet ist.
Der Volkspark versprach neben Natur immer auch noch Amüsement: Brezelmänner boten ihre Backwaren an. Ein holzgeschnitzter Musikpavillon lockte zum Toben, selbst wenn keine Kapelle spielte. Imbissbuden machten Kindern mit bunten »Kracherln«–»kleine Flaschen mit süßen, moussierenden Getränken«24 – den Mund wässrig. Wenn dann beim sonntäglichen Aufmarsch die Militärkapelle aus der nahegelegenen Kaserne aufspielte, bevölkerten selbst Kindermädchen der gutgestellten Familien den Park. Den Nachwuchs der Arbeitgeber als Alibi fest an der Hand, hoffte wohl jede der jungen Damen insgeheim, einem der feschen Soldaten bei vaterländischen Klängen näherzukommen.25
Die Liebe zum Volksgarten wurde und wird einem Czernowitzer in die Wiege gelegt. Bei Selmas Cousin Paul war das nicht anders. Schon als Kind verfiel er dem besonderen Zauber dieses Parks, in dem er endlich der Enge der elterlichen Wohnung seines Geburtshauses in der Wassilkogasse26 entkam. Lieber wollte Paul Prügel einstecken, als sich den Park verbieten zu lassen!
Wenn es ihn dorthin zog, nahm er gar nicht erst die Türe, sondern stieg durch die tiefen, ebenerdig gesetzten Fenster der Wohnung direkt auf den Hof hinaus. Seine kleinen Cousinen Selma und Edit brauchte er bei sonntäglichen Besuchen nicht lange zu diesem Kletterspaß zu überreden: hinaus in die Freiheit auf diesem ungewöhnlichen Weg. Hin zu den enormen Kastanienbäumen. Schon in der Josefsgasse um die Ecke säumten Kastanien den Weg und wuchsen sich in der Siebenbürgerstraße zu prächtigen Alleen aus.
»Erst jenseits der Kastanien ist die Welt.
Von dort kommt nachts ein Wind im Wolkenwagen
und irgendwer steht auf dahier.«27
Der Volkspark grenzt auch heute noch an den Botanischen Garten, dessen Pracht legendär war. Czernowitzer stellten den exotischen Pflanzengarten gern auf eine Stufe mit den weltberühmten Londoner Kew Gardens. Selma hat ihn auch gekannt. Hat dort »Fremdländische Orchideen« und »Nachtschatten« kennengelernt, mit denen sie später die Kapitel ihrer Gedichtsammlung Blütenlese überschreiben wird.
Nachwuchs von wohlhabenden Eltern traf man in den öffentlichen Parks eher selten an. Sie besuchten sich gegenseitig in ihren Privatgärten. Hauptsache aber war hier wie dort: draußen zu sein. Das Leben der Kinder spielte sich unter freiem Himmel ab. Draußen wurde gespielt und vorgelesen: klassische Märchen, deren Stimmung Selma in ihren Gedichten aufnahm wie ein altes Bild aus einem Märchen28. »Märchen und Mythen lagen in der Luft«29, erinnerte sich Rose Ausländer. Märchen der Gebrüder Grimm waren den Kindern die liebsten, vertraut auch die von Bechstein, Andersen und Hauff. Mütter, denen Bildung höchstes Gut war und die Wert auf die deutsche Sprache legten, lasen daraus vor: meist abends, die Familie um sich geschart – und vorgelesen wurde natürlich auf Deutsch.
Deutsch sprach Selma zu Hause. Deutsch sprach Selma mit ihren Freunden. Gutes Deutsch, wohlgemerkt. Nicht das Bukowiner Deutsch, das stark vom Jiddischen geprägt war und von den Wienern nicht nur wegen seines Nigun, seines Singsangs, verspottet wurde, sondern auch seiner Syntax wegen. Im Czernowitzer Deutsch sagte man zum Beispiel nicht »Ich bin hingegangen«, sondern »Ich bin gegangen hin«. Wer gutes Deutsch sprach, vermied das Perfekt, wenn man sich der Vergangenheitsform bedienen wollte: »Ich las, ich ging« statt »Ich habe gelesen, ich bin gegangen.« »Gejiddeltet« werden sollte bitteschön auch nicht. Und keine doppelten Verneinungen!
Doch spöttelten die einen, so schätzten die anderen die schöpferische Inspiration, mit der das Jiddische die Sprache bereicherte. »Denn unter der Oberfläche des Sprechbaren lagen die tiefen, weitverzweigten Wurzeln der verschiedenen Kulturen.«30
Alle Sprachgruppen – das Rumänische, Ruthenische und auch das Russische machten da keine Ausnahme – peppten die eigene Sprache mit jiddischen Wörtern auf. Ukrainisches und Ruthenisches wurde germanisiert und fügte sich dann neu und interessant: »Dill mich bitte nicht mit diesem pisten Gerede« war damals eine gebräuchliche Wendung unter den Jugendlichen: »piste« hatten sie im Sinne von »langweilig« dem ukrainischen Wort »pusto« (leer, hirnlos) entlehnt, »dillen« stand für ellenlanges, sinnloses Gerede. Manche dieser Worte haben sich in unsere Zeit hinübergerettet: Aus dem Jiddischen »rewach«–»Vorteil« oder »Zins«– ist »Raibach« übernommen. »Koscher« hat sich von seiner religiösen Bedeutung »recht, rein« gelöst. Ist etwas »nicht koscher«, so ist es »nicht ganz geheuer«. Zocken, Mischpoke, Meschugge, Ramsch, Maloche – die Liste lässt sich beliebig fortführen.
Nicht zuletzt dieser multikulturellen Sprachvielfalt verdanken Dichter wie Paul Celan und Rose Ausländer ihren Mut zu extravaganten Sprachartefakten. Selma hatte nicht genug Zeit gehabt, diesen Mut für Sprachakrobatik zu entwickeln.
Aber selbst die, die das Jiddische im Alltag ablehnten, begeisterten sich in seiner Kunstform dafür. Für die jiddischen Fabeln des zeitgenössischen Dichters Elieser Steinbarg zum Beispiel. Cousin Paul konnte die Fabeln Steinbargs bald auswendig vortragen, obwohl er kein Jiddisch gelernt hatte. Die vom Spieß und der Nadel gehörte zu seinen Favoriten:31
»[…]
›Verzeiht‹, spricht die Nadel, ›ich mein’s ja nicht schlecht,
doch möchte ich wissen, was ihr denn stecht?‹
›Ich? – Menschen, Menschen steche ich‹,
spricht der Spieß, ›das weißt du nicht?‹
Da aber lachte die Nadel, (vielleicht lacht sie noch!)
›Menschen sticht er, hört es doch!
Wie lächerlich und ohne Sinn,
so wahr ich eine Nadel bin, sticht man Stoffe mit Bedacht,
entstehn nützlich feine Sachen,
doch Menschen? – stecht ihr sie auch Tag und Nacht,
was wollt ihr dann aus ihnen machen?‹«32
Selma konnte jiddisch lesen, verstehen und schreiben. Sie übersetzte Gedichte aus dem Jiddischen und nahm sie in ihren Gedichtschatz auf. Die dem hebräischen Alphabet angepassten Schriftzeichen beherrschte Selma perfekt und brachte sie flüssig zu Papier.
An Steinbargs Fabeln wird Selma das Unkonventionelle geliebt haben. Sie waren ungewöhnlich, originell und lebensnah. Hatten Pfiff. Dafür war Selma immer zu haben. Ihr gefiel, dass ihnen der lehrhafte Dünkel der althergebrachten Tierdichtungen fehlte.
Elieser Steinbarg war ein »kleiner Mensch, dicklich, mit einem runden Kopf, wenigen Haaren, einer blassen, breiten, feucht-schimmernden Stirn, mit einer runden Brille auf der flachen, drolligen Nase, wo sie sich gerade noch halten kann. Ein merkwürdiger Mensch, ein Gnom.« Mit den »ernsten, kurzsichtigen Augen eines Kindes«.33 Steinbarg hatte sich den Blick der Kinder bewahrt. Sicherlich nicht nur, weil er von seiner Statur her kaum mehr als Kindergröße erreicht hatte.
Wurden Steinbargs »Lebende Bilder« im jüdischen Kulturhaus aufgeführt, schnappten sich Mütter und Väter ihren Nachwuchs, denn Alt und Jung ließen sich von den Aufführungen gleichermaßen begeistern. Außerdem hatte Elieser Steinbarg einen Riecher für Talente. Mütter vor allem hofften, dass Steinbarg die schlummernden Begabungen ihrer Sprösslinge entdeckte. So wie bei Joseph Schmidt. Der weltberühmte Tenor hatte als Kind bei Steinbarg gespielt und gesungen, bevor seine Lieder schließlich »um die Welt« gingen. Auch wenn der Barde des Jiddischen in Czernowitz nur kurz seine Wirkung entfalten konnte – er erreichte dort Unsterblichkeit.
Grenzenlos war die Trauer, als Steinbarg 1932 überraschend an den Folgen einer Blinddarmoperation starb: die Menschenmenge, die den Sarg begleitete – unüberschaubar. Rose Ausländer schrieb anlässlich der Gedenkfeier im Czernowitzer »Morgenblatt« über den Dichter, » … der allen Wesen und stummen Dingen die verborgenen Zungen löste und sie uns durch eine Sprache und einen Rhythmus nahebrachte, der uns den Atem raubt und in uns Visionen von unendlichen Lebendigkeiten und Märchengestalten