Selma Merbaum - Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben. Marion Tauschwitz
geklöppelte, mit Knöpfen verzierte – oder den Pepita-Schleifen. Mal groß gebunden, mal klein geschlungen. Die Fantasie stieß schnell an kleinkarierte Grenzen. Koketterie war eben verpönt: Selmas Klassenkameradin Margit vergaß ihr Leben lang nicht, wie eine Schulinspektorin sie zum Waschbecken zerrte und ihren Kopf grob unter das Wasser tauchte: »Wollen wir doch einmal sehen, ob Deine schönen Locken auch wirklich natürlich sind.«60
Selmas Klasse 1937/38. Selma, 1. Reihe, 4. v. rechts; letzte Reihe: Erna Isser, 1. v. rechts; Blanka End, 3. v. rechts; Renée Abramovici, 6. v. rechts
Der Schulalltag war bedrückend und da war es schwer, leicht zu sein. Unangekündigte Prüfungen von externen Kommissionen drangsalierten die überwiegend jüdischen Schülerinnen in besonderem Maße. Bei diesen sogenannten »Extemporalen« erschienen die Lehrer morgens mit einheitlichen Fragebögen und hörten ab. Auf Rumänisch, was für viele Mädchen schon schlimm genug war. Doch dass diese Prüfungen vorzugsweise samstags stattfanden, war eine gezielte Diskriminierung: Orthodox erzogene Jüdinnen schrieben am Sabbat nicht – und ernteten zur Häme noch schlechte Noten.
Nicht alle verweigerten sich der Rumänisierung. Margit und Renée zeigten sich auf Fotos schon mal in der rumänischen Nationaltracht: in feinen »ie«, den aufwändig bestickten Trachten-Blusen, zu denen bunte Röcke getragen wurden. Nur wenige Jahre später wird sich Margit erneut einer fremden Kultur beugen müssen, in die sie wieder ungefragt hineingestoßen worden war. Sich beugen heißt nachgeben, um nicht zu zerbrechen. Deshalb spielt Margit 1954 in »moldauischer« Tracht mit ihrem Akkordeon zum Tanz auf, als sie das sibirische Wassjugan nach der Deportation als Heimatersatz annehmen musste.61
Selma sperrte sich nicht gegen die rumänische Kultur. Sie suchte die Begegnung mit deren Literatur, denn offensichtlich beherrschte sie die rumänische Sprache gut. Und zwar so gut, dass sie im Schulfach »limba romănă« fast durchweg gute bis sehr gute Noten erreichte: 9,4 von 10 möglichen Punkten im Endzeugnis von 1936/37. Das war beachtlich. Selma las Romane und Gedichte von zeitgenössischen rumänischen Schriftstellern.
Die Verse des Dichters Discipol Mihnea erschienen 1940 in Czernowitz. Selma wird sie übersetzen. Ihrem Gedichtband Blütenlese wird sie Worte des rumänischen Schriftstellers und Anwalts Ionel Teodoreanu als Motto voransetzen. Dass Selmas Rumänisch-Zensuren 1940 abrupt absackten, war den politischen Umständen geschuldet.
Französisch war Selmas erste Fremdsprache und wurde mit Rumänisch ab der ersten Klasse im Lyzeum unterrichtet. Doch »limba francezâ« gehörte wohl nicht unbedingt zu Selmas Stärken. Andererseits drohte sie auch nie unter die magische Marke »5« zu rutschen, die eine Sonderprüfung erforderlich machte. Bei Latein war das schon eher der Fall, das ab der dritten Klasse dazukam und in der sechsten Klasse tatsächlich nachgeprüft werden musste. Die »Situația în Iunie« 1940 bedeutete für Selma »corig. Latina, Matematica«.62 Doch im Juni 1940 war sowieso alles in Auflösung begriffen.
Selma wird bedauert haben, dass »Limba germană« erst 1938, im fünften Jahr auf dem Lyzeum als Fach dazukam. Denn Deutsch war ihre Stärke. Endlich konnte sie die Sprache, in der sie sich wirklich zuhause fühlte, auch in der Schule anwenden. In allen schriftlichen Deutsch-Prüfungen hatte Selma die Bestnote erreicht. Dass ausgerechnet in der mündlichen Prüfung eine »9« ihr im Zeugnis die volle Punktzahl 10 verhagelte, wird Selma geärgert haben.
Unbehaglich blieb die ganze Schulzeit. Die Lehrer fühlten sich nicht besser. Selma und ihren Mitschülerinnen entging nicht, dass einige der verbliebenen jüdischen Lehrer übertriebene Anpassung und Strenge an den Tag legten, um der rumänischen Führung ihre Loyalität zu demonstrieren.
Uneingeschränkte Sympathie brachten alle Mädchen Panja Butschakowska entgegen. Sie war der pittoreske Lichtblick im düsteren Schulalltag. Die Schuldienerin hatte ihre dicken Zöpfe mit einem Kopftuch festgezurrt, das doppelt unter ihrem Kinn verknotet war. Drei bis vier farbenprächtige Röcke trug die füllige Polin stets übereinander, die sich vielschichtig über ihren Knien bauschten und den Blick auf derbe Hosen freigaben, wenn Panja breitbeinig am Ende der großen Aufgangstreppe des »Hofmann-Lyzeums« thronte, ja, dort regelrecht Hof hielt. Eine entwurzelte Vertreterin der »Rzeczpospolita«, der polnischen Adelsrepublik, die die Bukowina – vor der Habsburgischen Monarchie – hundertfünfzig Jahre lang geprägt hatte. Panja – die Herrin der Zeit. Mit einer schweren Messingglocke läutete sie die Schulstunden ein und beendete damit auch den Unterricht. Panja – die Herrin für süße Momente. Jeden Morgen schoben sich die Mädchen zwei und zwei durch den engen Toreingang an Panja vorbei und hatten schon das selbstgezimmerte Holzkistchen auf ihrem Schoß im Blick. Denn dort lagen die runden Himbeerbonbons, die sie den Mädchen zusteckte. Jedem nur eines. Ausnahmen machte sie nicht.63
Später, in der großen Pause, baute sich Panja im Foyer des Eingangsbereiches auf. Die Fenstersimse zweckentfremdete sie als Auslage für ihre hausgemachten »Leberknödelchen« und platzierte darauf die scharf gewürzten Fleischbällchen auf kleinen Papieruntersetzern. Für einen Lei war diese Herrlichkeit zu haben.64 Eigentlich nicht überteuert, denn schon eine Kugel Eis kostete einen Lei. Für Margit waren die Fleischknödelchen die Würze im fad gewordenen Schulalltag des »Hofmann-Lyzeums«.
Der in den meisten Fällen aber eine Qual blieb. Selma war nicht die einzige, die sich in den höheren Klassen dem Unterricht entzog, indem sie sich in ihre eigene Welt flüchtete. Jüdischen Schülerinnen erging es an anderen Schulen ähnlich. Auch Liane Schindler, die sich später Ilana Shmueli nannte, verdämmerte ihre Schulzeit mit einem »phantasiereichen Halbschlaf«65. Und erzählte man nicht auch von Cousin Paul, dass er einfach geistig abtauchte, um sich der missliebigen Realität zu entziehen? Selma machte es ihm gleich: Sie rutschte während des Unterrichts einfach unter die Schulbank. Nicht, weil sie schüchtern war, sondern weil sie dort ihre Ruhe hatte und lesen konnte, was ihr behagte. Sehr früh schon begann sie mit »Heinrich Heine, Rainer Maria Rilke, Paul Verlaine und den damals populären indischen Weisheiten des Rabindranath Tagore«66. Renée erinnerte sich noch viele Jahre später, dass sie dabei Schützenhilfe leistete und die Lehrer so gut sie konnte von Selmas Versteck ablenkte.
Renée und Selma hatten die gemeinsamen Schuljahre zusammengeschweißt, sie zu besten Freundinnen gemacht. Die beiden Mädchen hatten den gleichen Schulweg. Im Unterricht saßen sie in derselben Bank. Ob auch der Verlust eines Elternteils die beiden Mädchen von Anfang an so schnell zueinanderfinden ließ? Renée hatte eine Stiefmutter, nachdem ihre leibliche Mutter an Blutvergiftung gestorben war.67
Die rumänischen Pädagogen nahmen wenig Anteil am Schicksal ihrer Zöglinge. Auch ihrem Lernverhalten standen sie eher gleichgültig gegenüber. Nur Fehlzeiten vermerkten sie penibel in den Klassenlisten. Doch sie scherten sich wenig darum, dass sich die Mädchen stunden- und tagelang dem Unterricht entzogen. Fast schien es dem Lehrpersonal entgegenzukommen, dass jüdische Schülerinnen durch Leistung nicht hervorstachen. Deshalb wurde keine neue Klasse eingerichtet, sondern der Klassenteiler angehoben, als ab 1937 immer mehr jüdische Mädchen aus rumänischen Gymnasien ins »Hofmann-Lyzeum« drängten. Im antisemitischer werdenden Klima schien es Eltern noch ein geschützter Hort zu sein. Im Schuljahr 1937/38 – im für Juden so dramatischen Goga-Cuza-Jahr – saßen in Selmas Klasse schließlich achtundfünfzig Schülerinnen. Doch das Lerntempo wurde der erschwerten Unterrichtssituation weder angepasst noch wurde den ungenügenden rumänischen Sprachkenntnissen vieler Mädchen Rechnung getragen: Die rumänischen Lehrer erklärten grundsätzlich nur ein einziges Mal. Wer nicht verstanden hatte, musste zu Hause eben nacharbeiten. Vierteljährliche Zeugnisse kontrollierten den Lernerfolg.68 Reichte die Notenskala auch von 1 bis 10, so waren viele jüdische Schüler, die die rumänischen Gymnasien besuchten, überzeugt: »10 kriegt nur der liebe Gott.«69 Juden erreichten dort selten mehr als 7, auch wenn sie sich noch so sehr bemühten. Einzig der Rabbi, der die Mädchen in jüdischer Religion unterrichtete, unterlief das System: Alle Mädchen mosaischen Glaubens bedachte er die Schuljahre hindurch mit der Bestnote 10. Andere Fachlehrer schmälerten gute Leistungen, indem sie den Schnitt ungeniert drückten. Kurz und gut: »Das jüdische Schulkind zog durch die Schule wie durch die Hölle.«70
Dagegen konnten sich rumänische Mädchen im Himmel wähnen: