Im Reformhaus. Jürgen Kaube
deutschen Nobelpreisträger nach 1945. Jene Zahl ist aber zuletzt, zumindest gefühltermaßen, sprunghaft angestiegen, bedauerlicherweise ohne jeden erkennbaren Zusammenhang mit Bildungsreformen. Das dürfte diese Kenngröße ein paar Jahre lang für Bildungsreden ungeeignet machen.
Je nach politischer Couleur und Amt wird an dieser Stelle der Bildungsrede dann die Abzweigung zu einer Klage darüber genommen, daß wir zuwenig in unsere Köpfe investieren. Die deutschen öffentlichen Bildungsausgaben in Prozent am Bruttoinlandsprodukt liegen beispielsweise hinter denen von Slowenien und Italien. Oder man weist umgekehrt darauf hin, was in den vergangenen Jahren schon alles zur Besserung der Bildungslage geschehen ist. So oder so fällt das Wort »Begabungsreserve«. Das kann in einem Abschnitt darüber geschehen, daß das deutsche Bildungssystem – gemeint sind hier die Schulen – zu viele Talente auf der Strecke läßt, weil es hochgradig ungerecht ist. Dafür werden wahlweise Pisa-Zahlen zitiert, Befunde über die Schullaufbahn von Kindern bildungsarmer Kreise, OECD-Vergleiche, nach denen es andernorts ganz anders zugehe, oder der aktuelle Anteil von Arbeiterkindern an der Studentenschaft.
Hat man auf diese Weise einen hohen Handlungsbedarf nachgewiesen, bleibt noch, ihm die Richtung zu weisen. Das ist nun nicht mehr schwer, denn Zahlen, die zu gering sind, rufen zu ihrer Erhöhung auf: Wir brauchen mehr Abiturienten und mehr Studenten. Derzeit sind gut vierzig Prozent eines Jahrganges studienberechtigt, gut dreißig Prozent studieren. Setzen wir uns also zum Ziel, diese Anteile um, sagen wir: zehn Prozent zu steigern. Man könnte auch fünf Prozent sagen oder fünfzehn. Es liegt an den Zahlen nur, daß sie wachsen, so wie auch niemand fragt, was genau in Slowenien und Italien mit den höheren Anteilen des Bildungsetats am Sozialprodukt denn geschieht oder wie sich die Chancen eines deutschen Realschülers, Beschäftigung zu finden, zu denen eines finnischen Abiturienten verhalten.
Abiturienten sind außerdem meist Gymnasiasten, und Gymnasiasten sind Schüler, die nicht auf der Haupt- oder Realschule sind. Setzen wir uns also das Ziel, erst die Haupt- und dann die Realschule abzuschaffen, das dürfte die Zahl der Abiturienten erheblich erhöhen. So lautet an dieser Stelle die sozialdemokratische Redevariante. Bei ihr ist allerdings – Achtung, Wahlkampf! – nicht von »Abschaffung des Gymnasiums« zu sprechen, sondern von »Länger gemeinsam lernen«. Christdemokraten halten davon weniger, weshalb ihnen aber nur bleibt, eine Erhöhung der Bildungsquote durch Herabsetzung der Leistungsanforderungen zu erwirken. Denn wo sonst soll sie herkommen, die effiziente Bildungsvermehrung? Wenn an Hamburger Realschulen ein Schüler, der in einer Klassenarbeit die Hälfte der gestellten Fragen beantworten kann, inzwischen eine Zwei erhält – es gab Zeiten, da reichte dies in jeder Schulform gerade mal so eben für ein »ausreichend« –, dann ist das Hinweis auf die auch beim Abitur erforderlichen Maßnahmen. An den Hochschulen wird bereits seit einiger Zeit so verfahren.
Wir brauchen, sagt die Bildungsrede schließlich, »mehr Bildungsbeteiligung«. Zugleich sollen aber auch alle Bildungsbeteiligten sich schneller bilden. Deshalb wurde flächendeckend die achtjährige Gymnasialzeit eingeführt, es war ja »Luft im System«; in demselben System, das zunehmend studierunfähige Absolventen hervorbringt, denen von den Hochschulen – ebenfalls in kürzerer Zeit und darum ebenfalls unter Entwertung der Abschlüsse – das Prozentrechnen und das Bücherlesen beigebracht werden müssen. Und sie sollen natürlich in der kürzeren Zeit auch mehr von dem lernen, was sie für die Globalisierung wirklich brauchen: Wirtschaftskenntnisse, Chinesisch oder Spanisch, Medienkompetenz, Gesundheitskunde, Teamfähigkeit, Präsentationstechniken, Ethik. Natürlich sind auch Latein (Abendland), Musik und Tanz (der ganze Mensch), Mathematik (Ingenieursbedarf) und Biologie (Gentechnik) »wichtiger denn je«. Mehr Stoffe, schneller, für immer größere Kreise, bei konstanten Ausgaben – nun, es sind Wertereden, die keine Rücksicht auf Knappheiten oder den Verstand nehmen müssen.
Machen wir es kurz: Der beste Indikator für die Krise des Bildungssystems sind die Reden, die zu seinem Wachstum aufrufen. Denn sie zeigen nicht nur einen Mangel an Kenntnissen und Logik bei denen, die sie halten. Sie beweisen auch, daß ihnen jegliche Anschauung von Schulen und Hochschulen fehlt.
Bildungsreden haben oft etwas Deprimierendes. Nicht nur, weil sie so undurchdacht sind, und auch nicht, weil es keine Taten gäbe, die man auf sie beziehen könnte. Leider gibt es solche Taten durchaus. Wir kennen sie unter dem Titel »Reform«, und sie sind gerade dabei, unsere Universitäten ganz sinnlosen Belastungstests auszusetzen sowie das Lehrpersonal an den Schulen zu zermürben. Die Tristesse der gängigen Bildungsrede besteht vielmehr darin, daß sie sich Bildung nur als eine Durchgangsstation zu etwas Besserem vorstellen kann: zu Wohlstand, Aufstiegsmobilität, Wettbewerbsfähigkeit.
Gewiß wäre es töricht, den Zusammenhang zwischen einer gut ausgebildeten Bevölkerung und dem Wohlstand eines Landes zu leugnen. Alle ökonomischen und soziologischen Studien, die sich damit befassen, sprechen dafür, daß Schulen und Universitäten, die funktionieren, einer Gesellschaft guttun. Aber angenommen, der Wohlstandszuwachs bliebe auch mit mehr Abiturienten und besseren Hochschulen und einer intelligenten frühkindlichen Erziehung aus, weil selbst finnische oder kanadische Bildungsverhältnisse nicht verhindert hätten, daß die Lehman-Bank den Bach heruntergeht. Angenommen, man studierte und stiege trotzdem nicht auf. Wäre Erziehung dann gescheitert? Hätten wir uns dann die Kosten und die Zeit für Bildung lieber erspart? Das Elend der Bildungsdebatte liegt in der Unfähigkeit, die Schule als Schule und die Universität als Universität wertzuschätzen: ihre Anforderungen, ihren Eigensinn, ihre guten Traditionen.
Das reicht bis in elementare Einstellungen hinein. Wer heute ein Kinderspiel erwirbt, muß damit rechnen, daß auf der Packung gut sichtbar festgehalten ist, das Spiel fördere die »Feinmotorik«, die »Auge-Hand-Koordination« und »das freie Spiel« des Kindes. Es handelte sich in unserem Fall um neun kleine Holzkegel samt Kugel. Solche Aufschriften dokumentieren recht gut das gegenwärtige Verhältnis zu Bildungsfragen. Ehedem Selbstverständliches wird in einen Leistungszusammenhang gebracht, der seinerseits aber wie eine Parodie von Leistung wirkt. Mitgeteilt wird, das Spiel fördere das Spielen. Wie überhaupt alles, was das Kind angeht, so haben auch Spiele es zu fördern: seine Fähigkeiten, wahlweise auch sein Gehirn oder seine Chancen. Nicht nur das Kegeln, sondern jegliche Form von Bildung wird dabei betrachtet wie ein Mittel, das dem Nachwuchs zur Stärkung verabfolgt wird und zuvor auf seinen Vitamingehalt zu prüfen ist.
Wenn Bildung als ein solches Vitamin erscheint, wird an den Schulen nicht mehr gelesen und gerechnet, weil Bücher wie Zahlen hintersinnige Objekte sind, weshalb sie die Phantasie anregen und den Verstand herausfordern, sondern weil Texte die Lesekompetenz und mathematische Aufgaben die Rechenkompetenz fördern. Das Wort »Kompetenz« bedeutete früher einmal »Zuständigkeit«, ist aber inzwischen als betriebswirtschaftlich-erziehungswissenschaftlicher Doppelbalg zum geschwollenen Ersatzbegriff für »Können« geworden. In der Folge gibt es nichts mehr, wozu man nicht kompetent gemacht werden kann: Teamkompetenz, interkulturelle Kompetenz, Konfliktkompetenz, Unterstreichkompetenz. Dies alles sind keine erfundenen Fälle, sondern Einträge in der endlosen Liste der Unterrichtsziele neuester Pädagogik.
Das Ideal des Unterrichts, vom Kindergarten bis zur Hochschule, sind dann der Methodenkurs und das Kommunikationstraining. Und tatsächlich war es der Eindruck von Beliebigkeit, den die Unterrichtsgegenstände auf viele Erziehungswissenschaftler machen, der sie zu der Ansicht führte, es komme in der Schule nicht auf die Geometrie, die Physiologie der Pflanzen oder Kleists Novellen als solche an, sondern auf »das Lernen des Lernens«. Das ist schon richtig, aber es ergibt sich eben erst als Nebeneffekt der Beschäftigung mit Sachfragen. Doch das Interesse an ihnen wird bei Lehrern wie Schülern geschwächt, wenn alle Inhalte des Unterrichts nur noch als beliebig austauschbare Hebel zur Erlangung von Lernerfahrungen betrachtet werden. Sobald Schule wie Universität den Eindruck vermitteln, die eigentlich interessanten Dinge kämen erst, wenn man ihren Hindernisparcours aus merkwürdigen Leistungsanforderungen überwunden hat, müssen sie mit nachlassender Lernbereitschaft rechnen. Irgendwann nämlich teilt sich den Schülern und Studenten der Eindruck mit, daß Schule und Studium nur einen instrumentellen Sinn haben, daß Bildung das Mittel ist, um Zertifikate zu erlangen.
Was ist Bildung stattdessen? Zunächst einmal ist sie weniger das Vermögen mitzumachen als dasjenige, einen Schritt zurückzutreten. Darin steckt, wohlverstanden, keine Polemik gegen die Berufswelt. Sondern nur eine gegen die Vorstellung, es nütze diesen Berufswelten