Im Reformhaus. Jürgen Kaube
Bei den Hochschulen und Gymnasien trifft das zumindest dort, wo das Interesse am Wachstum der eigenen Organisation nicht völlig die Sprechweise beherrscht, auf eine eigene Diagnose von Bildungsdefiziten. Man konstatiert mangelnde Hochschulreife der Erstsemester, also einen erheblichen Nachschulungsbedarf. Man beobachtet Unvertrautheit mit elementaren Lektüren, ja mit dem Lesen selber, von Mathematik ganz zu schweigen, deren Stoff der achten Gymnasialklasse von angehenden Betriebswirten nachgeholt werden muß. Man hält es an Universitäten nicht für ausgeschlossen, demnächst Einheimische in Deutschkursen unterweisen zu müssen, an den Schulen beobachtet man Verschiebungen von Unterrichtsstoff in spätere Klassen, und in allen Bildungseinrichtungen hat man sich seit langem an Prüfungen gewöhnt, die kein »nicht bestanden« mehr kennen. Die Tatsache, daß die entsprechenden Klagen über den Zusammenhang von »upgrading access and downgrading skills« bildungsgeschichtlich nichts Neues sind, sagt übrigens nichts darüber, ob sie heute zutreffen. Forschung dazu fehlt.
Immerhin ist aber seit langem klar, was Bude als die »Exklusivitätsfalle« und als den »perversen Effekt der Inflation von Bildungszertifikaten durch Bildungsexpansionen« bezeichnet. Wenn ein Betriebswirtschaftsstudium und nicht nur die Mittlere Reife samt Sparkassenschule von denen verlangt wird, die in Bankfilialen Bausparverträge verkaufen dürfen, geht das nicht auf neue Bedürfnisse der Wissensgesellschaft zurück, sondern auf die Bildungsexpansion. Es entwerten sich alle Abschlüsse unterhalb des Abiturs, und wenn daraufhin der Zugang zum Gymnasium zusätzlich erweitert wird, verliert auch das Abitur an Informationswert, und es setzen neuerliche Distinktionsbemühungen ein. Wer in sie – Privatschulen, Kindergärten mit Frühchinesisch, Auslandsjahre etc. – am besten investieren kann, ist nicht schwer zu beantworten. Der starre Blick auf die Verteilung der Zertifikate und die Illusion, gesellschaftliche Gleichheit lasse sich durch pädagogische Gleichheit herbeiführen, verschärft in Wahrheit die Positionskämpfe und die Lage der in ihnen Unterliegenden.
Der zweite stets wiederholte Befund gilt dieser Lage und betrifft den in Deutschland besonders ausgeprägten Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft. Kinder leitender Angestellter, heißt es beispielsweise, hätten eine 2,4 mal so hohe Chance, ein Gymnasium zu besuchen wie Facharbeiterkinder. Allerdings dürften sich auch leitende Angestellte, sofern sie nicht in der Ungleichheitsforschung tätig sind, unsicher sein, was das genau heißen soll. Es ist zumeist die etwas eigenwillige Formulierung dafür, daß 52 Prozent der Angestelltenkinder das Gymnasium tatsächlich besuchen und 26 Prozent die Realschule, wohingegen die Verteilung bei den Facharbeiterkindern 21 Prozent zu 25 Prozent ist. Berechnet man nun das Verhältnis der Kreuzprodukte (52 mal 25 geteilt durch 21 mal 26), so erhält man das Chancenverhältnis.
Daß der entsprechende Wert vor sechzig Jahren noch bei 36 lag und fast niemand das erwähnt, ist so bemerkenswert wie die Tatsache, daß er gar nichts mit der Wahrscheinlichkeit der Bildungschancen einer bestimmten Person zu tun hat. Die nämlich ist ja nicht nur »Facharbeiterkind«, sondern eventuell auch Mädchen, Tochter einer Mutter, die vorliest, Schülerin einer ländlichen Grundschule, Migrantin, Freundin von Kindern leitender Angestellter und so weiter – mit jedes Mal anderen Chancenverhältnissen.
Aber die Bildungssoziologie interessiert sich, wie man ihren Lehrbüchern entnehmen kann4, nicht sehr für die Wirklichkeiten, aus denen ihre Daten stammen, sie hält die Daten selber für die Wirklichkeit. Eine Berechnung beispielsweise, wie hoch die relativen Bildungschancen für Arbeiterkinder und Oberschichtenkinder sind, deren Eltern jeweils schuladäquat bzw. -inadäquat erziehen, wird nicht angestellt. Dabei wäre es soziologisch ja gerade wissenswert, wodurch eine solche gängige »Variable« wie die Schichtzugehörigkeit, der Beruf oder der Bildungsgrad des Vaters Einfluß auf die kognitiven Möglichkeiten und das Verhalten von Kindern hat. Sind die Ressourcen (Geld, Zeit, Kraft, Wissen) ausschlaggebend, die Einstellungen zur Schule, die Kommunikationsstile, die Risikowahrnehmung? Studien wie die des italienischen heute in Oxford lehrenden Soziologen Diego Gambetta, die sich nicht mit pauschalen Verweisen auf ungleich verteiltes »kulturelles Kapital« begnügen, sondern Lebensentwürfe und ungleich verteilte Risikobereitschaften sowie Kostenkalkulationen einbeziehen, sind die Ausnahme geblieben.5
Die gängige Bildungssoziologie führt also vor das Paradox, daß sie die Familien und die Schulen als die Ursachen der Bildungsungleichheit bezeichnet, aber weder über Familien noch Schulen viel zu sagen hat. Wieso beispielsweise werden überhaupt Eigenschaften des Haushaltsvorstandes zur »Erklärung« von Schulerfolgen herangezogen, wo es doch in vielen Fällen nach wie vor – und selbst bei Doppelverdienern – die Mütter sind, denen die meisten familiären Erziehungsaufgaben zufallen? Oder: Was ist aus den Bildungsambitionen der Arbeiterschaft geworden? Weshalb wird die soziale Lage in vielen Milieus inzwischen oft als schicksalhaft interpretiert? Weil sie objektiv fataler ist als in der Unterschicht vor hundert Jahren?
Einer Antwort auf solche Fragen kommt man nicht durch Statistiken näher. Die Bildungsforschung aber ist in Deutschland eine Art Filiale des Statistischen Bundesamtes und des Pisa-Konsortiums geworden. Das Max-Planck-Institut gleichen Namens befaßt sich mit allem Möglichen – Altern, Rationalität unter Ungewißheit, Geschichte der Gefühle –, aber nicht mit Unterricht, Erziehung und familiärer Sozialisation. Und was als »empirische Bildungsforschung« immer mehr Lehrstühle an sich zieht, ist tatsächlich eine Disziplin, deren Empirie selbsterzeugte Zahlenkolonnen sind.
Wie das statistische Bewußtsein die Soziologie der Schule überlagert, zeigen Untersuchungen wie eine am Berliner Wissenschaftszentrum durchgeführte, in der eine Kritik des gegliederten Schulsystems daraus gezogen wird, daß die Ergebnisse von Intelligenz- und Persönlichkeitstests an siebzehn- bis neunzehnjährigen Schülern gegenüber der Verteilung derselben Schüler im Alter von zehn Jahren auf die hergebrachten drei Schultypen abwichen.6 Auf dem Gymnasium fanden sich sowohl überproportional Schüler mit akademisch gebildeten Eltern als eben auch Schüler, die weniger Punkte in jenen Tests erzielten als Real- und sogar Hauptschüler, die zumeist Eltern ohne Abitur und Studium haben. Das könnte dem schon bei Gambetta ausgeführten Befund entsprechen, daß die Mittelschicht dazu neigt, ihre Kinder zu überschätzen, in Arbeiterfamilien hingegen Bildungslaufbahnen eher konservativ geplant werden. Für Gambetta war letzteres allerdings keine Frage der Fehleinschätzung, sondern einerseits der ökonomischen Ressourcen, andererseits der größeren Empfindlichkeit der Arbeiterfamilien für schulische Mißerfolge, die schneller als Hinweis auf eine gebotene »bescheidene« Bildungskarriere gedeutet werden.
Die Berliner Forscher hingegen hielten nicht nur Intelligenztests an und Selbstauskünfte von Achtzehnjährigen zu ihrer Persönlichkeit für informativ in der Frage, wie sich das Lernverhalten dieser Schüler während ihrer Sekundarschulzeit darstellte. Die Möglichkeit, daß die Realschülerin durch ihre Schule – was mehr heißt als »durch den Schultyp ihrer Schule« – zu dem wurde, als was sie mit achtzehn dann im Test erschien, wird nicht erwogen. Wozu die Schüler ihre Intelligenz verwenden, kommt im Argument ebenfalls nicht vor. Bude, der die Berliner Untersuchung zitiert, weist auf die Möglichkeit hin, dass Begabung auch zum Normbruch und zur Distanzierung gegenüber Leistungserwartungen eingesetzt werden kann.
Die Forscher jedoch schließen daraus, daß Intelligenztests nur »12 bis 26 Prozent« der Schulleistung erklären und dreißig Prozent ihrer Stichprobe zu hoch oder zu niedrig plaziert waren, auf ein fehlkonstruiertes Schulsystem. Da die Lehrer offenbar entweder nicht zutreffend benoten bzw. die falschen Laufbahnempfehlungen abgeben oder Lehrer wie Eltern die Potentiale der Kinder nicht erkennen, sei eine möglichst späte Selektion geboten. Daß die Schule nicht Intelligenztests, sondern Unterricht, Klassenarbeiten und Urteile von Lehrern anbietet, erscheint vor den Prämissen dieser Art Bildungssoziologie erstaunlich. In ihrer Konsequenz läge es deshalb nicht einmal, die Schultypen abzuschaffen, sondern die schulische Selektion durch eine soziologisch-psychologische zu ersetzen und die Laufbahnempfehlung aus Intelligenztests abzuleiten.
Das Desinteresse der Bildungssoziologen an der tatsächlichen Schule, von deren richtiger Einrichtung sie doch zugleich alles erwarten, hat methodische Gründe. Der in Chicago lehrende Soziologe Andrew Abbott hat vor längerem schon in brillanten Aufsätzen auf die Blindheiten einer Forschung hingewiesen, für die soziale Wirklichkeit aus den kausalen Zusammenhängen besteht, die zwischen Personenmerkmalen (Geschlecht, Konfession, Einkommen der Eltern, Wohnort etc.) und anderen Personenmerkmalen