Der große Betrug. Gerd Ludemann
sondern bereits auf die Verfasser der biblischen Schriften. Wenn aber schon im Neuen Testament der überwiegende Teil der Jesusworte und -taten Jesus nachträglich in den Mund gelegt bzw. zugeschrieben wurde, so ist es an der Zeit, in allgemeinverständlicher Form die wichtigsten dieser unstreitig unechten Jesusworte und -taten zu benennen und gleichzeitig eine Auswahl aus dem wenigen erhaltenen Echten von Jesus, das konsensfähig ist, anzuführen. Diesen Zweck erfüllt das vorliegende Buch. Gleichzeitig dient es als populäre Zusammenfassung und Ankündigung eines großen Werkes zu Jesus, das Analysen sämtlicher überlieferter Jesusworte und -taten enthält und für jeden einzelnen Vers der vier neutestamentlichen Evangelien und des neugefundenen alten Thomasevangeliums ein begründetes Urteil über Echtheit und Unechtheit abgibt. Es wird unter dem Titel »Jesus nach 2000 Jahren. Was er wirklich sagte und tat« im nächsten Jahr im zu Klampen Verlag erscheinen.
Zugleich legt das vorliegende Buch Rechenschaft darüber ab, warum ich selbst fortan einen Rückgang auf die Verkündigung Jesu als Begründung des christlichen Glaubens für illegitim halten muß. Ich bedauere aufrichtig die ganz und gar unzureichenden Versuche, die ich in der Vergangenheit in dieser Richtung unternommen habe, stehe aber uneingeschränkt zu den in meinen bisherigen Büchern vorgelegten historischen Analysen bzw. Rekonstruktionen. Ich bitte jetzt darum, diese ausschließlich im Sinne des Zieles der Aufklärung zu lesen, wie es am Ende des ersten Kapitels entfaltet wird. Legt man aber dieses zugrunde, trifft entsprechend auf das in diesem Buch behandelte biblische Phänomen, Jesus – fromm, aber skrupellos – eigene Meinungen in den Mund zu legen, nur der Ausdruck »Betrug« zu, wie ihn auch schon die jüdischen Zeitgenossen Jesu und der Apostel gebraucht haben (vgl. Mt 27,64).
Ohne die Hilfe von Frank Schleritt hätte die Arbeit nicht abgeschlossen werden können. Meiner langjährigen Sekretärin Silke Röthke danke ich für die Erstellung des Manuskripts.
Gerd Lüdemann
I
Brief an Jesus
Lieber Herr Jesus, so habe ich Dich seit meiner Kindheit angeredet und es beim Tischgebet (»Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne uns und was du uns aus Gnaden bescheret hast!«) jahrelang gesagt. Ein anderes Gebet (»Herr Jesus, du Sohn des lebendigen Gottes, erbarme dich meiner!«) habe ich am Abend wie eine magische Formel immer wieder gesprochen, obwohl ich gar nicht mehr wußte, was ich da eigentlich tat. Aber gerade deswegen hat sich mir Deine Anrede als »Herr Jesus« so tief eingeprägt. Dieses Beten zu Dir als dem Herrn Jesus hat sich aus Gründen der Gewohnheit, Gedankenlosigkeit und Angst auch noch in späteren Zeiten fortgesetzt, obwohl ich schon seit langem wußte, daß Du ganz anders warst, als es mir von meinen Eltern, meinen Lehrern und meinem Pastor nahegebracht wurde. Du bist mir als Person, die ich anreden kann, nämlich ganz fremd geworden. Denn das allermeiste, was Du der Bibel zufolge gesagt bzw. getan hast, hast Du gar nicht gesagt und getan. Außerdem bist Du gar nicht der, als den Dich Bibel und kirchliche Tradition darstellen. Du warst nicht ohne Sünde und bist nicht Gottes Sohn. Du wolltest überhaupt nicht für die Sünden der Welt sterben. Und was mir besonders schmerzlich war: Du hast das Abendmahl, das ich jahrelang allsonntäglich zu Deinem Gedächtnis beging, nicht eingesetzt. Das Brot, das ich aß, war nicht Dein Leib, und der Wein, den ich trank, war nicht Dein Blut. Es war nur meine Sehnsucht, die das alles erhoffte. Sie hat sich vollständig auf die Diener Deiner Kirche verlassen. Aber statt meinen Zweifel daran ernstzunehmen, ob ich, fast wie ein Kannibale, wirklich Dein Fleisch essen und wirklich Dein Blut trinken soll – als Juden war Dir selbst immerhin Blutgenuß strengstens verboten –, haben sie mich auf Martin Luthers Erklärung verwiesen: Das Heilige Abendmahl »ist der wahre Leib und Blut unseres Herrn Jesu Christi, unter dem Brot und Wein uns Christen zu essen und zu trinken von Christus selbst eingesetzt«.
Doch sie haben Dich zu Unrecht in Anspruch genommen. Denn Du warst ganz anders. Du hast wie ein Magier Dämonen ausgetrieben und darin die Ankunft des Reiches Gottes geschaut. Du hast intimen Kontakt zum Teufel gehabt und ihn schließlich wie einen Blitz vom Himmel fallen sehen. Du erwartetest in naher Zukunft den Zusammenbruch der ganzen Welt, die dem neuen Reich Gottes endgültig Platz machen sollte. Einstweilen führtest Du mit Deinen Anhängern ein unstetes Wanderleben im Dienste des Gottesreiches und lehrtest einen grandiosen Verhaltenskodex, der das mosaische Gesetz im Lichte der Liebe interpretiert und damit die besten Traditionen Israels verkörpert. Dazu gehören Deine ethischen Maximen, die auch den Feind in die Liebe einschließen, und Deine tollkühnen Gleichnisse, die – echt menschlich – Helden auf krummen Wegen zeigen.
Aber es hilft alles nichts: Auch Du bist gestorben, und zwar im besten Mannesalter. Auch Du hast den Kelch des Todes getrunken, ja, trinken müssen – unvorhergesehen. Trotz tiefer Erfahrungen mit Deinem Gott, den Du vertrauensvoll Vater nanntest und von dem Du praktisch alles erwartet hast, sind auch Deine Zukunftshoffnungen zerstoben. Sie sind mit der brutalen Realität zusammengeprallt. Spätestens am Kreuz hast Du lernen müssen, was es heißt, ein gottverlassenes Opfer zu werden. Und hätten Deine Anhänger, die verständlicherweise von Dir begeistert waren, nicht den Glauben an Deine Auferstehung verkündet, so wären all Deine Worte und Taten wie Blätter vom Wind verweht worden. Hätten sie ferner nicht Deine baldige Wiederkunft zum Gericht und ewigen Heil gepredigt, so wäre das christliche Gedankengebäude bald in sich zusammengefallen.
Aber Deine Wiederkunft fällt aus, da Deine Auferstehung gar nicht stattfand, sondern nur ein frommer Wunsch war. Das ist deswegen sicher, weil Dein Leib im Grab verwest ist, wenn er überhaupt ins Grab gelegt und nicht von Geiern und Schakalen aufgefressen wurde. Gewiß, Deine Anhänger haben den Glauben an die Auferstehung und Deine Wiederkunft gebraucht, um nach dem Schock von Karfreitag nicht zu verzweifeln, aber heute? Noch immer – oder heute wieder – klammern sich die Christen an Deine Auferstehung, wobei viele längst die ursprüngliche Bedeutung von Auferstehung hinter sich gelassen haben. Man gibt zu, daß Dein Leichnam gar nicht wiederbelebt wurde, und spricht lieber von Deinem Sein bei Gott. Gleichzeitig legen Bischöfe, gebildete Kirchenfunktionäre und christliche Intellektuelle, zu denen manchmal auch Theologieprofessoren gehören, Wert darauf, das Bekenntnis zur Auferstehung festzuhalten, egal, was darunter zu verstehen sei. Aber dieses intellektuelle Verwirrspiel kann auf die Dauer nicht gutgehen und verlangt nach rücksichtsloser Aufklärung. Auf Projektionen, Wünschen und Visionen kann keine echte Religion aufgebaut werden, auch dann nicht, wenn sie so gewaltig auftritt wie die christliche Kirche, die Dich sogar zum Weltenherrn und kommenden Richter erhoben hat. Du aber bist nicht der Weltenherr, als den Dich Deine Anhänger infolge Deiner Auferstehung erklärt haben, und Du wolltest es auch nicht sein. Du hast das zukünftige Reich Gottes verkündigt, gekommen aber ist die Kirche. Du hast Dich getäuscht, und Deine Botschaft ist von Deinen Anhängern zu ihren eigenen Gunsten gegen die historische Wahrheit verfälscht worden. Deine Lehre war ein Irrtum, denn das messianische Reich ist ausgeblieben.
Bitte, schau Dir an, was seit Deinem Tod bis heute alles in Deinem Namen verbrochen worden ist! Es beginnt schon im Neuen Testament, wo man Deine Landsleute als Söhne des Teufels bezeichnet, nur weil sie nicht an Dich glauben. Das Infame daran ist, daß Dir diese Worte der Verdammung in den Mund gelegt werden, als ob Du sie gesprochen hättest. Dieser Antisemitismus setzt sich dann in der gesamten Kirchengeschichte fort, und zwar nicht als Abweichung von den ursprünglichen Lehren der Kirche, nein: er mußte sich ausbilden, weil Du zum Weltenherrscher erhoben worden warst. Fortan bestraftest Du vom Himmel aus und im Auftrag Deines allmächtigen Vaters die ungläubigen Juden für ihren Unglauben, für ihren Ungehorsam und für ihre Untaten, die sie gegen Dich und Deine Gemeinden begangen haben sollen. Sage nicht, das alles sei eine Verirrung und Verfälschung Deiner Botschaft gewesen! Vielmehr ist die christliche Kirche, wie aus ihrer zweitausendjährigen Geschichte hervorgeht, notwendig so; sonst hätte sie sich gar nicht gebildet, und ihre pure Existenz wäre unmöglich und überhaupt überflüssig gewesen. Daher können wir wirklich nicht mehr zur Tagesordnung übergehen und fortan Deine wahre Botschaft verkündigen, als ob es die letzten 2000 Jahre nicht gegeben hätte.
Ich empfinde eine große Sympathie für Deine Landsleute, die Dich in unserer Zeit durch die Ergebnisse der historischen Forschung als eigenen Bruder haben neu entdecken können, ohne die kirchliche Lehre von Deiner Auferstehung und Deiner Wiederkunft zu übernehmen. Aber gleichzeitig sehe ich selbst keinen Grund, nun zur jüdischen Religion überzutreten. Ich bin selbst