Vogelgrippe. Tino Hemmann

Vogelgrippe - Tino Hemmann


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keine.« Kevin wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn.

      Am See kamen Kevin und sein Freund Matti nicht an. »Bleibst du zum Abendessen, Kevin? – Wir wollen grillen«, hatte Matti gefragt.

      »Ich weiß nicht … – Gehen wir nicht zum See?«

      »Keine Lust«, murrte Matti. »Wir können im Pool baden, wenn du willst.«

      Baden im Pool war cool. Es gab ein Sprungbrett und immer etwas zum Trinken. Am See war mehr Platz für Fußball, aber notfalls ging das auch in Mattis Garten.

      »Okay, wenn du meinst … – Ja, ich bleibe.«

      Nach dem Abendessen zeigte Matti dem Freund das neue Zelt. Es stand am Waldrand, weitab vom Haus seiner Eltern.

      »He, willst du mit hier schlafen? Los, Kevin, wir haben Ferien!«, rief der dunkelblonde, kurzhaarige und zehnjährige Junge.

      Kevin überlegte einen Moment. »Okay, Matti. Schlimmer kann’s nicht werden. Mama ist so oder so stinksauer auf mich.«

      Sie rauften im Spaß miteinander und irrten verschwitzt durch den dunklen Wald. Sie genossen ihre Freiheit.

      Irgendwann erwachte Kevin im Zelt, ein Bein von Matti lag über ihm.

      Leise kroch er hinaus und machte sich aus dem Staub.

      Kevin lief am Rand der breiten Straße. Sie zog sich durch den gesamten Ort. Die meisten Autos, die diese Bundesstraße nutzten, nahmen die vierunddreißig Häuser nicht wirklich wahr. Sie bremsten nur, wenn ein Blitzer am Straßenrand stand, denn der sprach sich schnell herum.

      Jockey, der Hund vom alten Kramer, kam schwanzwedelnd angelaufen. Eine erbärmliche Kreatur, klein, schwarz, verlaust und selten bei seinem Herrn.

      »Hey, Jockey, was machst du so früh hier draußen?« Kevin kniete sich auf den Boden und kraulte dem Hund das Fell. Jockey ließ sich sofort auf den Rücken fallen. »Na, du Schmusemaus.« Der Junge lachte und streichelte den Bauch des Hundes.

      Kevin sah erschrocken auf. Ein bekanntes Geräusch näherte sich. Ein roter Kombi fuhr in den Ort, zog eine Staubwolke hinter sich her. ›Wahrscheinlich ein Frühaufsteher, der am Wochenende zur Schicht muss‹, dachte Kevin. Im gleichen Moment bekam es Jockey mit der Angst zu tun. Er rappelte sich auf und lief zur Straßenmitte, wo er wie angewurzelt stehen blieb und in die Richtung sah, aus der das Fahrzeug rasch näher kam.

      »Jockey!«, schrie Kevin. »Komm her, du blöder Hund!« Der rote Kombi wuchs rasch. »Jockey, verdammt!«, Kevins Stimme überschlug sich. »Los, komm endlich her!« Wütend stampfte der Junge auf den Boden. Der Hund rührte sich jedoch nicht vom Fleck. Bedrohlich wuchsen die Dimensionen des Autos. »Jockey!«, brüllte der Junge erneut, ließ die gelbe Plastiktüte fallen und rannte los.

      Im gleichen Moment lief der Hund von der Straße. Kevin stolperte, strauchelte und fiel auf den Asphalt. Hektisch atmend lag er auf dem Boden und hörte das Quietschen der Bremsen. Eine Tür öffnete sich, ein Schatten tauchte über Kevin auf, da war noch ein Stechen in seinem Kopf …

      Finsternis umgab ihn.

      »Hallo?« Kevin bewegte einen Arm. Die Augen hatte der Junge geöffnet. »Hallo?« Flüsternd die Frage. Es war dunkel, als wäre wieder Nacht. Kevin fühlte mit der flachen Hand um sich. Er lag in einem Bett. Es war schmal und das Kopfende ragte nach oben. ›Das Auto!‹, durchfuhr es den Jungen, ›Ich bin in einem Krankenhaus!‹– »Ich wurde überfahren!« Kevins Hand glitt über die eigene Haut. Da waren keine Wunden. Er setzte sich auf das Bett, die Füße berührten einen kalten Boden. »Hallo!«, rief er lauter. »Mir tut nichts weh! – Hallo!?« Kevin kratzte sich den Kopf, drehte mit einem Finger neue Locken in die Haare. Dann stand er auf.

      Dieses verdammte Zimmer hatte kein Fenster. Und der Boden war eisig. Der Junge streckte die Arme aus und setzte einen Fuß vor den anderen. Wie blind bewegte er sich. Drei Schritte, dann berührte seine Hand eine glatte, kalte Wand. Vorsichtig ließ Kevin die Handfläche über die Wand gleiten, bis er die Zimmerecke erreicht hatte. Wieder folgte die Hand einer Wand, sieben Schritte, bis zur nächsten Ecke. Kevin fror und zitterte erbärmlich. Erneut lief er sieben Schritte und fühlte die dritte Zimmerecke. Nacheinander rieb er die Fußsohlen an der Wade des jeweils anderen Beines. Noch immer berührte seine Handfläche jene Zimmerwand. Und noch einmal ging Kevin sieben Schritte.

      »Das waren jetzt vier Ecken«, flüsterte er und zupfte nervös an den dünnen Bermudas. Die Arme vor sich nach unten gestreckt, suchte er das Bett, fühlte ein eisernes Rohr und kroch auf die Matratze. Das Bett stand mitten im Raum. Auf dem Bett lag die dünne Decke, in der ein wenig von Kevins Körperwärme steckte. Eilig kroch der Junge unter diese Decke, krümmte sich zusammen, die Arme eng am Körper. Er zitterte.

      Keine Tür – kein Fenster.

      Kevin rieb sich die Oberarme. Das war kein Krankenhaus.

      Als der Junge erneut die Augen öffnete, blendete ihn Licht. Diesen Geruch glaubte Kevin zu kennen! Öl. Brennendes Öl. Und wieder diese Kälte. Minuten vergingen. Noch immer lag Kevin zusammengekrümmt unter der Decke, blickte durch einen schmalen Spalt in den Raum. Er beobachtete die winzige Flamme, die ihn geblendet hatte.

      »Wo bin ich?«, flüsterte er, kaum dass seine Stimme zu hören war. »Wo bin ich hier?« Kevin erwartete keine Antwort. Etwas mehr lüftete er die Decke und schob den schmerzenden Kopf hervor. Die Ölfunzel stand auf dem Boden. Nur die Funzel. Wo war er nur? Mit einem Ruck drehte sich Kevin auf den Rücken und schrie auf. Er zog die Decke wieder über den Kopf. Trotzdem nahmen seine Sinne das Bild wahr: Ein runzliges, altes Gesicht, zerzauste Haare, eine Warze auf der Nase.

      Kevins Zittern nahm zu, doch für den Moment spürte er die Kälte nicht. Zögernd zog der Junge die Decke von den Augen. Er spürte einen unfeinen Atem.

      »Das fragst du?«, meinte das runzlige Gesicht mit der Stimme einer alten Frau. Die Lippen bewegten sich mit ihren Worten.

      Kevin setzte sich mit einem Ruck ins Bett. »Wo bin ich?«, fragte er wieder. »Wer sind Sie?«

      Die Alte trug ein hässliches Kleid und saß auf einem hölzernen Schemel. Der Junge erkannte, dass der Raum tatsächlich keine Tür hatte. Er glaubte, den Schatten einer Treppe zu erkennen.

      »Wie ist dein Name, Junge?«, fragte die alte Frau barsch und näherte sich mit ihrem hässlichen Gesicht dem Kopf des Kindes.

      Kevin wich zurück und spürte die eisigen Stahlrohre des Bettes im Rücken. »Kevin.«

      »Kevin, also …« Die Alte kam immer näher. Sie verströmte einen ekelhaften Geruch. »Woran kannst du dich erinnern, Balg?« Sie flüsterte und ihre Zähne knirschten.

      Der Junge sah schwarze Zahnstumpen. »Ich erinnere mich …, ich …« Kevin konnte sich gut erinnern. »Da kam ein Auto und … und Jockey war auf der Straße … Und … und …«

      Die grauen Lippen der Alten berührten Kevins Wange.

      »Wer ist Jockey?«

      »Der Hund vom Herrn Kramer.«

      »Was meinst du, was ist dann passiert?«

      Wieder sah der Junge den bedrohlichen Schatten, hörte das erbärmliche Kreischen der Bremsen. »Ich … ich weiß es nicht!«, entfuhr es ihm laut. Sie sollte weggehen!

      »Was denkst du, was ist geschehen?« Nun berührte sie sein Ohr.

      Den Jungen fröstelte. Auf seinen Armen bildete sich eine Gänsehaut. Tränen traten in die Augen. »Ich weiß es nicht.«

      »Du weißt es nicht? – Soll ich dir verraten, was dann passiert ist? – Soll ich es dir verraten?« Ihre Warzennase schnüffelte an Kevins Ohr. »Was hast du auf der Straße gemacht? – So früh am Morgen? Was hast du getan?«

      Kevin schloss die Augen, um die Alte nicht zu sehen. Er schwieg. Doch er fühlte, dass sie an ihm roch, spürte angeekelt ihre Berührungen. Er sah ihr schreckliches Gesicht, ohne die eigenen


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