Die Brücke, die ihr Gewicht in Gold wert war. Wolfgang Teltscher
in eine Offiziersposition in der deutschen Wehrmacht nicht mehr aufzuhalten. Er kannte natürlich die Volkssagen um den Nibelungenschatz, aber auch er wusste nicht, wo dieser auf dem Grund des Rheins ruhte. Er plante daher, sich selbst einen Schatz zu schaffen. Um das zu erreichen, betrog er nicht nur die Menschen am Rhein, sondern das gesamte deutsche Volk.
Er suchte Häuser oder Wohnungen in der Umgebung der Brücke auf, die den Eindruck machten, von wohlsituierten Menschen bewohnt zu sein. Er ließ die Leute mit großem Nachdruck wissen, dass er von der Obersten Heeresleitung beauftragt sei, Schmuckstücke wie Goldringe, Halsketten, Armbänder oder Ähnliches einzusammeln. Das sei notwendig, um die Wehrkraft des deutschen Heeres zu stärken, und sie würden für ihre Opfer nach Ende des Krieges reichlich belohnt werden. Drei ihm untergeordnete Soldaten waren als Handlanger in seine Machenschaften eingeweiht. Sie gaben ihren Opfern zu verstehen, dass jeder Widerstand zwecklos sei, der Führer erwarte in dieser schweren Stunde des deutschen Volkes von jedem einen Beitrag zum Gelingen des baldigen Endsieges. Niemand wagte, sich diesen Anordnungen zu widersetzen, niemand wollte seine Familie in Gefahr bringen, weil er zu hartnäckig an weltlichen Gütern hing.
Im Laufe der letzten Kriegswochen war durch diese verbrecherische Aktion einiges an Werten zusammengekommen. Die ergaunerten Schmuckstücke waren mehr als ausreichend, um den Männern, vor allem dem Offizier, nach dem Krieg als Anfangskapital für einen Neubeginn zu dienen, egal, ob Deutschland verlieren oder gewinnen würde. Die Soldaten hatten im hinteren Bereich des Tunnels, in den die Gleise der Züge von der Brücke mündeten, eine Stelle ausgesucht, wo sie nachts ihre Beute heimlich verscharrten, mit der Absicht, diese nach Kriegsende ebenso heimlich wieder auszugraben. Dieser Plan funktionierte, zumindest der Teil, der davon ausging, dass keiner ihrer anderen Kameraden etwas von diesen nächtlichen Aktivitäten mitbekam.
Anfang März 1945 gelang es den Amerikanern, die Brücke zu erobern. Darüber waren sie selbst überrascht, denn zu diesem Zeitpunkt rechnete die alliierte Heeresführung nicht mehr damit, dass noch eine funktionsfähige Brücke über den Rhein existierte. Diese Tatsache ging später als das Wunder von Remagen in die Geschichte des Zweiten Weltkrieges ein. Die Brücke hatte allen Versuchen standgehalten, sie zu zerstören, obwohl sie, je nach Kriegslage, erst von Feind und dann von Freund bombardiert und beschossen worden war. Kurz bevor die Alliierten sie einnahmen, hatte sie einen letzten verzweifelten Sprengversuch der Deutschen überstanden. Man hatte jedoch nur minderwertigen Sprengstoff zur Verfügung, dazu lediglich die Hälfte der für diese Sprengung eigentlich notwendigen Menge, außerdem war das Zündkabel in einem schadhaften Zustand. Alles keine idealen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Sprengung. Die Brücke erhob sich nach der Zündung des Sprengstoffes kurz von ihren Sockeln, setzte sich dann wieder auf ihnen nieder und fiel nicht ins Wasser wie von den Deutschen geplant. Sie war zwar beschädigt, aber verwendungsfähig. Da die deutsche Führung Schuldige für diesen Misserfolg brauchte, wurden fünf Offiziere, die für die geplante Zerstörung zuständig gewesen waren, nach einem kurzen Prozess vor einem Standgericht hingerichtet.
Die Amerikaner überquerten den Rhein mit ihren Panzern trotz Beschuss ohne entscheidende Verluste. Viele deutsche Soldaten, die versucht hatten, die Brücke bis zur letzten Patrone zu verteidigen, gerieten in Gefangenschaft. Nach der Eroberung versuchten die Alliierten, den Schaden an der Brücke zu reparieren, um den nachrückenden Militäreinheiten den Übergang über den Rhein zu ermöglichen. Das gelang, wenn auch nur für eine Woche; aber das reichte den amerikanischen Streitkräften, um sich östlich des Rheins zu etablieren. Dann brach die Brücke zusammen infolge der Sprengschäden, Bombardierungen und der Belastung durch das Übersetzen von schweren Panzern. Nur die Endtürme an beiden Ufern blieben stehen. Einige Pfeiler im Fluss ragten noch für einige Jahre in die Höhe und hielten nutzlos gewordene Planken mit Eisenbahngleisen in der Luft. Zu diesem Zeitpunkt hatten die alliierten Truppen am Ufer in Erpel den Nachschub mit Pontonbrücken gesichert. Bei dem Zusammenbruch der Ludendorff-Brücke kamen über dreißig Menschen zu Tode, die meisten davon waren amerikanische Soldaten, aber auch Kriegsgefangene, die bei den Reparaturarbeiten eingesetzt wurden. Zu den Toten gehörte auch der Offizier, der sich die verbrecherische Beschlagnahme des Schmucks ausgedacht hatte.
Seine Gehilfen hatten ebenfalls nicht viel Glück. Keiner von ihnen kam in den Genuss des Schatzes, wie sie es sich bei ihrem bösen Tun ausgemalt hatten. Zwei der drei Soldaten wurden nach dem Verlust der Brücke von der Wehrmacht an andere Fronten geschickt. Einer von ihnen kam in den letzten unsinnigen Kriegstagen ums Leben, der andere geriet in russische Kriegsgefangenschaft und wurde nach Sibirien verschleppt, ohne dass man je wieder von ihm hörte. Beide hatten keine Möglichkeit gefunden, ihr Geheimnis um die vergrabenen Schätze preiszugeben.
Nur dem dritten, Engelbert Bergmeister, erging es besser. Er desertierte von der deutschen Wehrmacht, geriet jedoch ebenfalls in Kriegsgefangenschaft. Er wurde, wie viele seiner Kameraden, in dem Lager auf den Wiesen am Rhein zwischen Remagen und Sinzig untergebracht. Das war wegen der dort herrschenden Bedingungen ein hartes Los für alle Gefangenen, von denen viele nicht überlebten. Für Engelbert war es trotzdem ein glücklicher Umstand. Seine Familie kam aus Remagen und er hatte es nicht weit nach Hause, als er nach einigen Monaten aus dem Schlamm des Lagers entlassen wurde. In dieser Zeit hatte er sein Wissen um den vergrabenen Schmuck mit niemandem geteilt. Ende 1945 kehrte er in das Haus seiner Eltern in der Hermann-Göring-Straße zurück, die nun natürlich nicht mehr so hieß.
Beim Lesen rutschten die letzten Worte am Ende der Zeilen immer wieder aus seinen Augenwinkeln. Das ging zwei Tage so, wurde nicht besser, aber er dachte an nichts Böses, am wenigsten an einen Schlaganfall oder daran, dass er hätte tot umfallen können. Es wird Zeit, meine Brille überprüfen zu lassen, beruhigte er sich und ging zur Augenärztin. Die machte die üblichen Untersuchungen, um seine Sehstärken zu überprüfen, und schickte ihn als dringenden Fall in die Notaufnahme des Krankenhauses in Stade, denn damals lebte er noch in Niedersachsen.
Im Eingangsbereich der Notaufnahme herrschte Hochbetrieb, trotzdem fragte man ihn sofort, warum er gekommen sei. Er erzählte von seinem Besuch bei der Augenärztin, sie habe ihm geraten, sich hier zu melden, um sich wegen Verdachts auf einen Schlaganfall untersuchen zu lassen. Dann beschrieb er seine Symptome.
»Wann sind die zum ersten Mal aufgetreten?«
Er versuchte, sich zu erinnern. »Ich glaube, das war irgendwann gestern Morgen, vielleicht auch vorgestern Abend. Es geht mir schon viel besser.«
Warum er nicht eher gekommen sei, fragte die Dame hinter dem Empfangstresen überrascht. Auf jeden Fall sei er kein Notfall mehr, er möge bitte im Wartebereich Platz nehmen, man würde ihn aufrufen, wenn er an der Reihe sei. Er wartete eine gute Stunde, bis er zu den Ärzten durfte. Die bestätigten die Diagnose der Augenärztin; er hatte tatsächlich einen Schlaganfall erlitten. Er versicherte auch ihnen, es ginge ihm schon viel besser, aber darauf wollten sich die Mediziner nicht einlassen. Er wurde in einem fahrbaren Krankenbett in die Stroke-Unit im dritten Stock transportiert und während der nächsten Stunden an verschiedene komplexe Apparaturen angeschlossen. Die bestätigten die Diagnose noch einmal.
Er verbrachte zehn Tage im Krankenhaus, wurde ständig mit seinem Bett durch kahle Gänge zu neuen Untersuchungen geschoben und an weitere Maschinen angeschlossen. Er hatte keine Vorstellung gehabt, was die moderne Medizin für Patienten wie ihn bereithielt. Seine Frau besuchte ihn täglich und ließ ihn wissen, wer von den Freunden und Bekannten angerufen hatte und ihm eine baldige und völlige Genesung wünsche. Er wunderte sich, dass so viele Leute an seinem Schicksal Anteil nahmen. Manche von den Namen, die seine Frau erwähnte, sagten ihm nicht viel, aber er freute sich über jeden.
Wenn er nicht gerade an einem Schlauch oder Kabel hing, durfte er sich auf den Gängen des Krankenhauses frei bewegen. Kam seine Frau in solchen Momenten zu Besuch, lud er sie zu Kaffee und Kuchen ins Restaurant im Erdgeschoss ein. Sie saßen dort im Halbdunkeln zwischen Patienten in Trainingsanzügen und Bademänteln und deren Besuchern. Im Raum herrschte gedrückte Stimmung und Marder fühlte sich dann ziemlich krank. Er war froh, danach wieder in sein helles Einbettzimmer zurückkehren zu dürfen. Diesen Luxus hatte er sich gegen einen Aufschlag geleistet, weil er Angst gehabt hatte, mit einem oder mehreren Kranken in einem Zimmer eingesperrt zu sein, die nachts schnarchten