Tigersturz und Ringerbrücke. Frank Rudolph
führen zu können, sind nicht Geld oder materieller Luxus die Grundlage, sondern einzig und allein ein gesunder, gut funktionierender Körper, dessen Fähigkeiten wir vollkommen zu nutzen in der Lage sind. »Erst kommt der Körper, dann das Gut«, lautet ein altes Sprichwort, dem wir nichts hinzufügen müssen.
Maik Albrecht und Frank Rudolph, 2014
Die Ziele dieses Buches
Jeder Mensch hat seine eigenen Gründe für sein Training. Die einen wollen sich gesunderhalten, die anderen möchten stärker werden – für Kampfspiele, für reale Auseinandersetzungen, für den Wettkampf oder nur zum Selbstzweck, das ist individuell sehr verschieden. Manche Menschen wollen einfach nur herausfinden, wie belastbar ihr Körper ist und wo die eigenen Grenzen liegen. Doch nur sehr wenigen Trainierenden gelingt es, ihre Fähigkeiten wirklich erschöpfend zu entwickeln, da ihnen das Wissen darüber fehlt, wie dies zu bewerkstelligen sei. Bis zur Erschöpfung zu trainieren oder den Körper während der Übungen von Apparaten überwachen zu lassen, führt in der Regel nicht zu diesem Ziel. Genauso wenig helfen diverse Nahrungsergänzungsmittel oder gar Hormonpräparate.
In den Kampfkünsten ist das körperliche Training die eigentliche Essenz, nicht die Techniken. Im Gegenteil, Formen und Techniken entwickelten sich erst im Laufe der Zeit als Medium der Wissensübermittlung. Heute stellen sie auch ein Mittel dar, die Massen in den großen Verbänden kanalisieren, unterhalten und finanziell ausbeuten zu können. In den authentischen, auf kämpferische Effizienz ausgerichteten Kampfkünsten lernen die Praktizierenden nach wie vor die Techniken als Mittel zum Zweck und nicht als Selbstzweck. Die Ausbildung schärft den Geist, stärkt den Willen und formt den Körper der Schüler. Den Körper so zu schmieden, dass wir die Fähigkeit erlangen, die erlernten Prinzipien und Techniken in realen Kampfsituationen anzuwenden, uns also im Kampf effektiv zu bewegen, war zu allen Zeiten oberstes Ziel jedes Meisters der Kampfkunst, sei es in Europa oder in Asien. Und als ebenso wichtig galt es, durch das Training den Körper gesundzuerhalten. Die entsprechenden Trainingsmethoden erfordern Disziplin, Leidenschaft und das notwendige Verständnis und Wissen um unser wertvollstes Gut – unseren Körper.
Wir haben von der Natur jede Fähigkeit mitbekommen, um effektiv kämpfen zu können. Der menschliche Körper gibt uns alles, was wir brauchen. Wir haben vier Gliedmaßen, mit denen wir zerstörerische Schläge austeilen können, wir haben Zähne zum Beißen und Finger zum Kratzen und Stechen … Die Kampfkunst dient uns dazu, unsere natürlichen Körperwaffen zu stählen und sie effektiv einsetzen zu können. Sie sorgt
dafür, dass wir unsere natürlichen Anlagen schneller und gezielter umzusetzen vermögen, sie erhöht unsere Kraftreserven. Sie lehrt uns, wie wir uns fokussieren können. Hier geht es nicht um Techniken, es geht darum, unseren Körper gesundzuerhalten und ihn zu »schärfen«. Dies muss einheitlich geschehen, das heißt, der Körper als Ganzes muss trainiert werden, ohne dass bestimmte Körperteile bevorzugt oder vernachlässigt werden. Nach der chinesischen Kampfkunst-Trainingslehre müssen beispielsweise die Beine genauso flexibel sein wie die Arme. Umgekehrt sollen die Arme genauso viel Kraft haben wie die Beine. Dieses Prinzip galt übrigens auch im deutschen Turnen des 19. Jahrhunderts. Wie das alles zu erreichen ist, erfahren Sie in diesem Buch.
Das wirklich Traditionelle und Essentielle in der Kampfkunst wie im Sport ist das systematische harte körperliche Training. Das war zu allen Zeiten und in allen Kulturen so. Über die Jahrhunderte haben sich die Meister außerordentlich viele Gedanken zum Training gemacht. Im antiken Griechenland experimentierten die Paidotriben (Trainer von Athleten) und die Aleipten (»Einsalber« von Athleten, die aber auch als Trainer fungierten) mit verschiedenen Trainingsmethoden, Diäten und Massagen. In Rom waren es die Doctores und die Lanista, welche sich um die Gladiatoren bemühten. Sie alle erschufen Trainingstheorien, die zum Teil bis heute gültig sind. Die Athleten wurden dadurch in die Lage versetzt, sich flexibel an die Wettkampfbedingungen anzupassen und automatisch optimale Bewegungen auszuführen. Um Techniken in dem Sinne, wie wir das heute verstehen, ging es beim antiken Training eher weniger.
Trainieren Sie Ihren Körper, bis er seine bestmögliche Gesundheit erreicht hat und jederzeit in der Lage ist, diese zu schützen. Ein optimal trainierter Körper wird sowohl starke Abwehrkräfte gegen Krankheiten besitzen als auch die Fähigkeit, Angriffe von Gewalttätern abzuwehren – selbst, wenn Sie keine Kampfkunst praktizieren. Sie werden auf diese Weise Ihre Lebensqualität erhöhen. Darum geht es uns in diesem Werk.
Bereits an der Körperhaltung kann man oft erkennen, ob jemand einen gesunden Bewegungsapparat besitzt oder nicht. Letzteres betrifft zu einem großen Teil alte Menschen, bei denen man oftmals entschuldigend sagt: Naja, die sind eben alt. Allerdings trifft es auch auf viele Sportler bereits in jungen Jahren zu, nicht zuletzt auf Kampfsportler. Menschen wie Uehara
Seikichi1 oder Max Schmeling2, um nur zwei zu nennen, zeigen aber, dass auch Kampfkünstler und Sportler bis ins höchste Alter in guter körperlicher (und geistiger) Verfassung bleiben können, einschließlich intakter Gelenke. Gesundheit ist keine Frage des Alters, jedenfalls keine ausschließliche.
Das Training, das in diesem Buch beschrieben wird, ist grundsätzlich auf Nachhaltigkeit ausgelegt. Es stellt Übungen vor, die Sie bis ins hohe Alter ausführen und bei denen Sie zu jeder Zeit Fortschritte machen können. Hier liegt auch einer der gravierenden Unterschiede zwischen (Kampf-) Sport und Kampfkunst. Kampfsportler und Leistungssportler trainieren allzu häufig auf eine Weise, die zwar ihre Leistung für eine gewisse Zeit ins Extreme steigert, jedoch den Körper dabei verschleißt. Was nutzt es, einen Kampf- oder Leistungssport zu betreiben, ein paar Medaillen zu gewinnen und dafür mit 35 Jahren bereits zum alten Eisen gezählt zu werden, mit 40 an chronischen Knie- und Rückenbeschwerden zu leiden und mit 50 oder 60 Kandidat für ein künstliches Hüftgelenk zu sein? In der Kampfkunst bedeutet Alter nicht Stillstand und nicht Krankheit. Das gleiche gilt für Sport, der nicht auf kurzfristige Spitzenleistungen ausgerichtet ist. Solange der Mensch lebt und atmet, kann er sich entwickeln und verbessern, sowohl körperlich als auch geistig. Der griechische Philosoph Diogenes verglich das Leben mit einem Wettlauf und sagte: »Kurz bevor man das Ziel erreicht, wird man nicht langsamer, sondern erhöht seine Geschwindigkeit, bis zum Schluss.« Aus diesem Grund sah man die alten Meister auch bis ins hohe Alter trainieren, sei es in China, auf Okinawa oder in der westlichen Kultur. Sie konnten sich ständig verbessern, bis zu dem Moment, in dem sie ihre Augen schlossen und aufhörten zu atmen.
Sie müssen ausbrechen aus steifen Trainingsmustern, wie sie in so vielen Kampfsport- und anderen Sportarten gelehrt werden. Das ist pures Gift für Sie als Individuum. Ein Mensch braucht freie Trainingsmethoden, die auf natürlichen Prinzipien und den Gegebenheiten der menschlichen Anatomie aufgebaut sind. Sie müssen lebhaft trainieren, bis ihr Körper ebenfalls lebhaft ist. Dies ist ein Grundprinzip der chinesischen Trainingslehre.
Wir sagen hier klipp und klar: Ohne Anstrengung und ohne zu schwitzen erreicht man keine nützlichen Ergebnisse. Ihre körperliche Leistungsfähigkeit zu erhöhen geht nur über ein an Ihre persönlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse angepasstes Übungsprogramm. Suchen Sie sich einige der in den folgenden Kapiteln vorgestellten Übungen heraus, die Sie bewältigen können und bauen Sie diese in Ihr tägliches Training ein. Einige Elemente werden vielleicht anfangs zu schwer sein. Setzen Sie sich realistische Ziele, dann wird dank der sich allmählich verbessernden körperlichen Verfassung und mit der nötigen Willensstärke fast alles möglich sein.
Die Dauer des Trainings ist nicht entscheidend. Mehrere kleine Intervalle über den Tag verteilt sind für manche Menschen besser geeignet als große Blöcke. Wenn Sie verschiedene Übungen (zum Beispiel Dehnung oder Gleichgewichtstraining) in Ihren Tagesablauf integrieren, haben Sie bedeutend mehr davon, als wenn Sie nach der langen Büroarbeit zwei Stunden auf dem Hometrainer fahren oder ins Fitnessstudio gehen, um an Maschinen zu trainieren.
Westliche und östliche Dehnungskonzepte
Für die Chinesen galt die umfassenden Dehnung des Körpers stets als ein vorzügliches Element in den Kampfkünsten und als die