Der Tanz des Kranichs. Hilmar Fuchs

Der Tanz des Kranichs - Hilmar Fuchs


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Mach dir keine Gedanken über die Form. Mach dir keine Gedanken über die Art und Weise, in der sich die Form ausdrückt. Das beste ist es, die eigene Existenz zu vergessen.

      2  Dein ganzer Körper sollte transparent und leer sein. Lass das Innere und das Äußere miteinander verschmelzen, um eins zu werden.

      3  Lerne, die äußeren Dinge zu ignorieren. Folge dem natürlichen Weg. Erlaube es deinem Verstand, dich zu leiten, und handle spontan, im Einklang mit der Bewegung.

      4  Die Sonne geht über dem westlichen Gebirge unter. Der Felsen tritt hervor, frei im Raum hängend. Sieh den Ozean in seiner Weite und den Himmel in seiner Unermesslichkeit.

      5  Des Tigers Gebrüll ist tief und gewaltig. Des Affen Schrei ist hoch und schrill. So sollst du deinen Geist verfeinern, indem du das Positive und das Negative entwickelst.

      6  Das Wasser der Quelle ist klar wie Kristall. Das Wasser des Teiches steht still und ruhig. Dein Verstand soll wie das Wasser des Teiches sein und dein Geist wie die Quelle.

      7  Der Fluss tost. Der stürmische Ozean brodelt. Lass dein Chi wie diese Naturwunder werden.

      8  Strebe ernsthaft nach Vollkommenheit. Lass das Leben gedeihen. Wenn du deinen Geist geklärt hast, kannst du das Chi entwickeln.

      Der Kranich scheint all dies zu vereinigen. Er steht für Individualität, die in Harmonie mit anderen Individuen existiert. Der Kranich ist ein zuverlässiges und beständiges Wesen: Findet er einen Lebenspartner, so bleibt er ihm für gewöhnlich sein Leben lang verbunden.

      Schaut man einem Kranich zu, so ruft das ein Gefühl der Erhabenheit hervor. Dieser große Vogel bewegt sich mit äußerster Eleganz und Ruhe. Ihn umgibt eine Art Aura, ein Energiefeld, dessen Ausstrahlung wir spüren können und das direkt aus seinem innersten Wesen stammt. Aus diesem Grund galt der Kranich im alten China als Symbol für ein langes Leben, für Weisheit, für die Reife des Alters und ebenfalls für die Beziehung zwischen Vater und Sohn. Die chinesische Mythologie kennt auch das Konzept des »Himmelskranichs« beziehungsweise des »Seelenkranichs« – man glaubte, dass sich daoistische Priester, die den Zustand der Vollendung erreicht hatten, nach ihrem Tod in einen Kranich verwandelten. In der Qing-Dynastie trugen die höchsten Zivilbeamten ein Abzeichen mit dem Abbild eines Kranichs als Zeichen ihres Ranges.

      Dieses Buch, vor allem aber die darin vorgestellten Übungen, sollen Ihnen helfen, sich in die Lebensphilosophie eines Kranichs hineinzuversetzen, sein Wesen zu imitieren. Gelingt Ihnen diese Imitation eine Zeitlang, so werden Sie in eine Phase der Kreativität gelangen. Dann werden Sie »fühlen«, und zwar aus dem Bauch heraus, und Sie werden etwas Neues schaffen. Machen Sie sich beim Üben keine Gedanken darüber, ob Sie es »richtig« machen. Sie sind der Künstler, und am Ende werden Sie Ihre eigene Form entwickeln, die genau Ihnen und Ihrem innersten Wesen entspricht. Um dahin zu gelangen, lernen Sie von Anfang an mit dem Körper und nicht mit dem Kopf. Versuchen Sie nicht, die Übungen intellektuell zu verstehen – üben Sie sie durch Imitation.

      Wenn wir uns die Kranichform »aneignen«, gehen wir von außen nach innen und wieder nach außen. Zunächst müssen wir unsere äußere Schutzschicht öffnen, indem wir die Übungen in uns »eindringen« lassen. Wir müssen bereit für Neues sein, es immer tiefer in uns hineinlassen, bis das neue Konzept unser Zentrum erreicht hat, wo es wie ein Samenkorn aufgehen und wieder nach außen dringen kann, wo es wie ein unsichtbares Strahlen von uns ausgehen wird. Das ist es, was wir als »Aura« bezeichnen und was die rational kaum erklärbare Gesamtwirkung eines Menschen auf andere Wesen – Menschen, Tiere und Pflanzen – bestimmt.

       Wir sind, was wir denken, und nicht, was wir denken zu sein.

      James Allen (1864-1912)

3. Tai Chi und die Gesundheit von Körper und Geist

       3.1. Tai Chi und die tibetische Medizin

      Die Übungen des Tai Chi haben das Potential, unser körperliches und geistiges Allgemeinbefinden wesentlich zu verbessern. Der Zusammenhang zwischen der Gesundheit des Geistes und der des Körpers wird in vielen Traditionen betont, vor allem aber in denen des Fernen Ostens. Wichtig ist, dass wir begreifen, dass die Gesundheit des Geistes und die des Körpers einander bedingen. Wer Tai Chi übt, wirkt positiv auf beides ein. Die Übungen beruhigen den Geist und bringen die Funktionen des Körpers miteinander ins Gleichgewicht.

      In diesem Zusammenhang möchte ich einen kleinen Ausflug in die tibetische Heilkunst vornehmen. Diese bezieht sich zum einen auf die Anatomie von Knochen, Organen, Blutgefäßen und anderen Kanälen, zum anderen auf sogenannte Körperenergien, die als Wind, Galle und Phlegma (Körperflüssigkeiten) bezeichnet werden. Besonders interessant im Zusammenhang mit der Kranichform des Tai Chi ist die Verbindung zwischen tibetischer Heilkunst und Buddhismus. Hierüber schreibt der Schweizer Arzt und Experte für chinesische und tibetische Medizin Dr. Toni Fischer das Folgende:

       Die tibetische Medizin kam mit dem Buddhismus nach Tibet, und zwischen Medizin und Buddhismus gibt es eine sehr enge Verbindung. Gerade diese enge Verbindung von Medizin und spirituellem Kern macht die tibetische Medizin zu einer so einzigartigen Erscheinung. Es gibt keine andere medizinische Tradition auf der Welt, die so konsequent nach der Maßgabe einer Philosophie und Metaphysik entwickelt wurde […]. Die Beziehung zwischen Buddhismus und Heilkunde ist eine Wesensbeziehung. […]

       Zu seinen Lebzeiten war [der Buddha] als »der Große Arzt« bekannt […]. Der frühe indische Buddhismus nannte den Buddha auch »König der Heiler« (Bhaishajyaraja). Seine gesamte Lehre dreht sich um die Frage, wie das Leiden zu verhindern beziehungsweise zu überwinden sei. Die Medizin, die der Buddha verordnet, um unser Leiden und unsere Verblendung zu überwinden, ist seine Lehre. Darin ist die Essenz in Form der »Vier Edlen Wahrheiten« dargestellt. […]

      Die Abfolge der Aussage dieser Wahrheiten folgt der Logik einer klinischen Diagnose. Zuerst wird das Problem identifiziert: Leiden, die Natur aller Existenz. Die Ursache dieser leidhaften Existenz, ihre Ätiologie, ist Anhaftung. Die Beseitigung dieser Ursache führt automatisch zur Beendigung des Leidens. Der achtfache Pfad zeigt die konkreten Methoden, mit deren Hilfe sich dieses Ziel tatsächlich erreichen lässt.

       Die Erste Edle Wahrheit ist die Wahrheit des Leidens, die Tatsache, dass unser Glück fortwährend dahinschwindet. Geburt, Alter, Krankheit und Tod ist Leiden. Alles, was wir haben, ist der Unbeständigkeit unterworfen. Nicht zu bekommen, was wir uns wünschen; nicht zu wollen, was wir bekommen; getrennt sein von Liebem; Verbundensein mit Menschen oder Dingen, die wir nicht mögen, all dies ist Leiden.

       Die Zweite Edle Wahrheit zeigt die Ursache unseres unablässigen Leidens, die drei Geistesgifte:

        Begehrliches Anhaften, Begierde, Verlangen nach Lust, nach Sinneseindrücken;

        Wut, Ärger, Hass, Aggression;

        Unwissenheit, Verblendung. Die Hauptursache des Leidens ist Unwissenheit, die irrtümliche Annahme, dass Lebewesen und Objekte inhärent existieren.

       Die Dritte Edle Wahrheit handelt von der Beendigung des Leidens: das Ausreißen der Wurzel des Leidens durch die Gegengifte Mitgefühl, Meditation, Weisheit.

       Die Vierte Edle Wahrheit lautet, dass es einen Pfad gibt, der zur Leidensbeendigung führt.

       Der Pfad zur Befreiung besteht im Praktizieren von Freigiebigkeit, Sittlichkeit, Geduld, Anstrengung, Konzentration und Weisheit. Sittlichkeit ist ein Geisteszustand, in dem man bewusst darauf verzichtet, sich auf irgendeine Situation oder irgendein Geschehen einzulassen, die sich für andere als schädlich erweisen würden. Geduld ist ein Geisteszustand, in dem man angesichts der Schäden, die einem von anderen zugefügt werden,


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