Baiae. Karl-Wilhelm Weeber
einige Tage oder auch einige Wochen.
Die Reise zur Ferienvilla und der Aufenthalt dort wurden häufig als peregrinatio bezeichnet. (z. B. Cic. Att. II 4, 3; II 6, 1). Darin steckt das Adjektiv peregrinus, „fremd“. Es ist also der Wechsel aus der gewohnten in eine fremde, jedenfalls nicht alltägliche Umgebung, die die Vorstellung von der peregrinatio prägt, ein wohltuender Ortswechsel, ein Herauskommen aus dem Alltagstrott, lateinisch gesprochen eine mutatio loci, von der sich viele trotz der damit verbundenen Reisestrapazen Erholung, Abschalten oder „Durchatmen“ versprachen. Dabei brauchte man, sobald man die villa erreicht hatte, auf den gewohnten Komfort nicht zu verzichten. Nicht wenige Angehörige der Elite besaßen mehrere villae in verschiedenen Gegenden. „Der Wechsel von Landschaft und Klima ist reizvoll“, stellte der Jüngere Plinius fest, „und auch schon das Reisen (peregrinatio) selbst von einer Besitzung zur anderen“ (Plin. ep. III 19, 4).
Allein war man indes selten. An landschaftlich schönen Orten – amoenitas, „Anmut“, „Schönheit“ ist das einschlägige Zauberwort – gab es geradezu eine Cluster-Bildung luxuriöser Landsitze, sodass niemand auf das übliche gesellschaftliche Leben mit Gastmählern, Gelagen und Partys in freier Natur verzichten musste – sofern er das wollte. Cicero siedelt einige seiner wichtigsten Abhandlungen als Gesprächsrunden in gerade so einem Urlaubsambiente an. Die villa ist damit auch ein Ort des geistigen Austausches und des intellektuellen Diskurses, wobei man die Zahl derer, die daran Interesse hatten, nicht allzu hoch veranschlagen sollte.
Wenn sich das otium, die „Freizeit“, vieler Römer der Oberschicht auf Kampanien konzentrierte, die südlich an Latium angrenzende Landschaft, so hatte das gute Gründe. Da war zum einen das angenehme Klima mit milden Wintern und nicht zu heißen Sommern. Dazu kamen die Nähe des Meeres, die erheblich zum landschaftlichen Reiz, eben der amoenitas, beitrug, sowie der fruchtbare vulkanische Boden, der eine reiche Vegetation sprießen ließ und unter anderem die berühmten kampanischen Rosen und den nicht minder berühmten kampanischen Wein hervorbrachte: Der „Falerner“ genoss einen legendären Ruf; er konnte es mit den besten Weinen der damaligen Welt aufnehmen.
Kein Wunder, dass diese Landschaft das Epitheton „glücklich“ trug: In der Bezeichnung felix Campania spiegelt sich auch die agrarische Üppigkeit. Im „glücklichen Kampanien“ herrschte, „wie die Alten es ausdrückten, ein gewaltiger Wettstreit zwischen Vater Liber (Bacchus, Gott des Weines) und Ceres, der Göttin des Getreides“ (Plin. NH III 60). Die Schriftsteller überboten sich geradezu in den laudes Campaniae, dem „Lobpreis auf Kampanien“. Der Grieche Polybios rühmt die „Fruchtbarkeit und Schönheit, die Lage am Meer und die Hafenplätze dieses vor allen anderen ausgezeichneten Landstrichs“ (Polyb. III 91), der Römer Florus preist Kampanien sogar als „herrlichste Gegend nicht nur Italiens, sondern auf dem ganzen Erdkreis“: „Nichts ist linder als das dortige Klima, zweimal ruft das Wetter dort durch seine Blumenpracht den Frühling hervor“ (Flor. I 11, 3).
Hinzu kommt das mythologische Erbe Kampaniens. Dort ist die Sibylle von Cumae zu Hause, die den römischen Stammvater Aeneas einst in die Unterwelt begleitet hat, dort sind, hält man sich an Vergils Nationalepos, schicksalhafte Entscheidungen für den Aufstieg Roms zur Weltmacht getroffen wurden. Die dramatische Szenerie dafür waren die Phlegräischen Felder, wo die Erde brodelte und heiße Dämpfe die Nähe des Eingangs zur Unterwelt anzuzeigen schienen. Cumae, Kap Misenum und der Averner See sind in der „Aeneis“ zentrale Orte für die Urgeschichte Roms. Dort gingen die Trojaner, die die Katastrophe ihrer Heimatstadt überlebt hatten, unter Führung des Aeneas an Land, dort weissagte die Sibylle den unaufhaltsamen Aufstieg Roms als zweites Troja (Stärk, Kampanien 37 ff.). Das war klassisches rus Maronianum, „Vergil-Land“, dessen „historische“ Stätten zum Besuchsprogramm patriotischer Römer und neugieriger Touristen zählten. Sie wollten die Stätten, die ihnen aus der Aeneis-Lektüre, einem Klassiker der Höheren Schule, vertraut waren, mit eigenen Augen sehen und erkunden.
Und es war zudem altes Kulturland, dessen blühende Städte von Griechen gegründet worden waren, wo griechische Kultur seit dem 8. Jh. v. Chr. Einzug gehalten und tiefe Spuren hinterlassen hatte. In manchen Gegenden sprach man noch lange nach der römischen Eroberung griechisch; besonders Neapel galt als Graeca urbs (Tac. ann. XV 33, 2; vgl. Vell. Pat. I 4, 2), als Stadt mit griechischem Flair, griechischer Bildung und griechischer Lebensweise – Klein-Griechenland gewissermaßen mit all den positiven kulturellen Assoziationen, die sich damit verknüpften. Auch das hatte seine touristischen Reize, sodass Statius für Kampanien als Alterswohnsitz gegenüber seiner etwas zögerlichen Ehefrau mit variae oblectamenta vitae werben kann, mit „verschiedenen und verschiedenartigen Annehmlichkeiten des Lebens“ (Stat. silv. III 5, 95).
Dort sein Alter zu verbringen, wo andere Urlaub machen – das war schon in römischer Zeit eine Aussicht, die viele faszinierte. Und die nicht nur Statius veranlasste, sich dauerhaft in Kampanien niederzulassen (zumal das seine Heimat war), sondern auch manchen reichen Römer, der der Hauptstadt auf immer Ade sagte und sein Feriendomizil zum „Erstwohnsitz“ umwidmete. Damit war man zwar nicht mehr „in“ und verlor an politischem und gesellschaftlichem Einfluss, aber man gewann dauerhaft an Lebensqualität – ein secessus, „Rückzug“, in eine zauberhafte Landschaft, in der eine attraktive Natur und eine attraktive Kultur zu einer seltenen Einheit verschmolzen.
Schließlich das heitere, beschwingte Lebensgefühl, das diese Landschaft verkörperte! Die griechisch inspirierte Leichtigkeit des Seins, das Savoirvivre, die Neigung zum Hedonismus als Lebenseinstellung – nicht zufällig war Neapel eine Hochburg der epikureischen Philosophie –: Das war ein geistig-moralisches Klima, das auf viele Besucher anziehend wirkte, mochte da auch manche Klischeevorstellung die Realität überlagern. Dieses Phänomen ist der heutigen Welt ja nicht ganz unbekannt und wird von der Tourismus-Industrie nach Kräften gefördert. Entscheidend für die Stimmung und das Lebensgefühl sind nicht unbedingt die Eindrücke, die der Besucher bei der peregrinatio erhält, sondern die Vorprägungen und Erwartungen, die er in den Urlaub mitbringt. Was nicht kompatibel ist, wird mittels selektiver Wahrnehmung kompatibel gemacht.
Es gab indes auch erbitterte Gegner des kampanischen way of life. Das waren die Moralisten, die vor der verweichlichenden Wirkung der tryphé warnten, der Neigung zur Üppigkeit, Schwelgerei und Ausschweifung, die solchen von der Natur verwöhnten Landstrichen angeblich eigen waren. Wo es dem Menschen allzu leicht gemacht werde, da schlage er schnell über die Stränge, ja versinke in gefährlicher luxuria, „Genusssucht“. Ein Klischee, mit dem man hin und wieder auch Politik machen konnte, indem man die Bewohner und Besucher Kampaniens als wenig verantwortungsvolle und obendrein arrogante Genussmenschen verunglimpfte. Cicero war da keine Ausnahme. Obwohl er selbst Besitzer mehrerer Villen im kampanischen crater delicatus, „Wonnekessel“, war, bediente er in der Rede de lege agraria aus politischem Opportunismus die weit verbreiteten Vorurteile: „Die Campaner waren stets übermütig infolge der Güte ihrer Äcker (…). Mit diesem Überfluss an allem hängt ihre bekannte Anmaßung hauptsächlich zusammen“ (Cic. leg. agr. II 95).
Bei Moralisten erfreute sich diese Umwelttheorie großer Beliebtheit: „Eine allzu reizvolle Landschaft (amoenitas nimia) verweichlicht die Sinne“, weiß Seneca, „und ohne Zweifel hat eine Gegend beträchtlichen Einfluss darauf, die Körperkraft zu schwächen“ (Sen. ep. 51, 10). Als Beweisinstanzen dienen ihm das Vieh und der Soldat – beide entwickeln, wenn sie durch eine raue Gegend gefordert werden, eine größere Fähigkeit zur Ausdauer, Strapazen zu ertragen. Ein einziges Winterlager in Kampanien habe ausgereicht, um Hannibals Kräfte zu zerrütten, analysiert Seneca reichlich kühn; die fomenta Campaniae, die „Üppigkeit Kampaniens“, hätten den großen Karthager eher besiegt als die Schneefelder der Alpen (Sen. ep. 51, 5). (Abb. 4)
Das klingt nach einem überzeugenden geschichtlichen Beispiel, steht aber auf historisch wackligen Beinen und illustriert eigentlich nur, wie konsequent Seneca die moralisierende Umwelttheorie vertritt. Wenn sich diese von Simplifizierungen und Klischees nicht freie Deutung dann noch mit der von der Antike geliebten Pauschal-Etikettierung von Völkern und Landschaften – konkret der vermeintlichen levitas Graeca, „griechischen Leichtfertigkeit mit Tendenz zur Haltlosigkeit“ – verband, war eine Legende gezimmert,