Böser die Glocken nie klingen. Katharina Joanowitsch

Böser die Glocken nie klingen - Katharina Joanowitsch


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wirft sich Schal und Mantel um und eilt die fünf Stockwerke hinunter. Quer über die Straße, vorbei am noch leeren Dresseleck, durch die Spiegelgasse, in der die Fassaden wie taub über die dicht geparkten Autodächer hinweg in die donnernde Schlucht des Stadtrings lauschen. Im »nah und gut«-Markt Ecke Neue Kantstraße herrscht hektisches Treiben, unverkaufte Geschenkkörbe verstopfen die schmalen Gänge vor der Kasse. Herlind findet alles außer Lebensmittelfarbe.

      Ihr alter Schultuschkasten wird reichen.

       Dreiundzwanzigster, Lietzenseeufer 1, 1. Stock, 9:30 Uhr

      Schwerfällig stützt sich Marja auf das Fensterbrett. Den See kann sie vom Fenster nicht wirklich sehen, doch ihre Augen übersehen die blauweiß karierte Hotelfassade vom Seehof samt monströser Eingangsüberdachung und stellen sich eine weiße Wasserfläche vor – es könnte winterliches Eis sein – doch sind es gerade mal drei Grad plus, wie die dauermuntere Stimme auf RBB verkündet. Aus der Haltung der wenigen Fußgänger liest Marja schaudernd: kalt, nass, böig. Ächzend beugt sie sich zu Rudolf herunter und krault seinen grauen Kopf. Das Tier hebt den Blick, stumm schauen sie sich an. Im Vormittagsgrau wirkt sein alter Doggenschädel wie versteinert. Aus den Wänden treten die weißen Tutus auf den Fotografien als schwebende Zeichen hervor: Erinnerungen an ihre Ballettzeit. Dieser grazile Schnörkel – natürlich Schwanensee – war einmal sie gewesen, Marja Kesserowja mit Oleg Bischoff, ihrem langjährigen Partner … vorbei. Oleg – inzwischen das krümelige Innere einer Urne in »Luise II« … vorbei! Vorbei die Zeit, als sie noch Ballett und Choreographie unterrichtete. Die einstmals eiserne Disziplin reicht gerade noch für ihre täglichen Gänge mit Rudolf. Inzwischen ist ihr Kosmos auf drei Wesen geschrumpft: Rudolf, Hausarzt Dr. Kröger und Herlind, die Fußpflegerin. Herlind kommt zwei-, dreimal im Monat und hat sich mit Sonderdiensten – einkaufen, putzen, Zusatzrunde mit Rudolf – unentbehrlich gemacht.

      »So, mein Guter, dann wollen wir mal.«

      Der Hund erhebt sich zögernd und schnauft ergeben, als Marja ihren Pelz umlegt.

       Dreiundzwanzigster, Lietzenseeufer 1, 4. Stock, 10:00 Uhr

      Klatt steht aufrecht vor dem Fenster. Missklang spürt er geradezu körperlich. Asymmetrie ist entschieden gegen sein Temperament. Geboren am 24. 12. 1948, Punkt 12 : 48 Uhr. Von seiner Mutter erinnert er sich nur an zwei Augen von überirdischem Blau, von seinem Vater an einen kratzenden Backenbart, beide Eltern früh gestorben. Seine Anzüge sind zweireihig. Seine Wohnung gleicht einer peniblen Versuchsanordnung. Aus Pralinenschachteln isst Klatt nach symmetrischen Prinzipien. Seinem Beruf als Ober ist das dienlich. Kein Tisch ist so akkurat eingedeckt wie seiner, keiner serviert mit so abgezirkelten Gesten. Klatt lebt nach einem klaren Tagesplan, der erfordert jetzt: Gang an die frische Luft. Sorgfältig schließt er seine Tür zu-auf-zu-auf-zu, steigt innerlich zählend die Stufen herab.

      Die weihnachtlichen Gestecke im ersten Stock sind Klatt ein Gräuel. Bei jedem Vorbeigehen jucken seine Hände in den Manteltaschen. Sieben leuchtende Kugeln im Tannengrün bei Nummer vier und fünf bei Nummer sechs. Und diese Farben! Teure Sitzungen haben Klatt dazu gebracht, seinen Drang in der Öffentlichkeit zu beherrschen. Heute zuckt seine Hand hervor, zerrt eine der sieben Kugeln aus dem Grün, vier Schritte, schon fädelt er rechts die Schlaufe über einen Zweig.

      Völlig entspannt verlässt Klatt das Haus.

       Dreiundzwanzigster, Lietzenseeufer, 10:30 Uhr

      Heute nur die kleine Runde. Nur einmal bis zum Monolith – so nennt Marja bei sich den Turm der St. Canisius – dann um das Rondell zu ihrer geliebten Skulptur »Versuch einer Balance«, runter zum Seeufer und zurück. Dieses müde Schleppen durch den Tag mit dem ebenso müden einzigen Gefährten Rudolf, das nennt sie nicht mehr Leben. Eigentlich will sie nichts lieber als tot sein. Der Gedanke kreist ständig in ihr, unversehens drängte er sich auf ihre Lippen, als die Fußpflegerin letzte Woche vor ihr hockte.

      »Ich will nicht mehr!«

      Die arme Herlind war ordentlich zusammengezuckt und hatte wie abwesend das Öl in die empfindliche Nagelmatrix massiert, die ungläubigen Augen auf Marja gerichtet.

      »Wie könnte ich Ihnen nur helfen!?«

      Mitleidig klang das, aber auch ratlos.

       Dreiundzwanzigster, Dresselstraße 3, 11:00 Uhr

      Summend häuft Herlind alle Zutaten in die Schüssel, drückt Margarine in die Mitte. Bevor sie das Schraubglas öffnet, hält sie inne. Mit ansteigendem Kribbeln spürt sie das Gewicht der Entscheidung. Ja oder nein?

      Ja! sie fügt einen gehäuften Esslöffel hinzu, streift Latex-Handschuhe über und knetet alles zu einer Kugel.

      Aus dem ausgerollten Teig sticht sie trällernd Herz, Stern, Glocke in emsiger Folge, bis ein Blech dicht belegt ist … hinein in den Ofen damit.

      Nun die Glasur. Im Nu saugt der Puderhaufen Zitronensaft und Rum auf, zerfließt sämig. Herlind stippt hinein, erschauert. Noch kann sie naschen. Am Finger saugend schaut sie durch die mit Tropfen übersprenkelten Scheiben auf das schlammgraue Dach des S-Bahnhäuschens Witzleben. Herrmann! Wie der Kekse liebte, wie der futtern konnte, wie der die »Tulpen« kippte, wie lustig der war! Und das bei dem Beruf: Kammerjäger. Im Keller hier in der »Charlotte« hatten sie sich kennen gelernt, als er Rattenköder ausgelegt hatte (mit weißen Handschuhen!). Eine heftige Zeit folgte – im Dresseleck schlug oft die Lokalrundenglocke – bis Herrmann die Kellertreppe hinabstürzte, sich den biervernebelten Kopf zerschmetterte. Von der Herrmann-Zeit blieb Herlind das gefüllte Schraubglas mit seiner Beschriftung: Brodifacoum, darüber ein naiv gemalter Knochenkopf.

      Herlind schüttet das weißliche Pulver in die Glasur. Im Tuschkasten mischt sie Rot mit etwas Wasser an und lässt Tropfen der Farbe ins Weiß fallen. Wie Blutgerinnsel schlängeln sich Adern durch die Zuckermasse. Verrührt ergibt sich leuchtendes Rosé. Der Küchenwecker schnarrt. Herlind holt das Blech aus dem Backofen und streicht den Guss auf die duftenden Kuchenleiber. In wenigen Stunden wird die Glasur zu einer schimmernden Kruste erstarrt sein.

       Dreiundzwanzigster, Lietzenseeufer 1, 1. Stock, 18 : 00 Uhr

      Herlind prüft mit der Hand die Wärme des Fußbades. Sie hat beschlossen, Frau Kesserowja das Päckchen erst zum Abschied zu übergeben. Im Zimmer hat sie Kerzen verteilt und Tannengrün in einer Bodenvase dekoriert. Eine Fichte, zierlich genug für die Kommode, hat sie mit Strohsternen und Kugeln behängt und eine Miniaturlichterkette hineingeflochten.

      »So, bitte einsteigen!« Mit einladender Geste weist Herlind auf die dampfende Schüssel, die sie vor den geblümten Ohrensessel geschoben hat. Frau Kesserowja hilft beidhändig ihren geschwollenen Beinen und lässt die Füße aufstöhnend ins Wasser platschen. Rudolf, der daneben lagert, jault beleidigt auf. Er hasst dieses Fräsen und Schneiden, dieses Schmirgeln und Raspeln. Das Schlimmste kommt zum Schluss, das Eincremen mit der nach Eukalyptus stinkenden Salbe.

      »Wie gemütlich Sie meine Wohnung gemacht haben, Herlind. Sie sind mein Engel.«

      Die Belobte senkt ihre Lider über einer zarten Wangenröte.

      »Oh, ich helfe gerne.«

      Als sie sich im Flur verabschieden – zum ersten Mal umarmt Frau Kesserowja sie innig – nimmt Herlind das Päckchen doch unauffällig mit sich. Draußen an der kalten Luft besinnt sie sich, kehrt um, öffnet leise die Eingangstür mit dem Schlüssel-für-alle-Fälle, schleicht die Treppe hoch und lehnt ihr Geschenk vor die Tür.

       Dreiundzwanzigster, Lietzenseeufer 1, 4. Stock, 23:30 Uhr

      Sorgfältig schließt Klatt seine Tür zu-auf-zu-auf-zu, steigt innerlich zählend die Stufen herab. Das Flurlicht ähnelt seiner Wohnungsbeleuchtung, nicht schummrig, sondern kühl ausleuchtend. Als er in den ersten Stock einbiegt, sticht ihm das grässliche Pink in die Augen. Ausgerechnet unter der durch Tannengrün und knallige Kugeln bereits so überladenen Tür liegt ein Päckchen mit glänzender Beschriftung, ohne Adresse und Absender. Ein unbekömmliches Duftgemisch aus Tosca und nassem Hund, das wie durch


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