Das Lied der Grammophonbäume. Frank Hebben
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Frank Hebben
Das Lied der Grammophonbäume
fantastic episodes IX
© 2013 Begedia Verlag
© der Geschichten: Frank Hebben
Lektorat: Benedict Marko, Nadine Ihle
Umschlag: Jessica May Dean & Frank Hebben
ebook-Bearbeitung: Begedia Verlag
ISBN: 978-95777-047-9 (epub)
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Für Elli –
und für Melanie, in Liebe
„Das Lied der Grammophonbäume“ und „Verlassenes Haus“ der Carmen gewidmet, es sind ihre Geschichten.
Das schweigende Haus
Die Alpträume kehrten zurück, noch ehe ich den Brief erhielt; drei Tage zuvor quälten mich die alten Bilder, die Schreie, die nie ganz verstummten, obwohl der Tod meines Mannes bereits Jahre zurücklag. Mehrmals hatte ich den Wohnsitz gewechselt, von Ectonville nach Lydford, dann Tavistock, dann Plymouth – es trieb mich nach Süden, weg vom Landsitz der Parrys, diesem hohlen Adelsgeschlecht, in das ich mit neunzehn eingeheiratet hatte, aus Liebe zu Paul; er war damals Narkosearzt am örtlichen Spital.
Mich schaudert es, an ihn zu denken: das blasse, von der Arbeit ausgezehrte Gesicht, die trockenen Lippen, mit denen er mich küsste, seine geröteten Augen, die später jeden meiner Schritte verfolgten.
Es war Abend, als Geoffrey mir den Umschlag ins Schlafzimmer brachte; blaue Tinte auf blauem Papier, ich ahnte schon, vom wem er stammte, doch im Zwielicht konnte ich den Absender nicht entziffern, und so entzündete ich eine Kerze, in deren Leuchter sich meine Hand und mein Gesicht spiegelten – weiß vor Schreck, als meine schlimmsten Befürchtungen sich erfüllten. Der Brief stammte von Pauls jüngster Schwester Eveline.
Ich schloss die Augen, keuchte; der Schweiß stand mir auf Stirn und Oberlippe.
*
Brief, Eveline Suther (geb. Parry) an Alice Parry
Ectonville, 14. Oktober 1896
Liebe Alice,
lang ist es her, dass wir beide ein Wort miteinander gewechselt haben. Soweit ich mich entsinne, begegneten wir uns das letzte Mal auf der Trauerfeier für Paul im Juni ’81, damals war ich noch das pausbäckige Mädchen, das Dir Dein Kleid mit Schlamm beschmutzte. Erinnerst Du Dich?
Ach, wie die Zeit vergeht. Vorletzten Sommer haben Jason Suther und ich geheiratet; wir haben eine Tochter, Lucy – ich soll Dir von beiden herzliche Grüße ausrichten!
Alice, wie kann ich Dir die entsetzlichen Geschehnisse der letzten Tage schonend beibringen? Du weißt ja, Parry Manor steht seit Jahren leer. So war es Dein Wille, und wir haben ihn respektiert. Leider ist das Gebäude in schlechtem Zustand, meine Familie – der du immer noch angehörst, egal, was zwischen meinen Eltern und Dir vorgefallen ist – konnte nicht die finanziellen Mittel aufbringen, das alte, verlassene Gemäuer so zu erhalten, wie es wohl nötig gewesen wäre. Rundheraus: die neuerlichen Herbststürme haben großen Schaden am Dach und dem Ostflügel angerichtet, einige der Fenster sind zersplittert. Außerdem haben Sturzbäche an manchen Stellen das Fundament unterspült und sogar einen Teil des Obstgartens mit in den See gerissen.
Alice, fass Dir bitte ein Herz, ehe Du die nächsten Zeilen liest. Es wurden Leichen gefunden – Dutzende Leichen von Männern und Frauen, und sogar Kinder waren darunter! Furchtbar, der Anblick der verwesten Skelette war kaum zu ertragen, ich erspare Dir die schaurigen Einzelheiten.
Constable Johnson und Murray, der alte Totengräber, haben sich der Sache angenommen und ausreichend Särge besorgt. Derzeit graben sie den Garten um und versuchen, die Toten zu bestimmen. Alice, sei bitte darauf vorbereitet, dass auch Pauls Leichnam unter ihnen sein könnte. Ich wage kaum an diese Möglichkeit zu denken, doch dann hätten wir alle zumindest endlich Gewissheit über sein ungeklärtes Schicksal.
Durch mich erbittet Constable Johnson Deine dringende Anwesenheit, er meint, vielleicht kennst Du Antworten auf seine brennendsten Fragen. All das duldet keinen Aufschub mehr, und so muss ich Dich bitten, liebe Alice, so schnell als möglich zu uns zu stoßen, um Dir selbst ein Bild von der prekären Lage zu machen. Ich hoffe, Du kannst etwas Licht ins Dunkel bringen. Hier in Ectonville stehen alle Beteiligten vor einem Rätsel. Bitte, beeile Dich!
In banger Erwartung
Eveline
*
Mein Schwindel nahm zu, je näher ich dem Haus kam – Eveline Suther bedächtig durch den Nieselregen folgend, den matschigen Pfad aufwärts zum verwilderten Grundstück. Meine Schuhe rutschten über Steine und Grasbüschel, und da ich fürchtete zu stürzen, hatte ich meine Augen fest auf den Boden geheftet, auch um mir den Anblick des Grundstücks noch zu ersparen, doch Pfützen spiegelten die Eingangstreppen, Steinsäulen und Fenster – und die Tür, halboffen wie ein Sarg, der umgestürzt im Schlamm liegt.
Dieses Bild stieg in mir auf, während ich schneller ging, um mich bei Eveline einzuhaken. Links der alte Buchenhain, in dem meine Gedanken meist Ruhe fanden, wenn ich mich zu sehr über Paul und seine Arbeit erregt hatte, und dahinter der See, von Weiden umstanden, die Wurzeln von Algen bedeckt; nussbraune Blätter auf dem Wasser.
»Dort drüben«, sagte Eveline und löste sich von mir, nahm ihren Schirm in die andere Hand. Schwerfällig stapfte sie einen Trampelpfad bergab, der rund ums Haus und in den Obstgarten führte; ihre Locken klebten nass auf den Schultern ihres Mantels.
Im Matsch erkannte ich die frischen Schuhabdrücke dreier Personen und tatsächlich: halb in einer Grube versunken, waren drei Männer damit beschäftigt, mit Schaufeln die Erde umzugraben. Sie hielten inne, als sie uns kommen sahen. Der Jüngste von ihnen, offensichtlich Evelines Gatte Jason, winkte zu uns herüber und rief: »Ihr könnt herkommen, Liebes, wir haben keine mehr gefunden!«
Ich zögerte und blieb, wo ich war, – unter einem Kirschbaum, dessen Äste schwarz über mir hingen; Regen tröpfelte von dort auf meine Pelzkappe, rann mir kalt an Wangen und Hals entlang. »Ich grüße Sie, Mister Suther«, rief ich zurück. »Und Sie müssen wohl Constable Johnson und Murray sein?«
»Ah, Misses Parry, gut, dass Sie endlich eingetroffen sind. Ich habe Fragen an Sie.« Johnson stützte sich auf den Stiel seiner Spitzhacke, hob seine Schirmmütze an. »Wollen Sie nicht näher treten, dann müssten wir nicht so schreien! Wie geht es Ihnen heute?«
»Den Umständen entsprechend«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. Für mich wurde es immer schwieriger, diesen Schwindel zu beherrschen; die Geräusche, ja die ganze Szenerie wirkte gedämpft, weit fort, und ich fühlte mich matt – die Muskeln schwach, schwer wie Blei. Ich keuchte.
»Soll ich Ihnen die Schäden zeigen?«, rief Jason Suther, aus der Grube steigend. Er zeigte ein aufmunterndes Lächeln, als er seine Gattin umarmte.
»Das mache ich schon«, antwortete Eveline und küsste seinen Bart, in dem der Regen glänzte.
Welch glückliches Paar, dachte ich bitter und spürte, wie sich meine Mundwinkel nach unten verzogen. »Danke, ihr Lieben, ich kann mir selbst ein Bild verschaffen.«
»Ist recht, Misses Parry.« Constable Johnson klopfte sich Dreck von den Knien, ehe er seine Hacke aufnahm. »Wenn Sie Fragen haben sollten, wissen Sie ja, wo Sie uns finden.«
Neue Erde flog mir entgegen.
*
Ich ging an der Grube vorbei, ohne hineinzublicken, runter zum See. Am Ufer setzte ich mich auf einen Stein und verfolgte, wie Wind und Regen die Oberfläche kräuselten – Tropfen, dann Kreise im Wasser. Meine Röcke waren klamm geworden, und ich fror und zitterte, als eisige Böen durch die Weiden jagten. Dennoch wich der Schwindel, und ich konnte freier atmen, Gerüche von Algen und Schlick in meiner Nase.
Langsam