Das Lied der Grammophonbäume. Frank Hebben

Das Lied der Grammophonbäume - Frank Hebben


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seziert. Du warst schon immer der Forscher und ich habe dein Talent unterstützt, auch weil ich mich in dir widerspiegeln konnte: Was für dich Muskeln und Sehnen, waren für mich Zahnräder und Metallfedern; mit Leidenschaft habe ich meine Uhren hergestellt, die mir ein bescheidenes Vermögen einbrachten.«

      »Ja, Onkel.« Ich wusste nicht, was ich sonst antworten sollte. Worauf wollte er hinaus? Immer noch starrte er auf meine Brust, völlig unbewegt. Mir kam der schreckliche Gedanke, dass Gustav vielleicht bald sterben würde. War es das, was er mir im dramatischen Vortrag beibringen wollte: dass er unheilbar krank war? Soweit mir bekannt, hatte er die Siebzig längst überschritten.

      Seine Halswirbel knackten, als er den Kopf zum Kamin drehte. »Lieber Cornelius, ich habe in den letzten Jahren viel Zeit alleine verbracht. Ava, meine zweite Frau ist mir, wie du ja weißt, durch diese furchtbare Schwindsucht unter den Händen weggestorben. Mein Sohn Karl wurde in der Schlacht bei Sedan erschossen. Und du warst mit deinen Forschungen beschäftigt. Als alter Mann fühlt man sich leicht einsam, kommt dann auf seltsame Ideen, gefährliche Vorhaben, denen man nachgeht, oder sollte ich besser sagen: denen man schnell verfällt. Ich habe viel gelesen in diesen Jahren, mich mit Sachen beschäftigt, die besser –«

      »Worauf willst du hinaus?«, ging ich gereizt dazwischen. Geduld gehörte nicht zu meinen Stärken.

      Doch Gustav fuhr einfach fort, als hätte er meine Frage überhört: »...interessierten mich Newtons astronomische Lehren, seine allumfassende Weltenmechanik, deren Teile – Planeten, Monde, aber auch der Mensch – nur als Zahnräder eines komplexen Räderwerks erscheinen. Der Kosmos als Maschine gedacht, deren Mechanismen festen Regeln folgen. Eine Weltenuhr, Cornelius. Verstehst du, was ich damit ausdrücken will?«

      »Nein«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. Auf Gustavs Wangen bemerkte ich ein rotes, fiebriges Glühen, das aber auch vom Feuerschein herrühren konnte. Ich räusperte mich. »Wir –«

      »Mit dem geeigneten Wissen und Werkzeug kann man also jeden Zustand der Weltenmaschine ermitteln, in der Gegenwart, aber auch in Vergangenheit und Zukunft. Man kann seinen eigenen Tod betrachten.«

      Irgendwo klackte es mechanisch. Ich horchte nach dem Ursprung des Geräuschs. Nichts. »Du hast Fieber, Gustav, du delirierst. Wir sollten dich schleunigst zu Bett bringen.«

      Anstatt zu antworten, hob Gustav die Arme, die er matt auf beiden Lehnen niederlegte. »Newton war Okkultist, wusstest du das? Sein Gravitationsgesetz hat ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben. Und: Er verstand das Universum als eine vom Allmächtigen entworfene Geheimlehre. Das Rätsel, so glaubte er, würde sich dem Initiierten durch reine Geisteskraft offenbaren. Ich konnte mir eine Abschrift seiner obskuren Schriften über Alchemie und Mystik beschaffen. Dann habe ich weitergeforscht. Und es ist mir tatsächlich gelungen, eine Apparatur nach kosmischem Vorbild zu entwerfen, zu bauen und in Gang zu setzen. Aber mir wurde kein Blick in die Zukunft geschenkt ...«

      Er machteeine längere Pause. Das Feuer prasselte. »Nein, diese Maschine hatte eine andere Wirkung, eine gänzlich fatale, die ich nicht mehr abwenden kann: Das Jüngste Gericht wurde eingeleitet. Das Reich der Toten steht offen.«

      Was sollte ich darauf erwidern? Selbstverständlich waren seine Worte lächerlich, ein hanebüchener Unsinn, den er im Fieberwahn daherfaselte. Aber ich wollte ihn nicht aufregen, das wäre Gift für seinen jetzigen Zustand gewesen. Sein Zustand war besorgniserregend – so ausgemergelt und kränklich er in seinem Sessel kauerte, die leblosen Augen starr aufs Feuer gerichtet.

      »Lieber Onkel«, begann ich, doch wieder kam ich nicht dazu, meinen Satz zu beenden. Ich hörte ein metallisches Knirschen.

      »Natürlich glaubst du mir nicht, hältst alles für das Geschwafel eines senilen Mannes. Also tu mir einen Gefallen: Bleib bis zur Dämmerung im Haus. Untersuche die Räume, die Kammer der Uhren, meine Werkstatt, und du wirst feststellen, dass hier vieles nicht mehr mit rechten Dingen zugeht. Es gibt ... seltsame Erscheinungen, grauenhafte Bilder, die –« Gustav brach ab. Wieder ein Klacken, das offenbar unter dem Teppich hervordrang.

      »Gut, ich werde bleiben«, sagte ich und stand auf. »Man kann dich ohnehin nicht –«

      »Lass mich allein. Erst am Abend erwarte ich dich zurück.« Dann schloss er die Augen und rührte sich nicht mehr.

      *

      Noch gut zwei Stunden, bevor es dämmern würde. Draußen hatte das Licht bereits nachgelassen und ein gräulicher Schleier lag auf den Möbeln der Eingangshalle, die ich durchschritt, um mir die Uhrensammlung im Obergeschoss genauer anzusehen. Es behagte mir nicht, Gustav unten im Rauchsalon alleine zu lassen, andererseits schien er dringend Schlaf zu brauchen. Sollte er sich etwas ausruhen – denn ich hatte mir fest vorgenommen, ihn gleich am nächsten Morgen in ein Spital einzuweisen.

      Auf den Treppen wurden meine Schritte durch einen Brokatläufer gedämpft; und eine beklemmende Stille umgab mich, wurde noch drückender, als ich das zweite Stockwerk erreichte. Anscheinend übte Gustavs Schauergeschichte doch eine Wirkung auf mich aus, obwohl ich mir das nicht eingestehen wollte: Ich war Mediziner, mich interessierten Fakten, keine okkulten Hirngespinste. Das Reich der Toten steht offen – das war geradezu lächerlich, so etwas erzählte man Kleinkindern!

      Warum regte ich mich eigentlich dermaßen auf? Gustav war alt und krank, ich sollte mehr Nachsicht mit ihm haben.

      Tief durchatmend betrat ich die kleine vom Gaslicht erleuchtete Kammer, in der mein Onkel seine größten Kunstwerke ausstellte: reich verzierte Pendulen nach französischem Vorbild und andere Uhren, die wundervolle, mechanische Figuren besaßen, Glockenschläger, Musiker und Hochzeitspärchen. Ihre Gelenke glänzten poliert im Schein der Lampen.

      Sie waren reizend – früher hatte ich oft mit ihnen gespielt – doch Ungewöhnliches erkannte ich nicht an ihnen. Ich überlegte kurz, widerstand dann aber der Versuchung, eine der teuren Schmuckuhren aufzuziehen und das Schauspiel ablaufen zu lassen; Gustav war stets fuchsteufelswild geworden, wenn er mich als Kind dabei erwischt hatte, und auch heute –

      Was war das? Eine leise, glockenhelle Melodie, wie aus einer Musikdose, drang an meine Ohren – Mozarts Requiem, unverkennbar. Ich suchte die Stelltische ab, doch keine der Uhren war in Gang gesetzt, weder der Zeiger noch der Spielmechanismus. Aufmerksam horchte ich nach dem Ursprung der Sequenz und hätte dabei fast die Figuren übersehen, welche nun anstelle der mir vertrauten in den Uhrgehäusen standen – starrende Dämonen, Skelette, Leichen, die begannen, sich mit schauerlichen Posen zu bewegen: Knochenhände wurden nach mir ausgestreckt, die Finger quietschten wie Scharniere; plötzlich ein tiefes, polterndes Dröhnen, als der Boden unter mir erbebte und eine Pendule vom Sockel stürzte, deren Schutzglas splitternd zerbrach.

      Ich schrie, war vom Anblick so erschrocken, dass ich zurück zum Türrahmen stolperte und aus der Kammer stürzte. Erst auf dem Flur kam ich wieder zur Besinnung. Herzklopfen. Ich keuchte in schweren Zügen. Und noch immer spielte Mozarts Requiem, wurde lauter, klanggewaltig wie ein Orchester. Die Türe war zugefallen.

      Fieberhaft versuchte ich diesen Vorfall zu deuten, war aber vom Schrecken so benebelt, dass es mir schwerfiel, einen klaren Gedanken zu fassen. Ein Spuk? Welche andere Erklärung konnte es sonst dafür geben? Aber das war völlig unmöglich! Es gab keine Nachwelt, das war reiner Aberglaube! Der Mensch besaß überhaupt keine Seele, alles war Körper und Fleisch, nur eine Maschine aus Muskeln und Sehnen, nicht mehr und nicht weniger. Ich war Forscher, so schnell ließ ich mich nicht ins Bockshorn jagen! Also zwang ich mich, erneut die Kammer zu betreten, doch zu meiner Verwirrung ließ sich die Tür nicht mehr öffnen. Mehrmals stemmte ich mich dagegen, bevor ich erschöpft aufgab.

      *

      In der abgedunkelten Werkstatt meines Onkels herrschte das übliche Chaos: Metallfedern, Klangwalzen, Schrauben, Werkzeuge und viele andere Einzelteile lagen scheinbar wahllos verstreut auf den Tischen und Drehbänken. Nur eine einzelne Gaslampe streute Licht in den Raum, pechschwarze Schatten in allen Ecken. Es dauerte eine Weile, bis sich meine Augen an das Zwielicht gewöhnten – erst danach entdeckte ich die Gestalt, welche an einer der Werkbänke hockte, den Rücken nach vorne gebeugt. Ihre Hände bewegten sich träge, offenbar setzte sie eine Schmuckuhr zusammen, aber


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