Kykladen. Patrick Schollmeyer
warf der Südwind
es dem Nordwind zu, es vor sich her zu treiben,
jetzt überließ es der Ostwind dem Westwind zur Verfolgung.
(5, VV. 291–332 mit Auslassungen).
Dank dem Rat, die Kleider auszuziehen, das Floß zu verlassen und schwimmend der Kraft der Arme zu vertrauen, wurde Odysseus durch göttlicher Hilfe gerettet. Wer im Ägäischen Meer von Insel zu Insel reist, tut gut daran, es mit Muße zu tun. Ab und zu müssen selbst die großen robusten Fähren im Hafen bleiben. So groß ist Macht der Windgötter.
Ein Selbstmörder gibt dem Meer seinen Namen
Bei der Fahrt über das Meer hat man ausreichend Zeit zum Nachdenken. Wir nutzen es, um uns Gedanken über seinen Namen zu machen. Die Ägäis ist ein Arm des Mittelmeers, der das griechische Festland und die kleinasiatische Küste voneinander trennt und zugleich miteinander verbindet. Im griechischen Mythos kommen zwei Figuren vor, die mit dem Meer in Verbindung gebracht werden.
Die bekannteste Gestalt ist Aigeus. In der 431 v. Chr. im Dionysostheater aufgeführten Tragödie „Medea“ des Euripides lernen wir ihn als einen weisen, hilfsbereiten, rechtlich denkenden Menschen kennen. Er galt auch als eine Erscheinungsform des Poseidon: Aigai war der Name eines mythischen Ortes, der mit dem Meeresgott in Verbindung gebracht wurde (Homer, Ilias, 13, VV. 21 / 22). Seinem Sohn Theseus werden wir auf Naxos begegnen. Auf Kreta besiegte er mit Hilfe der Königstochter Ariadne den Minotaurus, auf Naxos verließ er sie schließlich, was schlimme Folgen nach sich zog. Wir wenden uns dem Schluss der Erzählung zu, die wir dem Werk des römischen Lyrikers C. Valerius Catullus (ca. 84–54 v. Chr.) entnehmen:
Theseus nimmt von Naxos aus Kurs auf Athen.
Theseus, von dunklem Nebel verblendet, entfielen alle
Weisungen aus dem vergesslichen Herzen, die er bis dahin
standhaft im Gedächtnis bewahrt hatte, und so zeigte
er auch nicht, die glückverheißenden Segel hissend,
seinem bangen Vater, dass er wohlbehalten
heimkehre in die Stadt des Erechtheus. Denn – so erzählt man –
einst, als Aigeus den Sohn, der die Mauern Athens mit seiner
Flotte verließ, den Winden anvertraute, umarmte
er den jungen Mann und gab ihm folgenden Auftrag:
„Du, mein einziger Sohn, den ich bei weitem mehr noch
liebe als mein Leben, den ich jetzt in Gefahren
schicken muss, der du mir kürzlich erst in meinem
hohen Alter wiedergeschenkt worden bist, nun, da dich
gegen meinen Willen mein Geschick und deine
feurige Tapferkeit mir entreißen, obwohl die müden
Augen noch nicht gesättigt sind vom Anblick des lieben
Sohnes, wisse: Traurig lasse ich dich ziehen,
und ich will nicht dulden, dass du Zeichen des Glücks trägst,
sondern ich will zuerst, laut klagend, meine grauen
Haare mit Erde und Staub verunstalten, dann gefärbte
Segel an dem schwankenden Mastbaum hissen, damit das
dunkle Tuch den brennenden Schmerz meines Herzens anzeigt.
Wenn die Athena, die dem Geschlecht und Haus des Erechtheus
Schutz versprach, erlaubt, dass du deine Rechte mit dem
Blut des Minotaurus besprengst, dann achte darauf, dass
dieser Auftrag fest in deinem Herzen verankert
bleibt und keine Zeit ihn auslöschen kann: Wenn deine
Augen unsere Hügel erblicken, dann sollen die Masten
von dem traurigen Kleid befreit werden und die gedrehten
Taue weiße Segel hissen, damit ich sie so
schnell wie möglich sehe und Grund zur Freude habe,
wenn eine glückliche Zeit dich in die Heimat zurückbringt.“
Theseus behielt bis jetzt diesen Auftrag in seinem Herzen.
Jetzt entglitt er aber seinem Gedächtnis wie Wolken,
die, vom Wind verjagt, des schneebedeckten Berges
luftigen Gipfel verlassen. Der Vater spähte ängstlich
von der Höhe der Burg. Die ständig fließenden Tränen
hatten die Augen getrübt. Kaum sah er das rot gefärbte
Segel, stürzte er sich hinab von der Höhe des Felsens.
Glaubte er doch, ein gnadenloses Schicksal habe
Theseus vernichtet. So also war das Haus befleckt vom
Tod des Vaters, als der todesmutige Theseus
es betrat. Wie er der Minostochter einst mit
rücksichtslosem Herzen Leiden zugefügt hatte,
so empfing er selbst nun Schmerzen. (64, VV. 207–248).
Der Mythos von Aigeus als dem Herrscher, dem die Ägäis ihren Namen verdankt, verbindet Athen mit dem Meer, mit Kreta und Naxos. Mit dieser Erzählung konnten die Athener ihren Herrschaftsanspruch begründen, und in ihr spiegelt sich vielleicht das von den Mykenern herbeigeführte Ende der kretisch-minoischen Seeherrschaft.
Aigeion, der gestürzte Riese – Symbol der Bedrohung
Die Griechen kannten aber noch eine zweite Mythengestalt, deren Name auf das Meer verweist. Aigeion nannten die Menschen das hundertarmige Wesen, das bei den Göttern Briareos hieß (Homer, Ilias, 1, VV. 403 / 4). Von ihm erzählt Hesiod, der im 7. Jh. v. Chr. ein Werk über die Entstehung der Götter mit dem Titel „Theogonia“ verfasste. Nachdem die Erdgöttin Gaia und der Himmelsgott Uranos aus dem Chaos entstanden waren, brachten sie die Titanen, deren jüngster Kronos war, und die Kyklopen hervor, die in der Mitte der Stirn ihr einziges Auge trugen. Weiter fährt er fort:
Aber noch andere waren von der Erde und dem
Himmel entsprossen. Drei Söhne, Riesen, unnennbaren Namens:
Kottos, Briareos und auch Gyges, Kinder voll Hochmut.
Hundert Arme streckten sich aus ihren Schultern