Politik ohne Gott. Группа авторов
mag eine Dosis göttlicher Eingebung mitunter durchaus hilfreich sein – nach der Verfassung wäre es genauso möglich, den Eid ohne religiöse Beteuerung zu leisten: »Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.« Punkt. Ohne »So wahr mir Gott helfe«.
Auch in deutschen Gerichtssälen wird viel geschworen unter Berufung auf Gott. Diese Beschwörungsformeln sind ein Hinweis auf die Stabilität alltäglicher Verhaltensmuster, zu denen der Gottesbezug wie selbstverständlich dazugehört – und das obwohl die Kirchen leer bleiben!
Während kirchlich gebundene und organisierte Religiosität ihre Bedeutung als gesellschaftliche Bindekraft verloren hat, ist das Sinnstiftungsangebot im postmodernen Supermarkt der Religionen gut sortiert. Und dieser Supermarkt ist inzwischen global. Vielleicht auch als Reaktion auf das bewusste, manchmal geradezu aggressive Auftreten religiöser Gruppen ist immer öfter von einer Zivilreligion die Rede und wird das christliche Abendland als Legitimation für die Dominanz der beiden großen christlichen Kirchen beschworen. Damit wird aber der Unterschied zwischen kultureller und religiöser Tradition rhetorisch verwischt und die Verfassungsstaatlichkeit als Nebenprodukt beider minimiert. Und so wird die Kirchensteuer weiterhin für selbstverständlich gehalten.
Gerade die immer wieder neu verhandelte Verpflichtung des deutschen Staates, die christlichen Kirchen für Enteignungen, die über zweihundert Jahre zurückliegen, zu entschädigen, erregt die säkularen Gemüter und disqualifiziert das deutsche Modell der Trennung von Staat und Kirche als eine »hinkende Trennung«, wie der Theologe Ulrich Schulz schon Anfang des 20. Jahrhunderts fand. Tatsächlich hinkt diese Trennung heute mehr denn je. Anders als die soziologischen Klassiker der Moderne meinten, ist die Macht der Religion und ihrer Institutionen zwar beschränkt, aber nicht gebrochen. So wird heute weniger von Säkularisierung als vielmehr von einer Renaissance der Religionen gesprochen. Galt die moderne Gesellschaft als säkular, so ist die postmoderne Gesellschaft zu einer postsäkularen mutiert!
Denn nicht nur genießen in Deutschland, anders als im laizistischen Frankreich, die christlichen Kirchen durch völkerrechtliche Konkordate und Kirchenverträge geschützte Sonderrechte – ihre Einflussnahme ist umso beharrlicher, je mehr ihre reale gesellschaftliche Bedeutung abzunehmen scheint. Es geht um Deutungshoheit, nicht zuletzt um finanzielle Privilegien. Ob kirchliche Feiertage, Sonntagsarbeit oder Religionsunterricht, ob Sexualmoral, Schwangerenberatung oder Sterbehilfe – die Kirchen wollen bei Themen, die für heutige Lebensverhältnisse relevant sind, mitentscheiden, und die Politik hört ihnen verlegen zu und scheint zu resignieren, statt ihren Einfluss gemäß der Verfassung einzudämmen.
Zwar wird im Namen der Religion das Miteinander propagiert, aber tatsächlich findet eine rabiate Auseinandersetzung zwischen Gläubigen und Ungläubigen, auch zwischen Gläubigen und Andersgläubigen statt. Witze, Karikaturen, Bücher, in denen religiöse Praktiken hinterfragt oder auch nur beschrieben werden, gelten oft schon als Beleidigungen, und eine parallele Rechtsprechung, die sich auf religiöse Traditionen beruft, ist auf dem Vormarsch. Dabei bleiben gerade jene Stimmen stumm, die den schwer erkämpften Säkularismus verteidigen sollten.
Vielleicht führt die »Wiederkehr der Götter«, wie Friedrich Wilhelm Graf die neue Religiosität nennt, zur Etablierung einer Volksreligion, die nach ähnlichen Ritualen der Eventisierung funktioniert wie die Politik. Vorerst aber wird die Verschränkung von Politik und Religion immer unübersichtlicher, und das Spannungsverhältnis von Politik und Religion ist zu einem zentralen Thema öffentlicher Auseinandersetzung geworden. Welche Sprengkraft Religion in sich birgt, zeigen die radikalen Bewegungen, die im Namen einer Religion Gesellschaften und ganze Staaten destabilisieren. So stellt sich die Frage nach der Trennung von Staat und Kirche immer neu – und mit immer größerer Dringlichkeit. Die integrationsbedingte Pluralisierung der religiösen Geographie hat die traditionelle Arbeitsteilung zwischen Staat und Kirche in eine noch deutlichere Schieflage gebracht, und das nicht nur hierzulande. Die Demokratien sind gefordert, sich gewissermaßen religionspolitisch neu zu orientieren.
Es geht nicht um die Austreibung Gottes, nur darum, die Errungenschaften der Aufklärung zu verteidigen, damit die Privatsache Gott nicht in die öffentliche Politik zurückkehrt.
Die Essays in diesem Band wollen die realexistierende Säkularisierung überprüfen und die Interessenkonflikte beschreiben, denen Demokratien heute ausgesetzt sind. Zwar geht es dabei vor allem um die deutsche Lage, aber Ausblicke auf die USA, den Balkan und Israel zeigen, wie brisant das Verhältnis zwischen Kirche und Staat, Religion und Politik auch woanders ist. Keineswegs antireligiös, plädiert dieser Band für den säkularen religionspluralistischen Staat.
DETLEV CLAUSSEN
Missglückte Säkularisierung
Neue Religiosität mit Zukunft
Abgestorbene Zellen von Religiosität inmitten des Säkularen aber werden zum Gift.
Theodor W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, 1964
An einem 1. April 2014, auf einer Gartenparty für eine pensionierte Grundschullehrerin in der Nähe Frankfurts, gerate ich in ein Gespräch mit einem Pädagogen im Rentenalter: »Ich habe in der letzten vierzig Jahren mehr islamische Schüler gehabt als christliche.« Weiß der Mann überhaupt, was er sagt? Er weiß, was er sagen will: »Meine besten Schüler sagen mir, was wir Deutschen uns von den Muslimen gefallen lassen, ist doch reiner Wahnsinn!« Ich kenne ihn, auch um 1968 nicht der hellste im Kopfe, begann er seine Karriere als linker Lehrer und wurde im Laufe der Jahrzehnte immer normaler. Zu dieser Existenzform gehört die konformistische Rebellion gegen »political correctness«, die man in diesen Kreisen der Alt-68er inzwischen als linke Übertreibung einzuschätzen weiß.
Das Missglückte an der Säkularisierung lässt sich im Alltag an allen Ecken und Enden spüren. Die Schule erfüllt ihre aufklärerische Aufgabe nicht. Wie sollte sie auch, mit solchen Lehrern? Der Mann ist ja kein Einzelfall. Auch Thilo Sarrazin wurde zu seinem Sachbuchbestseller »Deutschland schafft sich ab« inspiriert durch seine an der Grundschule lehrende Ehefrau Ursula. Rund dreihundert Jahre nach Einführung der Schulpflicht in Preußen fühlt man sich heute an die Milieutheorie des 18. Jahrhunderts erinnert. Die eindringliche Frage »Wer erzieht die Erzieher?« stellt sich neu. Nach hundert Jahren Aufklärung kritisierte der junge Marx in der 3. Feuerbachthese: »Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß.«
Gesellschaftliche Erklärungen für Konflikte zu suchen, ist in den letzten zwanzig Jahren aus der Mode gekommen. Die gegenwärtige Wirklichkeit wird aus der Vorvergangenheit erklärt und kulturalistisch interpretiert. Am umstrittenen »Multikulturalismus« wird dies besonders deutlich. Die verzerrte Wahrnehmung der Gesellschaft ist keineswegs auf den rechten Teil der Gesellschaft beschränkt, der die ethnisch heterogene Zusammensetzung der Bevölkerung verleugnet; auch sein linker Widerpart, der das Stichwort »Multikultur« erfunden zu haben behauptet, akzeptiert schon in diesem schlechten Begriff Herkunft und Tradition als Schlüsselkategorien zur Erkenntnis von gesellschaftlicher Wirklichkeit. Beide Seiten streiten sich naiv um Art und Weise einer möglichen Integration, die ein homogenes gesellschaftliches Ganzes voraussetzt. Ein an der Vergangenheit orientiertes Geschichtsbewusstsein verdinglicht Kultur zu einem ontologischen Begriff, der von der herkömmlichen Religion durchdrungen und legitimiert wird.
Der 11. September 2001 hat den Prozess verzerrter Wahrnehmung von Gesellschaften globalisiert. Samuel Huntingtons grobschlächtige Theorie »clash of civilizations« wurde noch einmal trivialisiert und sackte ins Alltagsbewusstsein ab. Die Fiktion schien realitätsmächtig zu werden, dass sich weltweit der Islam und der (christliche) Westen, das gute alte Abendland, gegenüberstünden. In einem Titanenkampf der Werte, selbst eine verdinglichte Kategorie, müsse der unheroisch gewordene Westen seinen Mann stehen – diese Weltsicht setzte sich in den Köpfen der Medienkonsumenten nicht nur im Westen durch. Der 2005 von den Medien provozierte und von islamistischen