Die Vier-in-einem-Perspektive. Frigga Haug
heute zu umreißen. Er eröffnet auch dieses Buch, in dem ferner Aufsätze überarbeitet zusammengestellt sind, die als Vorarbeiten zur Vier-in-einem-Perspektive verstanden werden können. Sie stammen aus vier zunächst getrennten Schwerpunkten politisch-wissenschaftlicher Arbeit: aus meiner langjährigen Forschung zu den durch Hochtechnologie bewirkten Umbrüchen in der Arbeit; aus meinen noch weiter zurückreichenden Untersuchungen über Ursachen und Orte von Frauenunterdrückung; aus den mehr autobiographisch bestimmten Fragen nach Selbstentfaltung und dem Kulturellen und den dabei erarbeiteten Methoden von Alltagsforschung (Erinnerungsarbeit); und aus den nie endenden Versuchen, Politik »von unten« zu entwickeln und zu praktizieren.
Aus der Vielzahl meiner Schriften sind solche bevorzugt ausgewählt, die wirksame politische Eingriffe waren und teilweise noch sind und die allgemeinverständlich geschrieben sind. Es war ebenso leicht, Aufsätze zu den vier Bereichen zu finden, wie offenkundig wurde, dass keiner in seinem Bereich stehen blieb. Sie zeigen vielmehr alle, dass Grenzüberschreitungen zu den notwendigen Erkenntnismitteln gehören, ja dass die Einsperrung von Tätigkeiten in einen der vier genannten Bereiche im wirklichen Leben eine Strafe ist und in der theoretischen Anstrengung eine Dummheit.
Leitendes methodisches wie politisches Instrument sind Widersprüche. In jedem Text wird man erkennen, wie Widersprüche aufgesucht werden, um als politische Handlungsfähigkeit den produktiven Umgang mit ihnen zu lernen. Diese Fähigkeit, so lässt sich nach und nach entschlüsseln, erwirbt man, wenn man keine Frage lässt, wie sie zu sein scheint, wenn man sie in ihren Widersprüchen auffasst, wenn man sie verschiebt und neue Lösungen auf anderer Ebene anpackt. Das hört sich schwierig an, bewährt sich jedoch in der Durchführung häufig als heiteres Lehrstück. Da beginnt ein Beitrag mit der kindlichen Sehnsucht, groß zu werden, und endet nach Ausflügen in Marxismus, Feminismus und Kritische Psychologie bei der Dialektik von Arbeitsfleiß und Faulheit und eben bei der Erneuerung der Sehnsucht, auch in der Arbeit zu Hause zu sein. Was die schwierigen Gedanken erleichtert und verständlich macht, ist die unbedingte Verknüpfung von alltäglicher Erfahrung mit theoretischer Anstrengung.
Die Fragen, die die Frauenbewegung aufgeworfen hat, sind nicht lösbar, ohne alte Arbeitsteilungen grundsätzlich umzuwerfen. Alles andere ist Flickwerk, nicht haltbar. Dies war schon einige Zeit offensichtlich, ohne dass solche Kritik politisch aufgegriffen werden konnte mit spürbarem Erfolg. Im Gegenteil ließen sich einige Forderungen aus der Frauenbewegung ins neoliberale Projekt aufnehmen, das so den Bewegungen das Mark nehmen konnte, um selbst stark zu werden.
Bei der Lektüre der einzelnen Beiträge wird man erkennen, dass immer wieder Vorschläge gemacht werden, die vier Bereiche Erwerb, Reproduktion, Kultur und Politik zu vernetzen – zögernd zunächst, aber gleichwohl unverkennbar. Sie sind selbst als Lernprozess entzifferbar, der allgemeines Lernen möglich macht. Man wird staunen, von wie vielen ganz unterschiedlichen Punkten und Problemen her sich die Frage nach der Zusammenfügung der vier Bereiche als gerechtere Politik stellt, und man wird sich wundern, wie alt ganz aktuelle Fragen sind, das heißt auch, wie wenig eine Politik, die auch Frauen einbezieht, in den letzten dreißig Jahren vorangekommen ist. Es war nicht an der Zeit, deshalb durchbrachen die Vorschläge zur Änderung von Politik kaum die Grenzen des öffentlichen politischen Raumes. Aber nichts bleibt, wie es ist. Die Forschungen sind niemals zu Ende, der Kompass gibt Richtungen an, die mit dem Auftreten einer Partei links von den Sozialdemokraten gehört und genutzt werden könnten. Es ist jetzt an der Zeit.
Erste Diskussionen
Der Vorschlag, die Vier-in-einem-Perspektive erneut in die politische Diskussion zu werfen, wurde bereits in vielen Gruppen an verschiedenen Orten diskutiert und führte zu produktiver Unruhe. Er stieß auch auf die erschöpften Vorbehalte derer, die durch die Öffnung der Grenzen um den Arbeitsbegriff lauter Mehrarbeit auf sich zukommen sahen, die sie als bloßes Zuviel empfanden. Insbesondere die Zumutung, Politik von unten zu machen, die den gesamten Entwurf beseelt, erscheint den in den bestehenden Verhältnissen festgezurrten Menschen als überwältigendes Erfordernis, das sie nicht wollen können. In einer Gruppe wurde entdeckt, dass das Überforderungsgefühl, das ihr Leben zu einer ermüdenden Hetze macht, im Grunde eine Unterforderung signalisiert, dass sie nämlich als Menschen mit Möglichkeiten, gesellschaftlich sich eingreifend zu betätigen, entgegen aller gewährten Selbstbestimmung überhaupt nicht gefordert waren und dass die erlebte sinnlose Sinnhaftigkeit eine Blockierung aller Lebensgeister nach sich zog.
»Es ist zu wenig Geld da für eine solche Lösung«, entgegnete einer in einer anderen Gruppe und zeigte, wie einfach es ist, den Standpunkt der Regierung zu übernehmen, und wie schwierig, die dafür nötige Kompetenz noch zu erarbeiten, denn es wurde ja auch hier ohne Überprüfung übergangen, dass die vielen ohne Arbeitseinkommen gleichwohl ja bislang finanziert werden mussten. Auch wurde diskutiert, dass »vier Bereiche« zu wenig seien und dass doch »die Erzieherinnen arbeitslos würden«, wenn Reproduktionsarbeit allgemein werde – die ketzerische Schlussfolgerung, dass dies auch mit den Politikern geschehen könnte, wurde noch nicht gedacht. Voll Hoffnung schreibt eine, der Ansatz »könne zu einer breiten politischen Debatte führen, die viele, viele Frauen stark macht«.
Im Vorfeld der Gründung der Partei Die Linke verblüffte Oskar Lafontaine mit dem Satz, dass nicht die SPD, wie sie selbst behauptete, Probleme habe, ihre Ziele dem Volk zu vermitteln, sondern umgekehrt das Volk, seine Forderungen den Oberen zu vermitteln. Das verschiebt die Vermittlungsfrage aus einer Politik von oben in eine Hegemoniefrage und lässt hoffen, dass in der neuen Linken die vielen Stimmen gehört werden. Da bleibt noch die Frage, welche Lernprozesse stattfinden müssen, bis aus den ungeübten Meinungen kluge Stimmen werden, die allgemein nützlich sind. In diesem Kontext will das Buch dazu beitragen, Forderungen der Unteren zu bündeln, ihre Handlungsfähigkeit zu stärken, für die es zugleich Mittel, Weg und Ziel bezeichnet. Es sind besonders Frauen angesprochen. Sie vor allem sind in den gesellschaftlichen Umbrüchen gefordert, weil sie den Reproduktionsbereich »natürlich« besetzen und mehr als die männlichen Gesellschaftsmitglieder über Jahrhunderte aus Politik und kultureller Entwicklung ausgeschlossen waren. Sie haben viel zu gewinnen.
Die Vier-in-einem-Perspektive
Eine Utopie von Frauen, die eine Utopie für alle ist
Bei den folgenden Überlegungen geht es um Gerechtigkeit bei der Verteilung von Erwerbsarbeit, Familienarbeit, Gemeinwesenarbeit und Entwicklungschancen. Lange Zeit wurden politische Projekte in diesen vier Bereichen getrennt verfolgt. Funktion dieses Beitrags ist es, einen Kompass zu liefern, der die unterschiedlichen Projekte auf einen Zusammenhang orientiert und in dieser Bündelung wahrhaft kritisch, ja revolutionär ist, während jedes für sich genommen früher oder später zu versanden pflegt.
Unter den Märchen der Gebrüder Grimm erzählt eines die Geschichte von dem Mädchen, das hübsch, aber faul ist und sich der Spinnarbeit verweigert. Der Mutter platzt schließlich der Kragen. Sie gibt dem Mädchen eine ordentliche Tracht Prügel. Die zufällig vorbeifahrende Königin hört es schreien. Sie lässt anhalten und fragt die Mutter, warum sie ihre Tochter schlage. Die Mutter schämt sich nicht wegen des Schlagens, sondern weil sie die Faulheit ihrer Tochter offenbaren soll. Also lügt sie listig, indem sie sogleich ihre Armut vorstellt: »Ich kann sie nicht vom Spinnen abbringen, sie will immer und ewig spinnen, und ich bin arm und kann den Flachs nicht herbeischaffen.« Das weckt die Begier der Königin nach einer derart überfleißigen Arbeiterin. Sie nimmt sie mit aufs Schloss. Dort führt sie das Mädchen zu drei Kammern voller Flachs und verspricht ihr gar ihren ältesten Sohn zum Gemahl, da jetzt nicht ihre Armut zähle, sondern »unverdrossner Fleiß Ausstattung genug« sei. Der Sohn verbringt im Übrigen seine Zeit mit Tanzen und Singen, Musizieren und Dichten, Malen, Theaterspielen, Reiten, Reisen, Fechten und Jagen, wie es sich eben für einen Königssohn gehört. Das Mädchen aber ist nicht nur faul, es kann überhaupt nicht spinnen und hat nach drei Tagen, als die Königin zurückkommt, um den Erfolg der Arbeit zu besichtigen, nichts vollbracht. Sie entschuldigt sich, dass sie wegen der Entfernung vom Haus der Mutter zu betrübt sei. Die Königin rührt das, aber sie ermahnt sie doch, endlich anzufangen. Wieder alleingelassen mit dem Flachs, blickt das Mädchen ratlos aus dem Fenster. Da gehen auf der Straße drei hässliche Weiber vorbei. Die erste hat einen Klumpfuß, der zweiten