Die Vier-in-einem-Perspektive. Frigga Haug
strukturierten Lebenswelten« an (Habermas 1985, 141 ff).
Habermas empfiehlt, die Hoffnung auf revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft durch die Arbeiterbewegung aufzugeben. Ebenso sei nicht auf den Wohlfahrtsstaat mit Vollbeschäftigungspolitik als Befriedung der Klassen zu setzen. Widerstand käme aus den neuen sozialen Bewegungen; demnach sei die Lebensweise (nicht die Arbeitsweise) Ferment für Umwälzungen. Es geht ihm um die Ersetzung der im marxschen Arbeitskonzept angelegten Revolutionstheorie. Aber reduzierte denn Marx sein Befreiungsprojekt auf die Aufhebung der entfremdeten Arbeit und die Emanzipation der (vermutlich männlichen) Arbeiter? Oder anders: Wie wäre denn mit Marx über die neuen sozialen Bewegungen zu denken und über die Befreiung der Lebensweise?
Holzkamp bezieht sich ebenso auf ein Handlungs- (und Handlungsfähigkeits-) Konzept. Für ihn steht allerdings die Zentralität einer auf die Arbeiterbewegung zählenden Revolutions- oder auch Gesellschaftsveränderungstheorie außer Frage. »Bewusstes Handeln auf klassenspezifische Lebensbedingungen« ist ein tragendes Element seiner Theoriebildung. Wie aber kommen bei ihm Selbsttätigkeit, Genuss und Selbstverwirklichung, kurz, wie kommt die Hoffnung vor, die Habermas als »utopische Stärke« bezeichnete?
Verunsichert durch die vielen bis hierher aufgeworfenen Fragen, scheint es mir an der Zeit, Marx noch einmal neu zu lesen. Das Gelände ist ein Kampfplatz. Verschiedene Richtungen beziehen sich auf Marx und sprechen dabei höchst gegensätzlich über seinen Arbeitsbegriff. Sie schlagen aufeinander ein mit Behauptungen, Marx wäre der Theoretiker der Abschaffung der Arbeit oder umgekehrt, er habe ihre Ewigkeit begründen wollen. Arbeit stehe bei ihm im Zentrum von individueller und von Menschheitsentwicklung. Sie begründe Gesellschaftstheorie recht eigentlich und sie sei ein bloßes Synonym für Herrschaft und Sklaverei. Die so sprechen, haben ihren Marx gelesen. Wie ausgerupfte Federn hängen Marxzitate als schmückendes Belegwerk in ihren Texten. Legt man die Beweisstücke nebeneinander, so kommt man unweigerlich zu dem Resultat: Marx hat seine Auffassungen geändert wie eine Wetterfahne die Richtung. Er hat alles zu Arbeit gesagt, als wäre sie nichts Ernstzunehmendes. Wie nun mit Marx verfahren, wenn wir die dogmatische Lesweise vermeiden wollen, die aus einem Zitat eine Theorie von ewiger Beständigkeit entwickelt, um in kirchlicher Manier dieselbe als wahr und einzig richtig zu verkünden? Verfahren wir nicht ebenso rechthaberisch, wenn wir die unterschiedlichen Verwendungen in einen Zusammenhang bringen wollen? Oder können wir uns damit zufriedengeben, Marx sei eben widersprüchlich; er wechsle die Paradigmen, wie dies heute modern ist, oder er habe nur in seinen Frühschriften Wahres verkündet und sei einer, der mit dem Alter nicht klüger wurde, sondern dümmer?
In der philosophischen Tradition und in der neueren Nationalökonomie (Smith, Ricardo) fand Marx einen Arbeitsbegriff in einem bedeutungsvoll umstrittenen Feld: Arbeit war Tätigkeit der Armen; sie war Mühsal und Plage, erschöpfte die Lebensgeister, ja sie war für viele an die Stelle des Lebens getreten. Aber Arbeit war auch Quelle des Reichtums und aller Werte.
»[…] es ist das Interesse aller reichen Nationen, dass der größte Teil der Armen nie untätig sei und sie dennoch stets verausgaben, was sie einnehmen […] Diejenigen, die ihr Leben durch die tägliche Arbeit gewinnen, haben nichts, was sie anstachelt, dienstlich zu sein außer ihren Bedürfnissen, welche es Klugheit ist zu lindern, aber Narrheit wäre zu kurieren […] folgt, dass in einer freien Nation […] der sicherste Reichtum aus einer Menge arbeitsamer Armen besteht« (B. de Mandeville, Die Bienenfabel, 173, 269; zit. n. MEW 23, 643).
Arbeit als Bindeglied zwischen Armut und Reichtum, als widersprüchliche Voraussetzung für beides – zunächst arbeitet Marx die Position von Arbeit in diesem provozierenden Gegensatz als Dimension von Herrschaft aus. In der politischen Form der Arbeiteremanzipation sei die allgemein menschliche Emanzipation deshalb enthalten, weil
»die ganze menschliche Knechtschaft in dem Verhältnis des Arbeiters zur Produktion involviert ist, und alle Knechtschaftsverhältnisse nur Modifikationen und Konsequenzen dieses Verhältnisses sind« (MEW EB 1, 521).
In seinen frühen Schriften finden wir eine Reihe von Sätzen, die im Sprachmaterial der Zeit Arbeit selbst als Entfremdung fassen.
»Denn erstens erscheint dem Menschen die Arbeit, die Lebenstätigkeit, das produktive Leben selbst nur als ein Mittel zur Befriedigung eines Bedürfnisses, des Bedürfnisses der Erhaltung der physischen Existenz. Das produktive Leben ist aber das Gattungsleben. Es ist das Leben erzeugende Leben.« (MEW EB 1, 516) Alle »menschliche Tätigkeit [war] bisher Arbeit, also Industrie, sich selbst entfremdete Tätigkeit« (MEW EB 1, 542 f).
Diese Auffassung, dass Arbeit selber die Form ist, in der Herrschaft sich äußert, und keineswegs etwa »erstes Lebensbedürfnis«, findet ihren konsequenten Ausdruck in der Schlussfolgerung, es sei die Arbeit, die abgeschafft gehöre:
»Es ist eines der größten Missverständnisse, von freier, gesellschaftlicher, menschlicher Arbeit, von Arbeit ohne Privateigentum zu sprechen. Die ›Arbeit‹ ist ihrem Wesen nach die unfreie, unmenschliche, ungesellschaftliche, vom Privateigentum bedingte und das Privateigentum schaffende Tätigkeit. Die Aufhebung des Privateigentums wird also erst zu einer Wirklichkeit, wenn sie als Aufhebung der Arbeit gefasst wird.« (Marx 1845, 25)
»Schließlich erhalten wir noch folgende Resultate aus den entwickelten Geschichtsauffassungen: […] 3. dass in allen bisherigen Revolutionen die Art der Tätigkeit stets unangetastet blieb und es sich nur um eine andere Distribution dieser Tätigkeit, um eine neue Verteilung der Arbeit an andere Personen handelte, während die kommunistische Revolution sich gegen die bisherige Art der Tätigkeit richtet, die Arbeit beseitigt« (MEW 3, 69 f).
Ich nehme nicht an, dass Marx hier tatsächlich daran dachte, Arbeit gefasst als Stoffwechsel des Menschen mit der Natur aufhebbar zu denken, dass er ewige Muße versprach oder die Abschaffung der Industrie mit dem Überleben der Menschheit für vereinbar hielt. Arbeit als Formbegriff zu denken zwingt uns vielmehr dazu, zu rekonstruieren, was eigentlich in die Form der Arbeit verkehrt wurde, welche »Substanz« also hier zu befreien ist. In der entfremdeten Form finden sich: freie Lebensäußerung; Genuss des Lebens; die Betätigung des menschlichen Gemeinwesens; Selbstbetätigung; Bewusstsein, ein menschliches Bedürfnis befriedigt zu haben; in der Liebe sich bestätigt wissen (vgl. MEW EB 1, 462 f); die Entwicklung der Individuen zu totalen Individuen; der Verkehr der Individuen als solcher (vgl. MEW 3, 68); bewusste, freie Lebenstätigkeit als Gattungswesen (vgl. MEW EB 1, 516) u. v. m. Die Betonung liegt auf der »freien Tätigkeit« oder »Selbsttätigkeit« – diese ist immer im Verhältnis zur Gattung gedacht, als gattungsspezifisches Merkmal. Die Menschen sind als Gattungswesen produktiv füreinander tätig, dies bestimmt ihren Verkehr untereinander, das Gemeinwesen und die Entwicklung der Individuen. Diese Selbsttätigkeit ist Genuss. Das Leben selbst ist lustvolle Produktion. Von solchen marxschen Sätzen ausgehend könnten wir »Selbsttätigkeit als erstes Lebensbedürfnis« formulieren, das Gemeinwesen als produktiven Zusammenhang denken und Entwicklung der Individuen durch freie Lebenstätigkeit – aber wir kämen niemals auf die sozialwissenschaftlich moderne Abwehr: nicht Arbeit dürfe fürderhin im Zentrum von Gesellschaftstheorie stehen (wie angeblich bei Marx), sondern Kommunikation oder Lebensweise (Lebenswelt). Es ist ganz offensichtlich, dass Marx diesen Unterschied zwischen Arbeits- und Lebenswelt nicht machte bzw. dass es ihm um die Revolutionierung dessen ging, was heute »Lebensweise« genannt wird. Diese begriff er als den gemeinschaftlichen genussvollen, tätigen Zusammenhang der Individuen eines Gemeinwesens. Inbegriffen sind die Verkehrsformen, die Liebe, das Leben selbst. Leben ist ihm allerdings in jedem Fall tätiges Leben. Die Lebensweise wird verkehrt durch die Produktionsverhältnisse, die Art und Weise, wie die Menschen ihr materielles Leben produzieren. Vereinfacht gesprochen tun sie dies im Laufe der Geschichte zunächst so, dass die einen der Selbstbetätigung frönen, während die anderen das materielle Leben erzeugen (vgl. auch MEW 3, 67 f).
Selbstbetätigung als Perspektive der Befreiung bezieht sich auf die Erzeugung des materiellen Lebens – dieser Bezug ist notwendig, um Leben ohne Herrschaft überhaupt denken zu können. Die Erzeugung des materiellen Lebens durchläuft so verschiedene Entwicklungsstufen – eine Form ist die Arbeit. Sie ist die unmittelbarste Verkehrung, »negative Form der Selbstbetätigung« (vgl. MEW 3, 67.). Das Leben selbst gerät mit sich in Entzweiung. In dieser Negation entfaltet Marx analytische Bestimmungen, die auch im späteren Kapital