Die Vier-in-einem-Perspektive. Frigga Haug
wie meine Lust am Arbeitsvorhaben und damit meine Möglichkeit, diesen Text überhaupt zu schreiben. »Die Erziehung zur Liebe zur Arbeit« – das war der Tenor der Schriften aus der Sowjetunion und aus der DDR, die ich mit so viel Hoffnung aufgeschlagen hatte. Übrig blieb der staubige Geruch aus dem Schulzimmer, der Geist jener Arbeiten, denen ich in meiner Kindheit so erfolgreich aus dem Wege gegangen war. Eine Moral sollte installiert werden; gegen einen angenommenen Sinn für Faulheit sollte die Formierung zur Arbeitsamkeit treten. Disziplin, Gehorsam, Ordnung hatten die Plätze der freudigen, schöpferischen, neuen, lebendigen Freiwilligkeit eingenommen. Ein nützliches Glied der Gesellschaft zu sein, das war nicht mehr Geheimnis, Aufbruch, Lust und Gemeinsamkeit – das war individuelle Pflichtübung, gefordert von Lehrern, die darüber ebenso lustlos schrieben, wie die Schüler sich offenbar dazu verhielten – will man den Büchern Glauben schenken. Aus dem Frühlingssturm des lebendigen Wollens war der eisige Wind der Arbeitspflicht geworden. Aus der Lust, ein Mensch sein zu wollen, wurde die Not eines Zöglings in einer Besserungsanstalt. Ich gab auf. Mein Projekt schob ich ins Vergessen. An seine Stelle rückte eine Tochter.
Die Unruhe trieb mich zurück in die Universität. Acht Jahre später gründete ich das Projekt Automation und Qualifikation (vgl. zuletzt PAQ 1987). Hinter dem eher nüchternen Namen suchte ich erneut jenem Geheimnis des frühen Milchholens auf die Spur zu kommen. War es nicht möglich, dass die Entwicklung der Technologie die Arbeit so weit von aller Last, von Monotonie und Dummheit befreien konnte, dass die Arbeitenden endlich anfingen, ihre lebendige Tätigkeit wie Menschen schöpferisch und lustvoll zu leben? Könnte Arbeit jetzt so gestaltet werden, dass lebenslanges Lernen eine Gewohnheit wurde? Zusammenarbeit zur wechselseitigen Stärkung führte? Phantasie zur Notwendigkeit? Und müsste nicht eine solche Technologie aus den privaten Verwertungszwecken ganz unabdingbar zurückgeholt werden ins Gesellschaftliche? Allerdings dachten wir solche Möglichkeiten nicht als harmonische automatische Folge der Entwicklung der Produktionsmittel. Vielmehr folgten wir auch hier Marx, der solche Zusammenstöße von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen als Katastrophe, als Fragen von Leben und Tod annahm.
Wir versuchten, uns ein solches Individuum vorzustellen, welches lernend arbeitet und arbeitend vornehmlich seinen Kopf betätigt, in dieser Weise verbunden mit anderen. Wir suchten das »total entwickelte Individuum« und Elemente seines Möglichseins hier und heute. Unversehens stellten wir uns die kommenden Arbeiter als Wissenschaftler vor – eigentlich als Mitglieder unseres Forschungsprojekts. Ungleich uns selber hatten sie jedoch keine Körper – zumindest keine Arbeitskörper. Solch einseitige Betrachtung der Menschen schien uns jedoch auch in eine Perspektive zu verweisen, in der die Kultur der Körper gesellschaftliche Tat wird und an die Stelle des einfachen Verbrauchs von Arbeitskraft treten kann. Klaus Holzkamp war so etwas wie ein Ehrenmitglied unseres Projekts. Wir nannten ihn nach dem damaligen erfolgreichen Radsportler den Eddy Merx der Psychologie – ein Name, der zugleich auf das marxsche Erbe wie auf den unendlichen Arbeitseifer verwies, mit dem Holzkamp die Kritische Psychologie Stein um Stein aufbaute. Eigentümlicherweise hatten wir für diese geistige Arbeit eine Figur als eine Art Code gewählt, die als Radsportler ausdrücklich körperliche Arbeit in physikalisch messbarem Umfang leistete – bis zur Erschöpfung. Nur dies schien uns angemessen, um diese Verwandlung von Lebenskraft in Energie der Veränderung zu kennzeichnen. Zum damaligen Zeitpunkt meinten wir das durchaus nicht kritisch. Vielleicht ist es notwendig, selbst praktisch eine solche Verwandlung von Lebenszeit in selbstgewählte Arbeitszeit zu leben, um schließlich doch – wie Klaus dies in der Grundlegung (1984) tat – die Botschaft von der Identität von gesellschaftlicher Reproduktion und der der Individuen zu hinterfragen. Wenngleich die Einzelnen Gesellschaft wiederherstellen müssen, indem sie ihr Leben erhalten, überlebt doch Gesellschaft, wenn Menschen sich selbst vergessen, zu wenig schlafen, essen, lieben und genießen und schließlich krank werden und sterben, und sie überlebt selbst dann, wenn Einzelne sich parasitär verhalten. Gebraucht wird eine Kultur des individuellen Lebens, gerade weil der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist.
Welche Rolle spielt eigentlich Arbeit in der Psychologie allgemein und welche in der Kritischen Psychologie? Der erste Teil der Frage ist schnell beantwortet: In den verschiedenen Abteilungen herkömmlicher Psychologie hat Arbeit so lange keinen Ort, wie sie nicht durch ihr praktisches Fehlen – in Gestalt von Arbeitslosigkeit – als Ursache psychischer Störungen behauptet werden kann. Daneben gibt es eine Spezialdisziplin: die Arbeitspsychologie – ihre Domäne sind die psychophysischen Vernutzungen durch den Gebrauch menschlicher Sinne, Muskeln und Nerven. Arbeit selbst aber als spezifisch menschlich zu sehen und von daher als grundlegende Dimension jeder Subjekttheorie zu begreifen, dies tut erst die Kritische Psychologie.
In diesem Selbstverständnis fühlten wir uns als Automationsprojekt im Psychologischen Institut wie die Fische im Wasser. Unsere Hoffnungen auf menschliche Entwicklung in der Automationsarbeit sahen wir gestärkt durch das von Ute Holzkamp-Osterkamp formulierte Konzept der »produktiven Bedürfnisse« (1975, 76). Gehört es nicht zur menschlichen Natur, eingreifen, gestalten und verändern zu wollen, sich die Welt anzueignen, um sie zum Wohle aller bewohnbar zu machen? Unser ungebrochener Optimismus in dieser Frage entstand zwar vor der Zeit, da die Meldung von Umweltkatastrophen fast täglich demonstriert, dass die Menschen ausgezogen zu sein scheinen, die Welt unbewohnbar zu machen. Jedoch wird unter diesen Verhältnissen der Einsatz für die Verwirklichung eines Menschseins umso dringlicher, welches zugleich die Bewahrung und Befriedung der Welt und die Entfaltung der individuellen Kräfte auf die Tagesordnung setzt.
»Das produktive Leben ist aber das Gattungsleben. Es ist das Leben erzeugende Leben. In der Art der Lebenstätigkeit liegt der ganze Charakter einer Spezies, ihr Gattungscharakter, und die freie bewusste Tätigkeit ist der Gattungscharakter des Menschen.« (MEW EB 1, 516)
In diesen Worten des jungen Marx fühlten wir uns aufgehoben, einig in der Kritischen Psychologie und wohlgerüstet für unser Automationsprojekt.
In Ute H.-Osterkamps Entwurf schließen die »produktiven Bedürfnisse« das Verlangen nach der Verfügung über die gesellschaftlichen Lebensbedingungen ein; der Protest gegen fremdbestimmte Produktionsverhältnisse kann mitgedacht werden. Die Vorstellung, dass der Mensch mit einem Verlangen nach produktivem Tun ausgestattet sein könnte, gab den in Sozialarbeit und Kindererziehung tätigen Psychologen unmittelbar Auftrieb. Sie übertrugen die kategoriale Form umstandslos auf die Wirklichkeit in Kindergarten und Schule – heraus kam eine neuerliche »Erziehung zur Liebe zur Arbeit«. Die einschnürende Kälte aus den alten Büchern meines früheren Dissertationsprojekts wurde gelockert durch die warme Fröhlichkeit der Erzieher. Die Umklammerung blieb. Vergeblich versuchten wir auf der methodischen Ebene den Status der Kategorie einzuklagen. Zu verführerisch war es, die alten Erziehungsziele von Fleiß, Disziplin, Ordnung usw. durch die neue Kritische Psychologie nicht nur zu legitimieren, sondern sogar mit dem Atem des Revolutionären zu beseelen.
Wir vom Forschungsprojekt zur Automationsarbeit wussten ›natürlich‹, dass der Begriff der »produktiven Bedürfnisse« nicht unmittelbar empirisch verwandt werden konnte. Aber konnten nicht »Ansätze«, »Triebkräfte«, »Formen« dieser menschlichen Ausstattung hier und heute gefunden werden? Das unlösbare Problem, mit dem wir uns herumschlugen, war kurz gesagt dieses: Die Vorstellung, dass dem Menschen ein Bedürfnis nach Produktion innewohne, ja dass er so sein Menschsein verwirkliche, verengte unseren Blick auf die Entwicklung einzelner Individuen in Bezug auf ihre Fähigkeiten zur Produktion im Denken, Planen, Können und Wollen. Dies trotz besseren Wissens um die Gesellschaftlichkeit des Menschen. Fragen der Zusammenarbeit mussten wir zusätzlich anfügen; gesellschaftliche Fremdbestimmung war für uns der beengende Rahmen, der das übergreifende Wollen behinderte, nicht selbst eine Form des Denkens und Handelns.
Die einzelnen Menschen gerieten uns zu bewusst tätigen Wesen; aber ihr Bewusstsein kreiste in unserem Entwurf nicht allein ausschließlich um Arbeit, es hatte ihr Sein aufgeschluckt.
Wie erleichtert waren wir, als Klaus Holzkamp in der Grundlegung nicht nur die »produktiven Bedürfnisse« ohne weitere Auseinandersetzung als zentrale Kategorie wieder verschwinden ließ (bzw. ersetzte durch die Wendung »produktiver Aspekt menschlicher Bedürfnis-Verhältnisse« [242]), sondern sich sogar an den Hauptbrocken wagte: Marx und die Arbeit. Ohne große Umstände wird jener Kronzeuge der vielen Bücher, die zur Liebe zur Arbeit erziehen wollten, jener historisch