Geburtsort: Königsberg. Ursula Klein
das klang ja furchtbar! Darum gaben sie sich bereits Zuhause große Mühe, nicht nur den Text zu können, sondern auch den Inhalt durch die Betonung richtig darzustellen.
Wie in der Kirche, so stellten sich die beiden Großen hin und sagten die Verse abwechselnd auf:
„Das Stroh in der Krippe spricht:
Im Sommerwinde waren wir Halm und Ähre,
wir trugen des Brotes Duft und Schwere,
wir schaukelten hin, wir schaukelten her,
wir waren ein wogendes goldenes Meer.“
„Zu unsern Füßen wuchs Rade und Mohn,
heut sind wir das Bettlein dem Gottessohn;
heut halten wir ihn, das himmlische Brot,
und statt dem Mohn, so blutig rot
halten wir ihn, den Erlöser der Welt.“
„Ob ihm sein armes Bettlein gefällt?
Es liegt so hart, es liegt so arm
Und es muss frieren, dass Gott erbarm!
Was sind wir hart, wir Hälmlein Stroh!
Leg deine Liebe dazu, dann wird es froh.“
Nach langem Üben klappte es auch Zuhause. Lächelnd und stolz zugleich schauten die Eltern ihre Großen an, wenn sie die Texte immer und immer wieder wiederholten. Die Aufführung der Weihnachtsgeschichte mit der Geburt Jesu wurde mit dem Jugendbund und den Kindern aus der Sonntagsschule zum Heiligabend gemeinsam aufgeführt. Lisbeth, Hanna und Herta hatten zwar nur das Gedicht zu sagen, aber sie fühlten sich sehr wichtig.
Die beiden Großen taten geheimnisvoll in der Vorbereitung von selbst gebastelten Geschenken. Sie hatten sich hier und da mit kleinen Dienstleistungen ein paar Pfennige verdient, für die sie Wolle, Häkelgarn, Weihnachtspapier und Schleifen gekauft hatten. Nun saßen sie möglichst versteckt in der Stube, so lange das Tageslicht noch ausreichend war und jeder versuchte sein Bestes.
Für die Mutter sollte unbedingt ein Deckchen für das Nähtischchen gehäkelt werden. Das hatte sich Hanna vorgenommen und für diesen Zweck eine Extraanleitung von Tante Malche erhalten. Nun saß sie da, die Hände hielten krampfhaft Häkelnadel und Garn, die Zunge half vor lauter Anstrengung mit. Die Hände wurden feucht. Ach, das ist ja so mühsam, stöhnte sie insgeheim.
Lisbeth wollte das Kunstwerk anstreben und der Mutter ein Paar Handschuhe stricken. Auch diese Arbeit war sehr schwer. Bei Mutter sah es immer so einfach aus, wenn sie abends strickte. Sie unterhielt sich sogar dabei und schaute manchmal auch weg, konnte aber trotzdem die Maschen ohne Anstrengung finden. Lisbeth kämpfte mit den fünf Nadeln, weil immer einmal eine Nadel aus den Maschen herausrutschte. Aber sie gab nicht auf, denn die Handschuhe brauchte Mutter dringend.
Der Vater sollte einen warmen Schal bekommen. Daran arbeiteten Lisbeth und Hanna gemeinsam, denn der brauchte viel Zeit und Wolle. Immer wenn die Handarbeitskünstler dachten, dass sie schon recht viel gestrickt hatten und die Länge an sich selbst ausprobierten, mussten sie feststellen, dass er noch lange nicht fertig war. Dann atmeten sie nur tief durch, schauten sich fragend an und machten sich wieder an die Arbeit.
Vater und Mutter taten so, als ob sie nicht wüssten, woran die beiden arbeiteten, um ihnen nicht die Vorfreude zu nehmen. Aber sie konnten sich alle nur im Wohnzimmer treffen, weil hier der Ofen warm war und die Lampe über dem Tisch hing. Das Zimmer hatte zwar nur die eine Lampe, die von der Decke bis dicht über den Tisch zum Arbeiten und Lesen heruntergezogen wurde, aber alle konnten ihre Arbeit sehen. Dabei war die Familie mächtig stolz, dass in ihrer Wohnung schon das elektrische Licht brannte und nicht die „altmodsche“ Petroleum- oder Gaslampe leuchtete.
Die anderen Kinder spielten in den Ecken und Winkeln der Wohnstube. Draußen stiemte es. Eisiger Wind heulte, trug den Schnee durch die Straßen und häufte ihn an geschützten Stellen zu Schneebergen auf. In die Röhre des Kachelofens hatte Mutter Äpfel aus dem Garten zum Schmoren gelegt, die wunderbar süßlich rochen. Lisbeth kam auf die Idee: „Mutter, erzähle uns doch bitte eine Geschichte, es ist gerade so gemütlich!“
Mutters liebe und gütige Augen blickten in die Runde. „O ja, Mutter, erzähle uns bitte, bitte eine Geschichte. Wir sind auch ganz leise und hören zu.“ Und Mutter erzählte die Geschichte eines Pfefferkuchenmannes:
„Es war einmal ein Pfefferkuchenmann,
von Wuchse groß und mächtig.
Und was seinen inneren Wert betraf,
so sagte der Bäcker: „Prächtig!“
Auf dieses glänzende Zeugnis hin
erstand ihn der Onkel Heller
und stellte ihn seinem Patenkind,
dem Fritz, auf den Weihnachtsteller.
Doch kaum war mit dem Pfefferkuchenmann
der Fritz ins Gespräch gekommen,
da hatte er schon – aus Höflichkeit –
die Mütze ihm abgenommen.
Als schlafen ging der Pfefferkuchenmann,
da bog er sich krumm vor Schmerze;
an der linken Seite fehlte fast ganz
sein stolzes Rosinenherze.
Als Fritz tags drauf den Pfefferkuchenmann
besuchte ganz früh und alleine,
da fehlten, o Schreck, dem armen Kerl
ein Arm schon und beide Beine.
Und wo einst saß am Pfefferkuchenmann
die mächtige Habichtsnase,
da war – ein Loch! Und er weinte still
eine bräunliche Sirupblase.
Von nun an nahm der Pfefferkuchenmann
ein reißendes, schreckliches Ende.
Das letzte Stückchen kam schließlich durch Tausch
in Schwester Margretchens Hände.
Die kochte als sorgliche Hausfrau draus
für ihre hungrige Puppe
auf ihrem neuen Spiritusherd
eine kräftige, leckere Suppe.
Und das geschah dem Pfefferkuchenmann,
den einst so viele bewundert
in seiner Schönheit bei Bäcker Schmidt
im Jahre neunzehnhundert.“
Sehnsüchtig schauten die Kinder die Mutter an und jeder hatte nur den einen Wunsch, auch so einen schönen Pfefferkuchen zu besitzen. Mutter sagte darum: „Das Gedicht von Paul Richter hat euch bestimmt so aus dem Herzen gesprochen, dass ihr alle Appetit bekommen habt. Heute essen wir erst einmal jeder einen geschmorten Apfel und morgen Abend können mir die Großen beim Kneten helfen. Wir werden dann übermorgen für jeden von euch auch einen so schönen Pfefferkuchenmann backen.“ Alle Kinderaugen strahlten wie der Weihnachtsengel persönlich. Jeder rechnete sich sofort aus, wann wohl der günstigste Moment zum Naschen war und in Gedanken schmeckten sie schon den würzigen, rohen Teig, der beim Ausstechen und Formen – also ungebacken – am besten schmeckte.
Am nächsten Tag war strahlend blauer Himmel. Der Schnee am Brauereiteich lud zum Rutschen und Schlittenfahren ein. Und nach der Schule – Hanna konnte es kaum erwarten – ging es mit den anderen Kindern an den Hang, der genau gegenüber vom Haus war und das Wasser der Brauerei staute. Mutter rief noch hinterher: „Aber geht mir nicht auf das Eis, es ist noch nicht fest genug!“ Jedoch Hanna hatte schon ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Hang gerichtet, krabbelte den Berg hinauf, setzte sich auf den Schlitten und fuhr mit dem Ausruf „Bahn frei!“ den Berg wieder hinunter. Ach, wie schön war der Schnee. Wie herrlich war die Welt. Dass Hanna auf ihren Bruder Fritz aufpassen musste und ihn