Koshiki Kata. Roland Habersetzer

Koshiki Kata - Roland Habersetzer


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sein Karatedô „auf andere Weise“ auszuführen.

      Man begreift nun, daß viele Karateka irgendwann aufhören, ihre Kampfkunst zu praktizieren, da sie keine weiteren Entwicklungsmöglichkeiten sehen. Und dabei handelt es sich oft um noch junge Karateka voller Lebenskraft. In Japan und auf Okinawa stellte das Alter hingegen nie ein Problem dar. Man lernte dort, daß man in jedem Alter effizient bleiben kann, aber jeweils auf andere Art und Weise. Doch um das zu wissen, muß man etwas über die energetische Rolle der traditionellen Kata erfahren haben. Man muß mit ihren subtilen Hinweisen für eine intelligente und den Umständen des jeweiligen Alters angepaßte Haushaltung einer Lebensenergie vertraut sein, die nur Narren freiwillig vergeuden würden. Doch auch hierfür ist der Zugangscode nicht immer offensichtlich, sofern überhaupt noch vorhanden. Viele dieser hinweisenden Bewegungen und Körperhaltungen sind verlorengegangen, als die Übertragungskette vom Meister zum „inneren“ Schüler nicht mehr respektiert wurde. Andere Schüler, die der Meister wissentlich über die Zugangsschlüssel in Unkenntnis gelassen hat, waren davon überzeugt, daß diese Bewegungen und Körperhaltungen schlichtweg unnütz waren. Und so haben sie sie einfach weggelassen.

      Betrachtet man den Ablauf einiger heute existierender Kata genauer, fällt auf, daß mitunter eine bestimmte Passage, die sehr kurz sein kann, in keinem Zusammenhang steht mit dem, was vorher war und dem, was folgt. Ein anderer Abschnitt der Kata kann hingegen zu langsam erscheinen, als daß er für die reale Anwendung in einem Kampf geeignet sein könnte. Eine weitere Bewegung kann übertrieben ausgefeilt wirken und auf diese Weise vollständig ungeeignet für die Anwendung. Dies sind Hinweise auf Schlüssel, die noch heute existieren. Es liegt auf der Hand, daß man, wenn man Karate als Sport betreibt, sich solcher Dinge schnell entledigen wird. In der Folge werden die Techniken uniformisiert, damit sie „für jedermann geeignet“ sind, Rhythmen werden verändert. Es werden sogar Teile der Bewegungsfolgen durch neue ersetzt, die als Bindeglied für die beibehaltenen Techniken dienen sollen, einzig zu dem Zweck, daß sie sich besser für den Kampf eignen. Diese Verarmung setzt sich fort in der Massenpraxis.

      Die Entschlüsselungsarbeit hinsichtlich der energetischen Aspekte der Kata, sofern diese noch möglich ist, ist äußerst langwierig und voller Fallstricke. Es gibt unzählige falsche Fährten, aber auch zahllose glückliche Funde, die ins Konzept passen und diese oder jene These stützen. Alles in allem geht es darum, durch die Kata den Geist und damit die Botschaft, die ihr Schöpfer in sie eingebracht hat, wiederzuentdecken. Es sollte am Ende möglich sein, genau dies weiterzuvermitteln, damit die traditionelle Kata auch in Zukunft ihre bildende, erzieherische Funktion ausüben kann, deretwegen sie einst geschaffen wurde.

      Es ist wichtig zu begreifen, daß eine Kata, die nicht „korrekt“ im oben beschriebenen Sinne ausgeführt wird, gefährlich werden kann für denjenigen, der mit ihr umgeht. Daran ändert nichts, daß die unwissentlich falsche Ausführung dem Zeitgeist geschuldet ist, was nicht in der Verantwortung des Praktizierenden liegt. Die Kata ist gewissermaßen eine Waffe, und es ist immer gefährlich, eine Waffe falsch zu gebrauchen. Es ist nicht so sehr von Bedeutung, wenn eine moderne Kata hinsichtlich ihrer externen Bestimmung unwirksam geworden sein sollte. Um sie wieder für den realen Kampf geeignet zu machen, müßte sie dann vielleicht umstrukturiert werden, zumindest teilweise. Viel wichtiger ist die Unkenntnis der inneren Kräfte, die entfesselt werden. Durch diese kann der „esoterische“ Aspekt der Kata für Körper und Geist des Ausführenden zur Gefahr werden. Ihrem Wesen nach ist die traditionelle Kata ein Mittel, das die körperliche und geistige Unversehrtheit dessen, der sie zu nutzen weiß, bewahrt. Sie ist eine Reise mitten ins Herz des Authentischen. Man muß solch eine Reise voll Vertrauen in das, was die alten Meister in die Kata eingebracht haben, antreten. Man muß bescheiden und geduldig vorgehen, um nicht eines Tages in Versuchung zu geraten, eine Abkürzung zu nehmen, die in Wahrheit eine endgültige Abkehr vom ursprünglichen Pfad bedeutet. Nur so kann die Reise gefahrlos für sich selbst und für andere unternommen werden. Auch muß man bereit sein, die erforderlichen Mühen auf sich zu nehmen, und man muß nach jener selbstlosen Perfektion streben, die alle echten Meister der Kampfkünste charakterisiert und die aus der Technik eine Kunst werden läßt. Das Ideal der Kata, das angestrebt werden sollte, besteht darin, daß man sich auf einen lebenslangen Weg begibt, dessen Ziel im Unendlichen liegt.

      Effektiv im Kampf zu sein, ist nur ein geringer Teil des großen Ganzen. Solch eine Effektivität ergibt sich eines Tages auf ganz natürliche Weise, doch hat dies eine eher beiläufige Bedeutung und bedeutet keinesfalls das Ende des Weges. Das ist der Grund, weshalb die Kata in ihrer klassischen Form den ganzen Geist des Karatedô verkörpert.

      Die heutigen Probleme bei der Praxis der Kata resultieren aus der fast überall herrschenden Verwirrung hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Bedeutungen und Ausführungsarten. Es gibt Kampf-Kata, Vorführungs-Kata, energetische Kata… Natürlich spielt – wenn man die Interessen verschiedener Gruppierungen berücksichtigt – auch Konkurrenzdenken und damit Opposition und Intoleranz eine Rolle, wenn über solche Fragen diskutiert wird. Um der fruchtlosen Polemik zu entrinnen, muß man sich endlich eingestehen, daß die Wahrheit vielfältig ist und daß keine Schule und kein Verband ein Exklusivrecht darauf hat. Ein bestimmter Teil einer Kata, wie er in einer Schule praktiziert wird, kann beispielsweise besser verstanden werden, wenn man einen Blick darauf wirft, wie die gleiche Passage in einer anderen Schule ausgeführt wird. Man muß schließlich auch akzeptieren, daß jene, die danach streben, eine Kata ästhetisch vollendet nach den Normen einer Wettkampf-Jury auszuführen, ein Recht darauf haben, ebenso, wie man akzeptieren muß, daß auch jene, die eine Abneigung gegen sportliche Wettkämpfe empfinden, ein Recht darauf haben, die Kata auf traditionelle Weise zu praktizieren. Tatsächlich werden letztere, die scheinbar danach streben, etwas Nutzloses zu erobern, die ebenso pragmatische wie verführerische Denkweise unserer Zeit kaum teilen. Dennoch sind sie alles andere als Träumer oder Tänzer. Von ihrer Fähigkeit, dem Zeitgeist zu trotzen, hängt das Überleben eines Weges ab, der von Menschen der Vergangenheit auf vollendete Weise gebahnt worden ist, damit den Menschen der Zukunft der Geschmack am Wahrhaftigen erhalten bleibe.

      Unklarheiten ergeben sich vor allem auch daraus, daß man den grundlegenden Unterschied zwischen dem traditionellen Karatedô und dem modernen Sportkarate noch immer nicht richtig verstanden hat. Die Tatsache, daß die Kata Teil der traditionellen Kampfkünste sind, hebt diese aus dem Bereich des Sports heraus, welchem sie noch immer allzu oft zugeordnet werden. Solange die Koshiki Kata existieren, werden die Wurzeln der authentischen Kampfkunst bestehen bleiben. Das Karatedô besitzt durch die klassischen Kata eine Dimension, die das Sportkarate, was auch immer dessen sonstige Verdienste sein mögen, unmöglich erreichen kann.

      Die Koshiki Kata sind ein Schlüssel zum Wissen, genauso wie andere Wege, die im Fernen Osten getreuer überliefert wurden als in anderen Weltgegenden. Die Kata beruhen auf der Meisterung von Körperhaltungen und Bewegungen wie auf der von Tönen. Manchmal ist beides zugleich im Spiel, und dies insbesondere im Zusammenhang mit dem Streben nach harmonischem Atmen. Die Koshiki Kata sind mit gewissen heiligen Tänzen alter Zeiten verwandt. Bei diesen Tänzen befand sich der Priester im Zentrum sonderbarer Kraftlinien, was ihn in die Lage versetzte, mit „etwas“ zu kommunizieren. Dies wurde möglich, weil der Priester durch den Rhythmus und die Bewegungsformen Zugang zu einer Art ursprünglicher Intelligenz finden konnte, nachdem alle durch den Verstand bedingten Hemmungen verschwunden waren. Und so finden sich in einigen Haltungen der okinawanischen Kata interessante Ähnlichkeiten mit dem traditionellen Königstanz der Insel, dem Ukansen Odori. Auf diese Weise muß man das alte Konzept der Kata als unendlichem Schatz verstehen – die klassische Kata als unerschöpfliche Quelle des einzig wahren Reichtums, den ein Mensch sich erhoffen kann.

      Jedoch sollte man nun nicht den Fehler begehen, dies alles bedenkenlos zu verallgemeinern. Es ist wenig wahrscheinlich, daß sämtliche okinawanische Fischer und Bauern, die mit ihrer Kampfkunst vertraut waren, über ein esoterisches Wissen verfügten, das jeden von ihnen in einen unerschöpflichen Born der Weisheit verwandelt hätte. Die Okinawaner haben sich im Gegenteil als recht unzugänglich


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