Koshiki Kata. Roland Habersetzer
kann ihre Wirkung nur entfalten, wenn es gelingt, die inneren Triebe, die des Körpers wie die des Geistes, zu kontrollieren. Es ist wohlbekannt, daß zwischen beiden eine Wechselwirkung besteht; alles, was sich auf die Psyche des Menschen auswirkt, findet seinen Widerhall in der Funktion der Organe und umgekehrt. Die Koshiki Kata bilden sowohl das Äußere als auch das Innere und sie bewirken zudem ein wechselseitiges Bilden beider. Sie stellen eine Methode dar, den Körper wie auch den Geist energetisch wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Unter diesem Gesichtspunkt sind die Koshiki Kata tatsächlich nichts anderes als eine Form des Qigong25. Dessen Endzweck besteht darin, das Individuum von allen inneren Hemmnissen zu befreien, die seine Energie, seine Lebenskraft, daran hindern, auf natürliche Weise zu zirkulieren. Dies soll ihm gestatten, sich auf geistiger Ebene weiterentwickeln zu können. Hier kommt die im vorigen Abschnitt erläuterte mögliche Lesart ku („leer“ im Sinne von „leerem Geist“) des Ideogramms, das für gewöhnlich als kara in der Kombination kara te interpretiert wird, ins Spiel. Und damit nähern wir uns, zumindest intellektuell, dem Verständnis jener anderen Dimension der Koshiki Kata.
In einem meiner Bücher26 habe ich ausführlich die Beziehungen zwischen der inneren Energie und den Kampfkünsten erörtert und die in früheren Zeiten angewendeten Trainingsmethoden vorgestellt, die über einen komplexen Zyklus dazu führten, die innere Energie, das Qi, in physische oder geistige Kraftwellen umzuwandeln. Ich möchte an dieser Stelle nur daran erinnern, daß diese Energieform im Körper zirkuliert, vor allem entlang der als Meridiane bezeichneten Linien. Hierbei fließt sie auch durch die sogenannten Vitalpunkte27. Die Spezialisten für Akupunktur unterscheiden 700 derartige Punkte; für die Kampfkünste spielen 108 eine Rolle, davon sind 36 potentiell tödlich. Da diese Punkte empfindlicher als andere Stellen an der Körperoberfläche des Menschen sind, kann ein auf sie ausgeübter Schlag oder heftiger Druck den Energiefluß stören, ihn stimulieren oder unterbrechen, was nicht ohne Wirkung auf die inneren Organe bleibt. Die alte chinesische Technik des Dianxue, aus der sich die japanische Atemi-Technik ableitet, besteht aus mit der Hand oder dem bloßen Fuß ausgeführten Schlägen oder Stößen auf die Vitalpunkte. Für diese Schläge oder Stöße bestehen im Dianxue bzw. Atemi Abstufungen hinsichtlich der Wirkung auf den Körper. Sie können einfachen Schmerz verursachen, Ohnmacht auslösen oder sogar den Tod zur Folge haben. Tatsächlich handelt es sich bei diesen Techniken um eine komplexe Wissenschaft, die die natürlichen tageszeitlichen wie jahreszeitlichen Schwankungen der Energieströme berücksichtigt. Und die traditionellen Kata sind ein Ergebnis dieser Wissenschaft.
Zunächst berücksichtigen die Kampfbewegungen die Veränderungen der Energieflüsse im menschlichen Körper, um eine maximale Effektivität bei der Anwendung der Techniken zu erzielen. Daraus leitet sich beispielsweise das Embusen28, d. h., das Richtungsschema einer Kata, die Ausrichtungen und die Lage des Anfangs- und des Endpunktes ab. Das gilt auch für den Rhythmus, in der die Techniken einer Kata ausgeführt werden. Dieser Rhythmus ist niemals gleichförmig. Die Verlangsamungen, Beschleunigungen oder Rhythmusbrüche in verschiedenen Abschnitten sind präzise Anweisungen, einen bestimmten Rhythmus zu übernehmen. Damit gehen wiederum Veränderungen der Atmung einher.29 Diese Veränderungen der Intensität beim Erleben der Kata sind Teil der Entschlüsselung des Sinnes, der durch die Techniken vermittelt wird. Das ist der Grund, weshalb vor allem ein Soto deshi größte Mühe darauf verwendete, die äußere Form der Kata, die ihn sein Meister gelehrt hat, genauestens zu imitieren, ohne die geringste Veränderung. Dies war die einzige Möglichkeit für ihn, eines Tages das zu entdecken, was man den „Geist der Techniken“ nennen könnte. Das bedeutete schließlich nichts anderes, als sich mit vollkommenem Vertrauen der „Gußform“ der Bewegungen anheimzugeben, durch die einst der Schöpfer der Kata bestimmte Abfolgen und Zusammenhänge kodiert hatte. Dies wiederum würde eines Tages dazu führen, daß der Praktizierende eine Art körperlichen Widerhall empfindet, eine Vibration an bestimmten Schlüsselstellen, die – durch unvermitteltes, plötzliches, neuartiges Begreifen – das „Erwachen“ bewirken soll.
Man kann dieses Phänomen verstehen, wenn man davon ausgeht, daß dabei bestimmte Zonen der Großhirnrinde aktiviert werden, die dem Menschen jene rund 80 % seines Gehirns zugänglich machen, die er während seiner „normalen“ Existenz niemals nutzt. Dieses geistige Potential ermöglicht es ihm, plötzlich auf andere Weise die Menschen und die Dinge zu begreifen. Trotz allem ist ein solches Ergebnis niemals garantiert, man muß auch „begnadet“ sein. Und es ist gänzlich unmöglich, dorthin zu gelangen, wenn man vom Code der Kata nichts weiß oder ihn durcheinanderbringt. Somit verfolgt die traditionelle Kata, wenn auch auf andere Weise, die gleichen Absichten wie eine Bewegungsfolge des Taijiquan, die im Geiste des Qigong entwickelt wurde. Manche Forscher gehen so weit, die fünf Techniken des Schlages mit der Hand mit dem klassischen „Zyklus der fünf Elemente“ der taoistischen Weltbeschreibung in Beziehung zu setzen. Das Element „Holz“ soll dabei dem Kakete (offene, zum Greifen bereite Hand; Hakenhand) entsprechen, das „Feuer“ dem Seiken (normale Faust), die „Erde“ dem Shotei (Handballen), das „Metall“ dem Shutô (Schwerthand) und das „Wasser“ dem Nukite (Speerhand). Solche Verknüpfungen beruhen allerdings auf sehr subjektiven Interpretationen, und es ist daher nicht möglich, sie zu bestätigen oder zu widerlegen.
Es liegt auf der Hand, daß der Versuch, die tiefere Bedeutung einer Kata zu erfahren, unmöglich zu vereinbaren ist mit der Ausbildung einer Masse Praktizierender. Dergleichen kann ausschließlich durch die traditionelle Übertragungskette vom Meister auf den Schüler vermittelt werden, in einer Atmosphäre der Ruhe und des Vertrauens, ohne Hast und ohne äußere Zwänge, wie z. B. Geldsorgen oder Geltungsbedürfnis.
Die klassische Kata ist eine technische Konstruktion, die auf hervorragender Kenntnis des menschlichen Körpers beruht. Diese Kenntnis kann auf zwei unterschiedliche, einander entgegengesetzte Weisen verwendet werden – womit wieder der Dualismus ins Spiel kommt. Zum einen, wie wir gesehen haben, geht es darum, die innere Energie effektiv zu mobilisieren und sie auf wirkungsvollste Weise in einem Kampf „auf Leben und Tod“ einzusetzen. Ein wesentlich weniger bekannter Aspekt der klassischen Kata sind Bewegungen, die der Wiedererlangung von innerer Energie dienen und die die Störungen, die im Verlauf eines Kampfes aufgetreten sein können, neutralisieren sollen. Während eines Kampfes ist es praktisch unvermeidbar, daß mehr oder weniger heftige Schläge und Stöße auf Vitalpunkte, die mehr oder weniger gut abgefedert werden können, empfangen werden. Das kann starke körperliche Beschwerden hervorrufen, besonders dann, wenn es wiederholt geschieht. Wenn zwei Karateka miteinander kämpfen, erfolgen beispielsweise aufgrund der Blocktechniken selbst dann, wenn die Schläge gegen den Körper abgewehrt werden, systematisch Schläge und Stöße gegen Unterarme und Schienbeine. Die Folgen sind nicht immer sofort nachweisbar, zumal vor allem junge, vitale Kämpfer für gewöhnlich Schmerzen nicht allzu große Aufmerksamkeit schenken, obgleich Schmerzen stets ein Warnsignal sind, das uns der Körper gibt. Manchmal, vor allem, wenn es sich um wiederholte Einwirkungen handelt, können jedoch chronische Körperbeschwerden ungeahnten Ausmaßes die Folge sein, wie z. B. Schlafstörungen, Atem- oder Kreislaufbeschwerden, Gewebezerstörung oder innere Verletzungen.
Die Störungen können auch psychischer Natur sein. Ein Mensch mit schwacher Persönlichkeit kann durch die immer wieder erfolgende Konfrontation mit der Gewalt in den Techniken, die für den Kampf erforderlich sind, verwirrt werden. Das kann gefährliches Verhalten, selbst im Alltagsleben, zur Folge haben. Sein Körper und sein Geist sind aus dem Gleichgewicht, und so wird er nie Ruhe finden. Die klassische Kata stellt hierfür tatsächlich eine Therapie dar. Oft sind in ihr entsprechende verschlüsselte Bewegungen oder Körperpositionen enthalten. Dies kann auf so subtile Weise der Fall sein, daß man es gar nicht bemerkt. Es handelt sich gewissermaßen um Andeutungen von Bewegungen, deren Zweckbestimmung man nicht erfassen kann, ohne das technische Wissen, über das man verfügt, in Frage zu stellen. Sie existieren deshalb, weil ihnen die Fähigkeit zugesprochen wurde, diesem oder jenem Energiezentrum Energie zuzuführen oder Energie von ihm abzuleiten. Ersteres kann vonnöten sein, wenn ein Energiezentrum entleert ist, letzteres, wenn es mit schädlicher Energie gefüllt ist. Diese Wirkung soll sich genau dann entfalten, wenn die Aufeinanderfolge der Techniken genau so ausgeführt wird, wie dies vorgesehen ist. Besonders interessant wird